Читать книгу Das Super Krimi Paket Dezember 2021: 12 Romane in einem Buch - 1800 Seiten Thriller Spannung - Alfred Bekker - Страница 57
Оглавление15. Kapitel
Als nächstes fuhr Lorant zur Praxis von Dr. Purwin in Moordorf.
Als Lorant der Sprechstundenhilfe in knappen Worten sein Problem schilderte, war die junge Frau noch sehr freundlich, auch wenn ihr sanftes Dauerlächeln etwas von der Verkrampftheit eines Stewardessen-Gesichts hatte. Noch ist sie jung, dachte Lorant. Noch kriegt sie keine Falten davon.
Aber in zwanzig Jahren würden sich die entsprechenden Lachfalten als harte Furchen in ihr Gesicht hineingemeißelt haben.
Zu Lorants Überraschung bekam das Gesicht der schönen Lächlerin schon viel früher eine Falte, und zwar mitten auf der Stirn. Sie erschien exakt in dem Moment, in dem Lorant ihr seine Chip-Karte der Barmer Ersatzkasse auf den Tresen legte.
"Eigentlich behandeln wir hier vorwiegend Privat-Patienten", sagte sie.
"Schön, dass Sie mich trotzdem dazwischen nehmen", erwiderte Lorant.
Ihr Blick, mit dem sie die Karte betrachtete, schien zu sagen: Wenigstens nicht AOK!
"Wenn Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen würden."
"Sicher."
Lorant wusste, was Arzthelferinnen unter 'einem Moment' verstanden. Der Vormittag war gelaufen.
Zu Lorants großer Überraschung dauerte seine Wartezeit tatsächlich nur einen Moment. Der Arzt war ein hagerer, etwas jungenhaft wirkender Mann von schwer zu schätzendem Alter.
Jemand von der Sorte, die nach spät einsetzender und lang andauernder Pubertätsphase sogleich ins Seniorenalter übertritt.
Die Phase dazwischen wird einfach ausgelassen. Typ Günter Jauch, dachte Lorant.
"Ja, dann wollen wir mal sehen", sagte Dr. Purwin, nachdem Lorant ihm seine Beschwerden geschildert hatte. Purwin rollte dabei mit seinem Bürostuhl herum, was Lorant irgendwie nervös machte. Mit ein paar sicher und gekonnt wirkenden Handgriffen hatte er Lorants Eigendiagnose bestätigt: Ischias. "Kommen Sie regelmäßig zur Reizstrombehandlung, bis es weg ist. Außerdem gebe ich Ihnen eine Spritze."
"Gut."
Nachdem Lorant seine Spritze bekommen hatte, drückte Purwin ihm noch immerhin so kräftig gegen den Oberkörper, dass der Detektiv aufschrie.
"Bauchprellung würde ich sagen. Haben Sie eine Schlägerei hinter sich?"
"Ich bin ein friedlicher Mensch."
"Ich habe ja auch nicht gesagt, dass SIE geschlagen haben, Herr..."
"Lorant."
"Ja, genau."
"Ich war nur etwas ungeschickt", meinte Lorant. Und irgendwie war das ja auch noch nicht einmal eine richtige Lüge.
"Naja, wie auch immer... Zur Reizstrombestrahlung können Sie kommen, wann Sie wollen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, gibt es bei uns auf Grund guter Organisation kaum Wartezeiten..."
"Ja, das ist beachtlich."
"Auf Wiedersehen, Herr Lorant."
Schon diese Abschiedsformel entlarvte Purwin als Zugezogenen. Und zwar als einen, der noch nicht allzu lange hier in dem zwischen Emden und Aurich gelegenen Moordorf praktizieren konnte. Maximal fünf Jahre, schätzte Lorant. Es war für eine Art Sport, so etwas zu schätzen. Allerdings wusste er nur zu gut, dass man sich da sehr täuschen konnte, insbesondere was die Geschwindigkeit anging, mit der eine sprachliche Anpassung vor sich ging. Henry Kissinger sprach beispielsweise auch nach mehr als einem halben Jahrhundert in den USA immer noch ein Englisch mit deutschem Akzent.
"Vielleicht hätten Sie noch einen Moment Zeit für mich", forderte Lorant. "Ich bin Privatdetektiv und ermittle im Mordfall Gretus Sluiter. Durch die Empfehlung von Herrn Sluiter junior bin ich übrigens auf Ihre Praxis gekommen..."
"Ah ja..." Purwins Gesicht wurde dunkelrot. Er holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an.
"War Gretus Sluiter eigentlich auch bei Ihnen in Behandlung - so wie sein Sohn Ubbo?"
"Jetzt hören Sie mir mal gut zu!", begann Dr. Purwin, wobei er seinen Zeigefinger wie ein Messer durch die Luft wirbelte. "In dieser Praxis werden vorwiegend chronische Krankheiten behandelt. Die Menschen kommen zum Teil aus der Schweiz, aus Wien und was weiß ich woher, um sich hier kurieren zu lassen!" Die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand berührten sich jetzt, so dass sich eine Art Kreis bildete. Eine Präzisions-Geste, so hätte ein auf die Analyse von Körpersprache spezialisierter Psychologe wohl gedeutet. Ein Timbre von geradezu missionarischer Inbrunst schwang jetzt in seinem Tonfall mit. "Wir gehen hier nämlich den Ursachen dieser Erkrankungen an die Wurzel und begnügen uns nicht lediglich mit der Behandlung von Symptomen..." Er atmete tief durch. "Zwischendurch nehme ich natürlich auch gerne mal jemanden wie Sie dazwischen..."
Damit meint er einen Kassenpatienten, dachte Lorant. Wie nett. Aber er hütete sich davor, das laut zu sagen. Im Übrigen hätte er auch kaum eine reelle Chance gehabt, den sprudelnden Wortschwall des Arztes zu unterbrechen.
"...aber jetzt überspannen Sie wirklich den Bogen. Da draußen sitzen Menschen, die tausend Kilometer weit gereist sind, um sich hier behandeln zu lassen und Sie..."
"Ich dachte immer, es interessiert einen Arzt, woran seine Patienten gestorben sind", unterbrach Lorant sein Gegenüber schließlich. Und in Gedanken fügte er noch hinzu: Da Gretus Sluiter vermutlich Privatpatient war, müsste dich diese Frage doch besonders interessieren, großer Meister-Doktor!
Dr. Purwin vollführte einige eigenartig aussehende Bewegungen mit dem Mund, die an einen Fisch auf dem Trockenen erinnerten. Anscheinend fehlten ihm im Moment einfach die Worte. Er war aus dem Konzept gebracht worden.
"Ich nehme an, Gretus Sluiter WAR ihr Patient", sagte Lorant.
Dr. Purwin lehnte sich in seinem Stuhl zurück, faltete die Hände und ließ nervös die Daumen umeinander kreisen.
"Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht", erklärte er.
"Und damit dürfte das Thema erledigt sein."
"Ich stelle auch keine Fragen nach irgendwelchen ärztlichen Befunden."
"Ich würde sie auch nicht beantworten."
"Aber vielleicht wissen Sie jemanden, der Sluiter so hasste, dass er ihn auf eine gewisse demonstrative Weise zur Strecke brachte."
"Ist das denn geschehen? Nachdem, was ich gehört habe..."
"Ich interpretiere die Spuren am Tatort etwas anders als die Kripo."
"Was Sie nicht sagen!"
"Also -—kennen Sie so jemanden?"
Dr. Purwin schien einige Augenblicke lang zu überlegen. Als er dann zu sprechen begann, klang seine Stimme ruhiger und sachlicher als zuvor.
"Sluiter war ein grundsolider Geschäftsmann, aber er hatte mitunter ein cholerisches Temperament. Allerdings wüsste ich nicht, dass er mal jemandem derart auf die Füße getreten wäre...
Naja..."
"Erzählen Sie's ruhig, auch wenn Sie glauben, dass es unwichtig ist!"
"Da war vor ein paar Jahren mal was. Es gab hier ein Riesentheater um einen Nachtclub mitten auf der flachen Wiese."
"Heißt der zufällig X-Ray?"
"Ja, woher wissen Sie das?"
"Was war damit?"
"Herr Sluiter hatte immer sehr feste Ansichten. Konservative Ansichten. Und er war damals der Meinung, dass das X-Ray nichts anders als ein Bordell wäre. Er hat versucht, mit Hilfe seiner kommunalpolitischen Freunde dem Investor Steine in den Weg zu werfen. Damals hat Herr Sluiter in der Presse erklärt, dass man ihm mit Mord gedroht habe!"
"Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?"
"Nein."
"Der Nachtclub existiert ja wohl."
"Allerdings mit Auflagen, soweit ich weiß."
"Aber der Besitzer kann doch eigentlich gar keinen Grund mehr haben, sauer auf Sluiter zu sein."
"Tut mir leid, aber ich kann und will Ihnen jetzt nicht mehr weiterhelfen. Lassen Sie mir Ihre Karte da, sofern Sie eine haben. Vielleicht... Wenn mir was einfällt, rufe ich Sie an."
"Gut."
Lorant langte in die Innentasche seines Jacketts, holte eine seiner Visitenkarten heraus. "Bitte nur die Handynummer anrufen. Schließlich bin ich ja nicht zu Hause."
"Schon klar."
"Sie kommen nicht von hier?"
Dr. Purwin lächelte mild. "Nein, ich stamme aus Osnabrück."
"Sind Sie hier schon heimisch genug, um zu boßeln?"
"Ich war sogar mal Mitglied in einem Boßel-Verein, den 'Söipkedeelern'."
"Das ist derselbe Verein, in dem auch Gretus Sluiter aktiv war."
"Ja, da haben wir uns kennen gelernt."
Purwins Gesicht bekam plötzlich einen düsteren, etwas melancholisch wirkenden Zug. Sein Blick war für einige Augenblicke lang nach innen gerichtet und wirkte abwesend.
"Seit wann sind Sie nicht mehr bei den Söipkedeelern?"
"Seit vier Jahren."
"Hatte das einen bestimmten Grund? Sie sehen gesund genug aus, um kräftig mittrinken zu können, ohne gleich ein Fall für die eigene Praxis zu werden."
Purwins Lächeln wirkte matt. Er erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie für Lorant. Eine Art Rauswurf erster Klasse, erkannte Lorant.
Er ging zur Tür, blieb vor dem Arzt stehen und blickte Purwin direkt in die Augen.
"Nun?"
"Es gab einen Unfall." Purwin sprach mit sehr leiser Stimme.
Es war beinahe nur ein Wispern. "Wissen Sie, Boßeln wirkt wie ein sehr harmloser Sport, aber es kann alles Mögliche passieren, wenn Verkehrsteilnehmer nicht aufpassen. Ich wollte es danach einfach nicht mehr. Außerdem konnte ich diesen Schnaps, den die hier trinken, nicht ausstehen."
"Leuchtet mir ein."
Lorant ging an ihm vorbei, hörte irgendwo den bekannten Ruf: "Der Nächste, bitte!" Eine Arzthelferin brachte ihn zum Reizstromgerät. Na großartig, dachte er. Dann habe ich ein bisschen Zeit zum Nachdenken.