Читать книгу Genesis I - Alfred Broi - Страница 17
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ОглавлениеAls Marivar aus dem Operationssaal in den Vorraum trat, war ihr die Anspannung der letzten acht Stunden deutlich anzusehen.
Sie schlurfte antriebslos voran, ihr Körper wirkte eingefallen und ihre Schultern hingen herab.
Sie hob ihre Arme an, zog sich die OP-Maske aus dem Gesicht und musste dabei leicht stöhnen. Ihr Gesicht war von getrocknetem Schweiß aufgedunsen und ihre ohnehin schon von Geburt an rötliche Haut schimmerte an einigen Stellen sehr dunkel. Neuer Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und Marivar wischte mit dem linken Handrücken darüber, bevor sie ihre OP-Handschuhe mit einem kräftigen Ruck von den Händen riss und achtlos in den Mülleimer neben einigen Waschbecken warf.
Dabei konnte sie durch die große Scheibe zurück in den Operationssaal blicken und sehen, wie die OP-Schwester langsam ein großes Tuch über den Kopf der Patientin zog.
Während eine weitere Schwester alle Geräte und Monitore rund um den Operationstisch ausschaltete, löste Marivar die Schleifen von Maske und Haarnetz und warf auch sie achtlos in den Mülleimer.
Bevor sie sich mit niedergeschlagenen Augen abwandte, konnte sie noch sehen, wie der Wagen mit dem Operationsbesteck beiseitegeschoben wurde und den Blick vollständig auf den verdeckten Körper auf dem Tisch freigab. Deutlich färbte sich der blaue Stoff über dem gesamten Oberkörper bereits dunkelrot.
Marivar ging ein paar Schritte weiter und stellte sich vor ein Waschbecken über dem ein großer Spiegel hing. Als sie sich selbst darin erblickte, blieb sie reglos stehen.
Himmel, sie sah absolut furchtbar aus. Das Gesicht aufgedunsen und fleckig, ihre Lippen spröde und trocken. Überall spürte sie den getrockneten Schweiß, der auch die Haare rund um ihre Stirn zu klebrigen Fäden verklumpt hatte.
Doch das Schlimmste von allen waren ihre Augen. Marivar wusste, sie hatte schöne Augen. Tiefes Grün, das funkelte wie ein Kristall. Doch was sie da im Spiegel sah, war ein Schatten ihrer selbst. Tief in ihren Höhlen versunken, blickten sie freudlos und leer. Sie waren glasig, versprühten aber keinen Glanz. Ein erbärmlicher, trauriger, trostloser Anblick.
Und sie waren das genaue Abbild ihres Inneren.
Als die junge Frau vor ein paar Stunden in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert wurde, hatte kaum jemand Hoffnung gehabt, dass sie ihre schweren, inneren Verletzungen würde überleben können. Doch die Ärzte schafften es tatsächlich, ihren Zustand zu stabilisieren und zum Not-OP in ihren Operationssaal zu bringen.
Marivar war zwar erst einunddreißig Zyklen alt, galt aber bereits als beste Ärztin des gesamten Krankenhauskomplexes und darüber hinaus auch an der gesamten südlichen Ostküste. Wenn es jemand fertig brachte, dieses Leben zu retten, dann sie.
Marivar selbst hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ausschließlich die medizinischen Daten und Fakten ihrer Patienten auf dem Operationstisch an sich heran zulassen. Die Vorgeschichte, gerade bei Unfallopfern, wollte sie nicht hören, um nicht Gefahr zu laufen, eine emotionale Bindung zu der Person aufzubauen.
Diesmal aber scheiterte dieser Versuch kläglich.
Sie war gerade damit fertig, den Zustandsbericht der Ärztin aus der Notaufnahme abschließend aufzunehmen, als diese sich offensichtlich nicht bremsen konnte.
„Armes Ding!“ sagte sie zu Marivar. „Sie war hochschwanger und spürte erste Wehen. Sie rief ein Taxi und gerade als sie einsteigen wollte, wurde der Hovercraft von einem anderen Fahrzeug gerammt, bei dem der Autopilot eine Fehlfunktion hatte. Sie wurde vierzig Meter durch die Luft gegen eine Betonmauer geschleudert. Ihr Baby ist förmlich daran zerplatzt und war sofort tot! Ich denke, wenn sie noch eine Wahl hätte...!“Die Ärztin schaute Marivar ausdruckslos an. „...würde sie wohl lieber auch sterben!“
Geschockt schaute ihr Marivar nach, wie sie den Raum verließ. Dies waren genau die Momente, die sie mehr als alles andere hasste und der Grund für ihre bei vielen Kollegen so beeindruckt geschätzte Gefühlskälte bei ihren Operationen.
Marivar interessierte sich nicht für die Umstände, durch die ihre Patienten auf ihren OP-Tisch gelangten, sie wollte nur die harten Fakten. Doch das tat sie nicht, weil es ihr egal war, sie tat es, weil sie es musste. Weil sie andernfalls Emotionen aufbaute und an dem Leid und dem Schmerz ihrer Patienten zu großen Anteil nahm und letztlich daran zerbrechen würde.
Doch das wollte sie nicht, das durfte sie nicht. Sie war nicht selten die letzte Barriere vor dem Übergang in das Reich des Todes. Und sie musste all ihr Können aufbringen, um zu versuchen, diesen Übergang zu verhindern. Doch dazu musste sie auch in der Lage sein, all ihr Können abzurufen. Mit einer emotionalen Bindung, das hatte sie anfangs immer wieder erlebt, war ihr das nur sehr schwer möglich. Deshalb schob sie dem einen Riegel vor und ließ nichts mehr davon an sich heran. Und so gelang es ihr viel besser, ihre Arbeit zu erledigen, konnte so viel mehr Leben retten, als irgendjemand sonst hier.
Sie hatte als Ärztin geschworen, das Leben zu achten und zu bewahren – und das tat sie auch verdammt gut.
Das ihr eigenes Leben, die Lebensfreude und die Leidenschaft, von denen sie doch so viel in sich gehabt hatte, dafür Tag für Tag zum Teufel gingen, konnte sie dabei jedoch nicht verhindern.
Acht lange, quälende Stunden versuchte Marivar schließlich alles, um die junge Frau noch zu retten, doch am Ende, als sie schon glaubte, sie zurück ins Leben gebracht zu haben, sackte ihr Kreislauf auf unerklärliche Weise innerhalb weniger Sekunden komplett ab und all ihr Können war vergebens.
Doch niemand im Saal machte ihr einen Vorwurf – außer sie sich selbst.
Denn obwohl sie wusste, dass ein erfolgreicher Abschluss dieser Operation ein glattes Wunder gewesen wäre, war sie nicht mehr sicher, ob die Worte der Ärztin aus der Notaufnahme im Vorfeld, die unweigerlich zu einer emotionalen Bindung von Marivar zu dieser jungen Frau geführt hatten, ihr Können nicht negativ beeinflusst hatten.
Und genau das war es, was ihr jetzt zu schaffen machte und ihr einen bitteren Nachgeschmack hinterließ, den sie so abgrundtief hasste.
Marivar öffnete den Wasserhahn, hielt ihre Hände darunter und schüttete sich das kühle Nass dann ins Gesicht. Das ganze tat sie mehrmals hintereinander, bis sie spürte, dass die Abkühlung auch die Haut durchdrungen hatte.
Dann nahm sie ein Handtuch von der Wand und drückte es zunächst nur auf ihr Gesicht, um es dann ganz langsam herabsinken zu lassen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Operationssaal erneut und der Assistenzarzt trat neben sie. Er war gut einen Kopf größer als sie und bereits 40 Zyklen alt. Im Gegensatz zu ihr schienen ihm die acht Stunden OP jedoch nichts ausgemacht zu haben. Seine Augen blickten noch immer klar und frisch.
Mit zwei gekonnten Griffen hatte er sich der Maske und des Haarnetzes entledigt und sie in den Mülleimer geworfen. Als er sich die Handschuhe abstreifte, verharrte er in seiner Bewegung und schaute Marivar durch den Spiegel hindurch an. „Alles in Ordnung?“ fragte er.
Marivar nickte und ließ das Handtuch endgültig sinken. „Ich bereite mich nur gerade innerlich darauf vor, ihrem Mann die tolle Neuigkeit zu überbringen, dass nach dem Tod seines ungeborenen Kindes jetzt auch seine Frau gestorben ist...!“
„Man hatte ihn zu Beginn der Operation darüber informiert, dass es eigentlich keine Hoffnung mehr gibt!“
Marivar warf das Handtuch in einen weiteren Mülleimer und schaute ihren Gesprächspartner direkt in die Augen. „Glauben sie mir. Das zählt in diesem Moment nicht mehr!“
Jetzt nickte der Assistenzarzt. „Soll ich es für sie übernehmen?“
Marivar sah ihn noch einen Moment an, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein!“ sagte sie erschöpft. „Das ist meine Aufgabe. Erst danach ist es für mich wirklich beendet!“
Marivar atmete einmal tief durch, dann öffnete sie die Tür zum Flur und trat hindurch.
Quasi im selben Moment erhob sich von der Sitzreihe schräg gegenüber einzelner, kleiner Mann mit schwarzem Lockenkopf. Er schaute verlegen zu Marivar, senkte dann aber seinen Blick wieder und blieb unschlüssig stehen. In seinen Händen spielte er nervös mit einem großen Taschentuch.
Marivar war zunächst etwas überrascht, sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Ehemann allein hier warten würde, sondern die komplette Familie der Patientin...Toten.
Der Mann schaute noch einmal auf, dann schien er Mut zu fassen und kam mit gesenktem Kopf auf Marivar zu. Ihr Herz beschleunigte fast augenblicklich und es bildete sich ein Kloß in ihrem Hals.
„Dr. Marivar?“ Die Stimme des Mannes klang brüchig und Marivar konnte sofort bei einem Blick in sein Gesicht erkennen, dass es von unzähligen Tränenschauern aufgedunsen und fleckig war. Für einen kurzen Moment hob der Mann wieder den Kopf und Marivar sah in erschütterte, blicklose Augen, in denen weitere Tränen standen.
Sie reichte dem Mann die Hand. „Ja, die bin ich...!“ Auch ihr fiel es schwer, ihre Stimme zu finden. „Sind sie Uvok, Asishas Mann?“
Uvok schaute wieder nur einmal kurz auf, dann nickte er mit gesenktem Kopf.
Für einen Moment herrschte eine unerträgliche Stille zwischen ihnen.
„Haben..?“ Uvok räusperte sich. „Haben sie Asisha...retten können?“ Erneut hob er seinen Kopf an, aber nur soweit, dass er Marivar anschauen konnte.
„Nein!“ Marivar schüttelte traurig den Kopf. „Es tut mir leid Uvok…! Ich konnte sie nicht retten!“ Marivars Kloß im Hals wurde immer größer.
Uvok begann wieder zu nicken und senkte seinen Blick.
„Wir haben alles getan,...was in unserer Macht stand...!“ sagte Marivar weiter. „...aber ihre...Verletzungen...waren einfach zu stark!“ Sie hob ihren rechten Arm und legte ihn seitlich an Uvoks linken Arm.
Uvok nickte immer noch, dann hob er urplötzlich seinen Kopf völlig in die Höhe und schaute Marivar mit tränenfeuchten Augen direkt ins Gesicht. „Hat sie… leiden müssen?“
„Nein!“ Marivar schüttelte erneut den Kopf. „Sie hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Sie musste...nicht leiden!“
„Und...das Baby ?“
Marivar atmete einmal tief durch und schloss ihre Augen. „Es war...sofort tot!“
Als sie ihre Augen wieder öffnete, schaute ihr Uvok noch einen Moment ins Gesicht, dann senkte er wieder seinen Blick und ergriff stattdessen mit seiner rechten Hand Marivars rechte Hand. „Danke Doktor! Danke, dass sie versucht haben, Asisha zu helfen!“
„Es gibt Grenzen, die wir trotz all unserer Technik noch immer nicht zu überschreiten vermögen...!“
„Danke, dass sie bei ihr waren, als sie...!“ Uvok verstummte, doch Marivar wusste, was er sagen wollte. „Ich stehe tief ihn ihrer Schuld!“
Marivar musste wieder durchatmen. „Gibt es irgendetwas, das ich für sie tun kann?“
Uvok schüttelte den Kopf. „Sie haben schon genug getan!“
„Haben sie jemanden, der sich um sie kümmert?“
Uvok schaute sie kurz blicklos an. „Nein!“
„Ich werde ihnen jemanden schicken, der sie psychologisch betreut!“ Marivar versuchte kurz zu lächeln, wurde aber sofort wieder ernst. „Würden sie hier warten...bitte?“
Uvok nickte wieder. „Ich werde mir einen Kaffee holen!“ Er deutete auf den Kaffeeautomat den Gang hinunter.
Marivar nickte ihm zu. „Es wird nicht lange dauern!“
Uvok drückte kurz ihre Hand, dann löste er den Griff, drehte sich um und ging langsam und ohne Antrieb den Gang hinunter.
Marivar schaute ihm nach. In ihrem Inneren war sie völlig ausgepumpt, so unendlich schwer war es ihr gefallen, nicht zu weinen. Uvok hatte seine Frau und das ungeborene Kind geliebt, das hatte sie in jeder Sekunde gespürt. Die vernichtende Nachricht über ihren Tod hatte alles in ihm zerstört. Sie bezweifelte, dass dieser Mann jemals wieder so etwas wie Glück würde empfinden können.
„Marivar?“
Marivar drehte sich um und sah den Assistenzarzt mit einem Klemmbrett neben sich stehen. „Ja?“
„Sie müssen noch den Totenschein unterzeichnen!“
Marivar nickte, holte einen Stift aus ihrem Kittel und unterschrieb an der vorgesehenen Stelle.
„Wie hat er es aufgenommen?“ fragte der Assistenzarzt und schaute hinter Uvok her, der aus seiner Hosentasche offensichtlich ein Geldstück hervorholte und in den Kaffeeautomaten dort steckte.
„Ich weiß nicht...?“ Marivar schaute ebenfalls in seine Richtung. Uvok drückte einen Knopf am Automaten. Dabei drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und schaute sie kurz mit dem traurigsten Blick an, den sie je gesehen hatte. „Ich denke, er sollte psychologische Hilfe bekommen!“ Marivar drehte sich zurück zu dem Assistenzarzt, der seinen Blick ebenfalls von Uvok löste, um Marivar anzuschauen. „Scheinbar hat er niemanden. Würden sie Doktor Kalitas ausrufen lassen und ihm sagen, ich könnte hier seine Hilfe gebrauchen?“
Der Assistenzarzt nickte. „Natürlich. Kein Problem!“
„Danke!“ Marivar lächelte ihm freudlos zu.
„Wie geht es ihnen?“ fragte der Assistenzarzt und Marivar erzählte ihm von ihrem kurzen Gespräch mit Uvok.
Als er das Geldstück in den Automaten warf, schaute er kurz zurück zu der Ärztin, die versucht hatte, Asisha doch noch das Leben zu retten. Alle hatten ihm gesagt, dass sie die Beste sei und Uvok hatte keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie alles nur menschenmögliche getan hatte. Als man ihm die schreckliche Nachricht über den verheerenden Unfall überbracht hatte, war er sofort ins Krankenhaus geeilt. Dort hatte man ihm den Tod seines ungeborenen Kindes mitgeteilt und ihm gesagt, dass es auch für Asisha so gut wie keine Hoffnung gab.
Und tief in seinem Inneren hatte Uvok bereits zu diesem Zeitpunkt gespürt, dass seine Frau ebenfalls heute sterben würde.
Und deshalb hatte er das Krankenhaus für zwei Stunden verlassen, um etwas sehr, sehr Wichtiges zu erledigen. Dann war er zurückgekehrt und hatte weiterhin in diesem Flur gewartet.
Uvok drückte achtlos auf einen Knopf, dann stand er für einen Moment reglos da, bevor er sich umdrehte und wie in Trance weiter den Gang hinunter ging.
Am Ende befanden sich ein kleiner Tisch und ein paar Sitzmöbel. Uvok umrundete das alles und stellte sich direkt vor das große Fenster, das bis zum Boden reichte und einen schönen Ausblick auf den herrlich angelegten, farbenprächtigen Krankenhauspark hinter einem kleinen Parkplatz bot.
Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel und verlieh dem zur Neige gehenden Tag einen wundervollen Glanz.
Doch für Uvok bedeutete all das überhaupt nichts mehr, sein Blick blieb leer.
Langsam griff er mit seiner rechten Hand in seinen Rücken und holte eine große Pistole hervor, die er zwischen Gürtel und Körper aufbewahrt hatte.
Für einen Moment schaute er sie ausdruckslos an und wiegte sie vorsichtig in den Händen. Er hatte noch nie eine richtige Waffe in den Händen gehalten. Sie kam ihm unendlich schwer und fremd vor. Doch Uvok wusste, wie sie zu benutzen war. Vorsichtig entsicherte er das Magazin. Ein metallisches Klicken zeigte an, dass die Waffe scharf war.
Noch einmal schaute er hinaus aus dem Fenster, dann drehte er sich zurück in den Flur.
„Ich komme Asisha!“ sagte er leise, dann führte er die Waffe in seinen Mund.
Marivar schaute wie beiläufig noch einmal den Gang entlang und erkannte, dass Uvok sich vom Automaten in Richtung Gangende entfernt hatte und aus dem Fenster dort schaute.
Eine Bewegung in seinem Rücken unter seiner Jacke aber ließ sie plötzlich aufmerken und ihren Blick auf ihm verharren.
Innerhalb eines Wimpernschlages jagte ihr eine furchtbare Vorahnung in die Glieder.
Sie hob die Hand und deutete dem Assistenzarzt an, einen Moment in seinen Worten inne zu halten, während ihr Körper sich fast wie automatisch in Uvoks Richtung bewegte.
Sie hatte kaum zwei Schritte getan, da drehte sich Uvok in den Gang zurück und schob sich eine riesige Handfeuerwaffe tief in den Mund.
Uvok sah, wie die Ärztin auf ihn zugestürmt kam, doch würde sie ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen.
Er gab ihr keine Schuld am Tod seines Kindes oder am Tod von Asisha. Und auch seinen Tod hatte sie nicht zu verantworten.
Dann drückte er ab.
„Nneeiinn!“ schrie sie langgezogen und hechtete den Gang hinab.
Einen Atemzug später donnerte ein gewaltiger Knall durch den Flur, als Uvok den Abzugshebel durchzog.
Die Fensterscheibe hinter ihm füllte sich augenblicklich derart wuchtig mit seinem Blut und seiner Gehirnmasse, als hätte jemand einen Eimer dickflüssige Farbe mit aller Kraft dagegen geschleudert.
Fast gleichzeitig riss die Wucht des Geschosses Uvok von den Füßen und katapultierte ihn aus dem Stand mit dem Rücken voran durch die Fensterscheibe.
Ein irrsinniges Klirren hallte durch das Krankenhaus und zog sofort die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich.
Marivar raste am Kaffeeautomaten vorbei und erreichte den Tisch, schob ihn rüde beiseite und bremste ab.
Fassungslos schaute sie durch die zerborstene Scheibe, aus der noch immer Glas zu Boden fiel, vier Stockwerke tiefer auf den Parkplatz, wo Uvoks Leiche mit großer Wucht auf das Dach eines Hovercrafts geschlagen war und es bis auf die Sitzflächen eingedrückt hatte. Sein Körper war unnatürlich verdreht und sein Gesicht nicht mehr, als eine breiige Masse.
Marivar starrte auf ihn herab und konnte kaum atmen, alles in ihr war völlig taub.
Doch nur für ein paar Sekunden, dann drehte sie sich um und mit einem Mal versprühte sie eine unbändige Wut in sich.
Ein Geräusch zog ihren Blick in Richtung Kaffeeautomat, wo ein kurzes Ping anzeigte, dass der gewünschte Kaffeebecher vollständig gefüllt war.
Marivar starrte auf den Becher, dann zuckte ihr Blick zur Seite, sie sah einen Stuhl in der Ecke und riss ihn vom Boden.
„Warum?“ schrie sie aus Leibeskräften und wirbelte den Stuhl mit all ihrer Kraft, die sie aus ihrem ausgepumpten Körper noch aufbringen konnte, in den Kaffeeautomaten.
Wieder wurde der Gang erfüllt von klirrendem Glas.
Die Wucht des Aufpralls riss Marivar den Stuhl aus der Hand und er polterte wild durch den Gang, dabei schrie sie nochmals auf.
Dann verharrte sie für einen Moment in ihrer Bewegung, bevor sie auf die Knie sackte und zu weinen begann. „Warum?“ stieß sie wieder hervor, ließ sich zur Seite fallen, lehnte sich gegen die Wand, zog ihre Beine an den Körper, verschränkte die Arme darauf und verbarg so ihren Kopf, während sie hemmungslos weinte.
Warum hatte Uvok das getan? Warum nur? Die Antwort aber wusste sie bereits. Weil er seine Frau und sein Baby liebte und nur mit ihnen ein Leben als solches doch überhaupt sinnvoll war.
Aber warum hatte Gott das zugelassen? Reichten ihm die beiden Todesopfer nicht? Musste er die ganze kleine Familie auslöschen?
Oder hatte Gott am Ende gar nichts ausgelöscht, sondern nur an anderer Stelle wieder vereint? Musste er deshalb auch Uvok zu sich holen, damit das überhaupt einen Sinn machte?
Marivar wusste es nicht. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, sie wusste nicht, was sie glauben sollte.
Was konnte schlimmer sein, als diese furchtbare Tragödie?
Marivar erwartete keine Antwort auf diese Frage.
Dennoch sollte sie eine erhalten – jedoch erst Monate später – dafür aber auf eine Art und Weise, die sie niemals wieder vergessen sollte.