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- KAPITEL 8 -

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Dr. Jörg Sörenson litt seit der Kindheit an einer labilen Persönlichkeitsstruktur und war Stresssituationen nicht gewachsen. Den Erfolg während des Medizinstudiums und auch während der Facharztausbildung verdankte er seinem hervorragend funktionierenden Kurz-, aber auch Langzeitgedächtnis.

Er konnte sich Sachen, die er nur kurz überflog, sofort und nachhaltig merken, als hätte er wie ein Schauspieler seinen Text nach einem stundenlangen Studium auswendig gelernt. Oft genügte nur ein Blick auf einen Text, um ihn zu verinnerlichen. Somit wurde er in keiner einzigen Prüfung, zumindest was sein Fachwissen betraf, mit irgendwelchen Schwierigkeiten konfrontiert.

Dafür kam er aber aufgrund der Prüfungsangst und des unsicheren Auftretens in den mündlichen Prüfungen richtig ins Schwitzen, obwohl er nichts zu befürchten hätte. Denn er war imstande, jede ihm gestellte Frage mit einem lehrbuchgetreuen Zitat Wort wörtlich zu beantworten.

Er besaß nicht einmal den Mut, dem Prüfer ins Auge zu schauen und ihm das Gefühl zu geben, dass er in seinem Kopf das Wissen einer Bibliothek trug.

Und dieses unsichere Auftreten verursachte bei den Prüfern wiederum eine Unsicherheit, sodass sie seinen Wissensstand nicht richtig einschätzen konnten.

War es ein Zufall, dass er die ihm gestellten Fragen beantworten konnte? Oder wusste er wirklich viel? War er ein Genie? Vielleicht sogar ein Autist?

Aufgrund seiner wörtlichen Wiedergabe von Buchinhalten, kamen sogar manche Prüfer, auch wenn die Wahrscheinlichkeit minimal war, auf die obskursten Gedanken und bezichtigten ihn mit Tragen einer Wanze, über die ein Komplize von ihm die Fragen mithörte und anschließend ihm die Antworten ins Ohr zuflüsterte.

Jörg Sörenson leierte meistens sein Wissen herunter wie einer, der sich gerade in einem Trancezustand befand und sich von irgendwelchen Stimmen führen ließ. Gerade dieses Erscheinungsbild löste bei manchen Prüfern die Vermutung einer im Ohr versteckten Wanze.

Sobald er den Text zu Ende sprach, zeigte er eine ausgeprägte Erleichterung und fühlte sich mehr als glücklich.

Er hatte einen eigenartigen Stil, eine Frage zu beantworten oder einen Text zu rezitieren. Er ignorierte, ob Komma, Punkt oder Fragezeichen, jegliche Zeichen der Grammatik, sodass seine Sprache ziemlich monoton klang.

Stockte er beim Reden bzw. verlor er bei einer Rezitation den Faden, geriet sein Körper in einen eigenartigen Anfall; Zittern am ganzen Körper, rhythmisches Blinzeln, Nicken mit dem Kopf und leisem Husten.

Er wiederholte den letzten Satz immer wieder, bis er mit seiner Rezitation wieder in Gang kam.

Da er handwerklich zwei linke Hände hatte und in seinem ganzen Leben nicht einmal eine einfache Kiste gebaut hatte, entschied er sich entgegen den Erwartungen seiner Eltern, die in ihm den künftigen Dr. Sauerbruch sahen, für die Facharztausbildung in der Inneren Medizin.

Denn in der Inneren Medizin wurde nur sein Gehirn beansprucht, aber nicht die Hände.

Dr. Jörg Sörenson arbeitete seit etwa dreizehn Jahren als niedergelassener Internist in eigener Praxis in Münchner Stadtmitte.

In den ersten Monaten seiner Praxiskarriere unterzog er sich regelmäßig einer Psychotherapie, durch die er immerhin etwas Mut und Selbstsicherheit erlangte, auch bei Stresssituationen seinem Gegenüber in die Augen zu blicken.

Die Psychotherapie begeisterte ihn derart, dass er neben seiner Praxistätigkeit die entsprechenden Kurse besuchte. So erlangte er nach drei Jahren die Zusatzbezeichnung Psychotherapie.

Jörg war Ende vierzig. Er bereute es keinen einzigen Augenblick, die sichere Stelle als Stationsarzt in einem städtischen Krankenhaus in Münchens Osten aufgegeben und sich für die Niederlassung in eigener Praxis entschieden zu haben.

Die häufigen nächtlichen Dienste während seiner Krankenhaustätigkeit zehrten an seinen Nerven, sodass er es nicht mehr aushielt und kurz entschlossen die Praxis eines älteren Kollegen gekauft hatte.

Er investierte in die Praxis am Karlsplatz Stachus viel Zeit und Geld. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es ihm jedoch, einen soliden Patientenstamm aufzubauen, von dem er gut leben konnte.

Heikle Sachen, Ärger oder unvorhersehbare Situationen hasste er trotz erfolgreicher Psychotherapie nach wie vor wie die Pest. Daher nahm er nicht einmal an dem Bereitschaftsdienst, dem so genannten Taxidienst der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns teil. Diesen Dienst überließ er lieber einem Kollegen, der wenig Patienten hatte und somit dringend auf zusätzliche Einnahmen angewiesen war.

Jörg lernte seine neun Jahre jüngere Frau Adriane Sörenson, damals noch Schuhmann, auf einem Internistenkongress in München kennen.

Adriane hielt zu dieser Zeit auf dem Kongress ein Referat über „Finanzmanagement in der Praxis. Wohin führt der reale Weg?“

Wie das Schicksal es bestimmt hatte, saßen Jörg und Adriane beim Abendessen nebeneinander. Während die anderen am Tisch, immerhin acht Ärzte, Weißwein zum Essen bestellten, entschieden sich die beiden für den Rotwein. Sie sprachen über Adrianes Vortrag, der alle Kursteilnehmer beeindruckt hatte. Jörg Sörenson stellte ihr einige ergänzende Fragen, die sich auf seine eigene Praxis bezogen.

Nach dem Essen lud er sie in die Bar des Hotels auf einen Drink ein. Adriane nahm dies dankend an. Die Unterhaltung während des gesamten Abends verlief recht nett, sodass sie als letzte Gäste die Bar verlassen hatten. Im Lift stieg Adriane im dritten Stock aus, während Jörg in den siebten weiterfuhr.

Bevor sie allerdings im dritten Stock ausgestiegen war, verabschiedete sie sich von ihm mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange, als wären sie schon seit vielen Jahren befreundet und ein Abschiedskuss einfach dazugehörte.

Diese Geste von ihr war der erste Schritt zu einer näheren Beziehung. Gleich am nächsten Tag trafen sie sich erneut und gingen zusammen spazieren. Es folgten einige Dates in München, die sie bereits nach fünf Monaten zu einem Ja-Wort vor dem Standesbeamten am Mariahilfsplatz geführt hatte.

Adriane und Jörg führten eine glückliche Ehe und hatten zwei intelligente und aufgeweckte Kinder. Einen zehn Jahre alten Hans-Georg und eine sieben Jahre alte Nadja-Simone.

Hans-Georg war ein ruhiger Junge, der mit seinen zehn Jahren ziemlich erwachsen wirkte. Nadja-Simone war dafür genau das Gegenteil. Redselig, renitent und resolut. Daher nannte Adriane sie gelegentlich Drei-R. Auch wenn dieser Spitzname oft wie Dreier klang, ließ sich Nadja-Simone davon nicht beirren und nahm diesen Spitznamen mit Gelassenheit.

An einem sonnigen Mittwochnachmittag stand der silbermetallicfarbene Porsche 911 Carrera Cabrio neueren Modells seit einigen Minuten hinter Jörgs Wagen, einem kaminroten Volvo 850. Der Fahrer hinter den getönten Scheiben schien eine ziemlich ungeduldige Person zu sein. Denn die Hupe heulte in einem Dauerton.

Jörg saß in seinem Volvo mit laufendem Motor und hielt in der Nähe des Odeonsplatzes auf der rechten Fahrbahn und blockierte diese. Mit dem Blinker signalisierte er bereits seit geraumer Zeit jedoch, dass er vorhatte, auf den gegenüberliegenden Parkplatz zu fahren. Obwohl alle von hinten kommenden Fahrzeuge, sobald kein Wagen entgegenkam, über die Gegenfahrbahn weiterfuhren, blieb der Porschefahrer stehen und veranstalte eine Huporgie.

Jörg blickte immer wieder nervös in den Rückspiegel und konnte sich keinen Reim daraus machen, weswegen der Porsche nicht weiterfuhr und hinter ihm den Verrückten spielte.

Auf dem Parkplatz, den Jörg anvisierte, stand ein Mercedes älteren Baujahrs. Er hoffte, dass der Besitzer dieses Wagens endlich losfuhr, damit er dort parken und diese Nervensäge loswerden konnte.

Der Fahrer des gegenüber parkenden Mercedes, ein älterer Mann mit einem ziemlich neu aussehenden Gehstock, öffnete die Beifahrertür und ließ seine hinkende Frau einsteigen. Danach ging er unter Zuhilfenahme seines Gehstockes ohne Hektik mit kleineren Schritten zur linken Seite des Wagens und öffnete die hintere Tür. Wie bei einer staatlichen Zeremonie legte er seinen Stock auf den Rücksitz und korrigierte seine Position mehrmals, als handelte es sich hierbei um eine wertvolle Vase. Dann öffnete er die vordere Tür und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

Obwohl während dieser Zeit eine ganze Kolonne an Jörgs Wagen vorbeigefahren war, machte der ungeduldige Porschefahrer es anscheinend zu einer Prestigefrage und hupte immer noch weiter. Nur noch heftiger.

Jörg beobachtete im Rückspiegel, wie der Mann unmittelbar hinter der Windschutzscheibe wütend seine Lippen bewegte und zusätzlich mit seiner rechten Hand nicht nur herumfuchtelte, sondern auch einige vulgäre Zeichen machte.

Der alte Mann auf der gegenüberliegenden Seite bekam logischerweise das Hupen voll mit und ärgerte sich über die Ungeduld des Porschefahrers. Er gehörte zu der Sorte von Menschen, denen es wohl ein großes Vergnügen bereitete, eine wütende Person noch mehr in Rage zu bringen.

Daher führte er jede Bewegung noch langsamer als gemütlich und ohne jede Hast. Er blieb zuerst auf dem Fahrersitz ruhig sitzen und streckte sich… Dann gähnte er einige Male (zumindest tat er so). Die Tür zog er wie in Zeitlupe Zentimeter für Zentimeter zu sich… Irgendwann steckte er den Zündschlüssel ins Schloss…

Jörg wurde mit jeder Sekunde selbst nervöser und unsicherer. Er merkte, wie sein Körper die Schweißproduktion steigerte und seine Muskeln sich anspannten.

Er drückte auf einen Knopf an der Tür und ließ das elektrisch betriebene Seitenfenster herunter. Sobald die Scheibe vollständig in der Tür verschwunden war, streckte er seinen linken Arm heraus und versuchte mit lockeren Handbewegungen den Porschefahrer nicht nur zu beruhigen, sondern ihn auch darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Mercedes den Parkplatz freigibt.

Passanten stierten nun auf den Porschefahrer und wackelten verständnislos mit dem Kopf, was diesen noch mehr ärgerte. Es passte wohl nicht zu seinem Image, dass eine alte Schrottkiste vor ihm stand und ihm nicht den Weg freimachte. Der alte Mann verschlimmerte mit seiner überaus demonstrativen Gelassenheit die ganze Szene.

Die Szene sah so absurd aus, dass sogar der alte Mercedesfahrer nun von seinem Zeitlupenverhalten Abstand nahm und ebenfalls die Fensterscheibe herunterkurbelte. Dann stieg er aus und ging zur hinteren Tür. Er stand eine Zeitlang neben der Tür und deutete Jörg, dass er nur noch eine Minute benötigte. Danach beugte er sich auf den Rücksitz und tat so, als würde er dort nach einer für die Weiterfahrt unerlässlichen Sache suchen.

Das ganze Geschehen erinnerte an einen Kinofilm. Das Trio mit den Hauptdarstellern, der Porschefahrer, Jörg Sörenson und der Alte, drehte eine groteske, ja sogar eine hirnrissige Szene. Die Leute in der Umgebung waren die Nebendarsteller.

Klappe… Porsche die erste… Vorsicht, und Aufnahme läuft… der Porschefahrer fuchtelt herum und schreit, schimpft, hupt… Jörg macht mit dem aus dem offenen Fenster herausgestreckten Arm das Zeichen „Geduld, beruhigen Sie sich, keine Sorge“… der alte sitzt hinter dem Lenkrad in seinem vertagten Wagen und klopft auf die Stirn… Passanten glotzen und bewegen ihre Blicke zwischen den Hauptdarstellern… sie versuchen heraus zu kriegen, wer in dem Porsche sitzt… die Scheiben sind verdunkelt; nichts zu erkennen… Und Stopp!

Ende der Szene

Jörg öffnete die Tür und stieg aus. Mit vorsichtigen Schritten marschierte er zu dem unter der Mittagssonne silbern glänzenden Porsche und blieb neben der Fahrertür stehen.

Die Fensterscheibe glitt langsam herunter. Auf dem Fahrersitz kam ein etwa vierzigjähriger Mann mit einer schwarzen Sonnenbrille zum Vorschein.

Jörg fiel gleich die Marke der Brille auf, die mit einer nicht gerade als dezent zu bezeichnenden Schrift ins Auge sprang. Dass der Besitzer für diese noble Brillenmarke ein Vermögen hingelegt hatte, wusste er sofort. Der metallene Rahmen der Brille passte perfekt zu dem braunen Teint des Gesichtes. Die lockigen Haare hatten einen modischen Schnitt und glänzten unter den Sonnenstrahlen goldgelb. Ein mächtiger Henriquatre-Bart umsäumte den Mund in einem harmonischen Bogen. Sein Aussehen verriet etwas Aristokratisches; ja etwas Überhebliches.

„Darf ich Sie um etwas Geduld bitten?“, fragte Jörg den Mann, der inzwischen aufgehört hatte, zu hupen. „Sie sehen, dass der Herr drüben alt und behindert ist, weswegen er sich so langsam bewegt. Es dürfte aber nun nicht mehr lange dauern. Ich bitte um Verständnis.“

„Ich hupe schon seit Stunden und habe keine Lust, hier zu übernachten“, antwortete der Mann in einem sehr unfreundlichen Ton.

Seinen merkwürdigen Akzent konnte Jörg in keine Nationalität einordnen, obwohl er aufgrund seines breit gefächerten Patientenstammes die unterschiedlichsten Akzente verschiedener Nationen kennen gelernt hatte.

„So schlimm ist es wirklich nicht. Es sind nicht einmal ein paar Minuten vergangen, seitdem ich da bin. Somit kann es unmöglich sein, dass Sie seit Stunden hier stehen. Sie übertreiben es etwas. Finden Sie nicht?“, antwortete Jörg höflich und ließ sich von dem aggressiven Ton seines Gegenübers nicht hinreißen. Seine Stimme klang nach wie vor euphonisch, angenehm. Keine Spur von einer Aggression. Er lächelte sanft.

„Solange solche Krüppel Auto fahren und Idioten wie Sie auf diese Wanderleichen Rücksicht nehmen, macht das Autofahren keinen Spaß mehr. Fahren Sie nun endlich los und geben Sie die Bahn frei.“

„Entschuldigen Sie, aber ich glaube, Sie übertreiben nun wirklich arg. Außerdem haben Sie nicht das Recht, mich als Idioten zu bezeichnen. Ich hätte von Ihnen etwas mehr Anstand und Respekt erwartet“, erwiderte Jörg. Er merkte dabei, wie sein Angstzentrum langsam aktiv wurde und seine Stimme zitterte. Er wunderte sich selbst über seinen unbeabsichtigten Mut und bereute sofort den ausgesprochenen Satz. Er wollte auf keinen Fall den Wütenden spielen. Das, was er eben gesagt hatte, ähnelte einem Pfeil; wenn er einmal den Bogen verlassen hatte, konnte man ihn nicht mehr zurückhalten.

„Verpiss dich du Schweinebacke und schau, dass du deine Schrottkiste endlich in Bewegung setzt“, erwiderte der Mann cholerisch. Er sprach diesmal so spannungsgeladen, dass sogar der alte Mann es mitbekommen hatte. Nach seiner Verzögerungstaktik war er gerade im Begriff, seinen Mercedes loszufahren und den Parkplatz freizugeben. Nachdem er allerdings die lauten Bemerkungen des Porschefahrers gehört hatte, schaltete er den Motor aus und verließ seinen Wagen. Mit langsamen Schritten überquerte er die Straße und näherte sich zu Jörg, der jeden Herzschlag im Brustkorb spürte.

„Weswegen regen Sie sich denn so auf, Mann? Wieso fahren Sie eigentlich nicht links an mir vorbei genauso wie die anderen, wenn Sie es tatsächlich so eilig haben? Und vor allem… passen Sie auf, was Sie da sagen. Haben Sie mich verstanden?“ Nun war das Eis gebrochen. Auch Jörgs Stimme nahm an Lautstärke zu.

Dieser Satz löste bei ihm eine Befriedigung, Erleichterung aus. Endlich glaubte er an sich selbst. Nun zeigte er Mut und war nicht mehr der einstige Drückeberger oder der berühmte Angsthase in der Schule. Er ging sogar soweit, dass er seinem Gegenüber mit dem rechten Zeigefinger zu drohen begann.

Kaum sprach er diese Worte zu Ende, ging die Fahrertür des silbernen Porsche unvermittelt auf und knallte gegen Jörgs Bauch. Er landete mit dem Rücken auf dem Boden. Eine Welle von diffusen Schmerzen schossen in verschiedene Richtungen seines Körpers, sodass er sich unbewusst auf die linke Körperseite drehte und die Position eines Fötus einnahm. In seinem Kopf kreisten eigenartige elektrische Ströme kreuz und quer und lösten chaotische Linien vor den Augen aus. Hämmernde Schmerzen wanderten vom Nacken zum Scheitel.

Ein großer und kräftig gebauter Mann stieg anschließend mit einer wutentbrannten Miene aus dem Porsche aus und ging auf den liegenden und von Schmerzen gequälten Jörg Sörenson los. Er versetzte ihm mit dem rechten Fuß einen kräftigen Tritt in die Magengrube.

Jörgs Atem stockte… er japste nach Luft… ihm wurde übel. Seine beiden Hände wanderten instinktiv an die Stelle, wo der Schmerz sein Maximum hatte. Es kam ihm vor, als erlebte er gerade einen schrecklichen Albtraum. Er verlor die zeitliche und örtliche Orientierung. Er hörte nur kurze Sequenzen von blechernen Stimmen, die aus verschiedenen Richtungen kamen und pfeifend an seinen Ohren vorbei rasten.

Seine Augen waren zwar offen, konnten aber nichts Konkretes wahrnehmen. Die glasigen Blicke fixierten den immer noch vor Wut kochenden Mann, der nun mit dem rechten Fuß zum zweiten Tritt ausholte.

Die Schuhspitze traf ihn diesmal an der linken Flanke, kurz unterhalb des Rippenbogens. Dieser Tritt brachte Jörgs Körper zum Rollen, sodass er nach etwa einem Meter auf dem Rücken liegend zum Stehen kam.

Die fluchenden, obszönen Schreie seines Angreifers konnte er nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn verstehen.

Er verlor das Bewusstsein.

Der Porschefahrer rückte seine teure Sonnenbrille zurecht, stieg dann in aller Ruhe in sein Auto, als wäre absolut nichts passiert und fuhr mit quietschenden Reifen weg.

Obwohl inzwischen eine Traube von Menschen am Tatort war, hatte keiner den Mut gehabt, in das Geschehen einzugreifen bzw. Jörg zu helfen. Vor Angst, sie könnten als Zeugen oder Beobachter mit diesem tätlichen Angriff in Verbindung gebracht werden, entfernten sich manche Männer schnellen Schrittes vom Tatort und taten so, als hätten sie nichts gesehen, geschweige denn da gewesen.

Nur der alte Mann lief hinkend, so schnell er konnte zu Jörg. Er kniete neben ihm und schüttelte ihn vorsichtig.

„Hallo? Hallo Sie! Hören Sie mich?“, sprach er leise und klopfte mit der Innenfläche der rechten Hand auf die Wange.

Nachdem Jörg auf seine Rufe keine Reaktion zeigte, schaute er in die Menge und schrie mit einer flehenden Stimme:

„Polizei! Krankenwagen! Kann jemand schnell die Polizei anrufen?“

Der Ruf des alten Mannes löste bei den übrig gebliebenen Zuschauern doch noch eine Reaktion aus, sodass sich die teilnahmslos auf Jörg gaffende Menschenmenge im Nu in eine hektisch umher rennende Masse verwandelte.

Ein Mann mit hochgekrempelten Ärmeln griff in seine Hosentasche, holte sein Handy, der Größe nach ein ziemlich altes Modell, heraus und wählte schnell die Nummer 112.

Zwei Frauen und drei Männer knieten neben Jörg und schüttelten seinen Körper wesentlich kräftiger, als der Alte es getan hatte. Sie dachten sicherlich an den Spruch „je mehr, desto besser.“

„Ich glaube, er ist schon tot!“, flüsterte eine dunkelhaarige Frau um die fünfzig und war den Tränen nahe.

„Sie haben Recht. Er sieht wirklich tot aus“, fügte ein Mann mit einem karierten Sakko, das für einen sonnigen Tag wie diesen ziemlich warm zu sein schien.

„Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fuhr sie der alte Mann an. Er musste laut sprechen, damit er weitere Bemerkungen rechtzeitig unterbinden konnte.

„Er ist aber bewusstlos!“, verteidigte sich die Frau, die angsterfüllt zitterte. Die ersten Tränen liefen ihr bereits über die Wangen. Mit einem Papiertaschentuch putzte sie kräftig ihre Nase.

„Nicht jeder, der bewusstlos ist, ist tot“, mischte sich ein junger Mann mit einer abgetragenen Lederjacke ein.

„Danke! Endlich einer mit Hirn“, flüsterte der Alte.

„Sollen wir bei ihm eine Herzdruckmassage machen?“, fragte ein dicker Mann mit einer mächtigen Glatze. Der dicken roten Nase nach war er sicherlich kein Gegner von Alkohol.

„Was für eine Massage haben Sie gesagt?“, wollte die zweite Frau wissen, die Jörgs linke Hand liebevoll streichelte.

„Die Massage mit dem Brustkorb, mit der man die Toten wieder ins Leben zurückholt“, antwortete der dicke Mann mit der roten Nase unsicher und dachte über seine Erklärung nach, ob sie richtig war.

„Schwachsinn!“, sagte der junge Mann mit der Lederjacke. „Man kann doch niemanden wieder ins Leben zurückholen. Wenn er schon tot ist, dann ist er tot! Aus, amen“, fügte er dann hinzu.

Der dicke Mann erwies sich als hartnäckig und wollte einfach nicht nachgeben, obwohl er bei seiner Herzdruckmassage nach wie vor unsicher war: „Aber das sieht man doch immer wieder in den Filmen.“

„Sie schauen sich…“, kam aus dem Mund des jungen Mannes, als die zweite Frau mit einer Frage ihn unterbrach. Ihre Stimme klang ächzend.

„Wissen Sie noch, wie man eine Herzmassage richtig macht?“

„……..“

Ein lauter und ziemlich forscher Befehl beendete sofort jede Diskussion und brachte alle zum Schweigen.

„Hören Sie mit Ihren unqualifizierten Bemerkungen auf! Sind Sie alle blind? Sehen Sie nicht, dass er immer noch atmet? Seit wann atmen denn die Toten selbständig?“ Diese Stimme gehörte keinem anderen als dem alten Mann, der kopfschüttelnd seine Helfer musterte.

Als die um Jörg versammelte Truppe das immer lauter werdende Martinshorn des Notarztwagens hörte, verschwand die Spannung auf ihren Gesichtern und sie blickten erleichtert in die Richtung, aus der das Heulen der Sirenen kamen.

Der Betrug

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