Читать книгу Der Betrug - Ali Erbas - Страница 6
- KAPITEL 4 -
ОглавлениеWarren verbrachte noch zwei Tage in Washington, bevor er nach England zurückflog. Er nutzte diese Zeit, um sich mit seinen früheren Freunden zu treffen. Bis auf ein paar Stunden, in denen er für seine Frau original amerikanische Marshmallows besorgte, war er kaum alleine.
Seine Freunde sorgten dafür, dass er vor allem die Nächte nicht alleine verbrachte.
„Ich arbeite schwer. Daher ist es mein Recht, mich zu amüsieren. Auf meine Art natürlich“, sagte er stets zu sich und rechtfertigte so seine Seitensprünge, sodass er niemals unter Gewissensbissen litt.
Er ging mit Freunden in diverse Lokale bzw. Bars und feierte bis in die späten Nachtstunden. Ein Gefühl plagte ihn jedoch immer noch und machte ihn nervös. Er konnte es einfach nicht ertragen, wenn er gerade die Zeit, in der er von jeglicher Kontrollmöglichkeit durch seine Frau fern war, nicht nach seinen Vergnügungsvorstellungen durchlebte. Er besaß die wahnhafte Überzeugung, dass er andernfalls in seinem Leben etwas Grundlegendes, etwas Substanzielles verpassen würde.
Warren fühlte sich in London zwar wohl, hielt sich aber viel lieber in Washington DC auf. Washington bedeutete für ihn Freiheit, Genuss, Leben und Erleben. Denn hier lasen ihm Freunde seine Wünsche von den Lippen ab. Das kostete sie natürlich keine Mühe, da sie dieselbe Einstellung hatten wie er, solange diese das Amüsement als Grundbaustein hatte.
„Washington bietet viel mehr Bars als London“, predigte Warren. Damit meinte er natürlich nicht die Bierkneipen, die ziemlich laut waren und punkt 23 Uhr schlossen. Sondern richtige Bars, besser gesagt, Nachtlokale, in denen man etwas Besonderes erleben und sich von jungen, attraktiven Frauen verwöhnen lassen konnte.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte Giorgio. Ein gewiefter Rechtsanwalt, der die meisten Lokalitäten Washingtons wie die eigene Hosentasche kannte.
In der Wirklichkeit hieß er George. Da er aber einige Jahre in Italien verbracht und dort an der Universität von Rom Vorlesungen gehalten hatte, tauften ihn seine Freunde gleich nach seiner Rückkehr in die USA um und gaben ihm den italienischen Namen Giorgio.
„Und? Worum geht es bei der Überraschung?“, wollte Warren wissen mit einem hämischen Grinsen. Er spielte den Unschuldigen, der die Überraschungen seiner Kumpane nicht kannte.
„Von mir erfährst du es niemals mein Lieber. Du musst es mit eigenen Augen sehen. Und dann möchte ich dein Urteil hören. Entweder sagst du, es war Super oder Scheiße. Dazwischen gibt es keine Stufen“, lachte Giorgio und rieb beide Hände ineinander als wollte er sie aufwärmen.
Zwei alte Freunde, ebenfalls ein Rechtsanwalt und ein Börsenmakler, begleiteten Giorgio und Warren zu dem abendlichen Exkurs. Der Rechtsanwalt, der Benjamin Müller hieß und von allen mit dem Kürzel Ben gerufen wurde, gehörte trotz seines jungen Alters bereits zu den Seniorpartnern einer der erfolgreichsten Kanzleien Washingtons. Ben und Giorgio betreuten einige gut betuchte Mandanten gemeinsam. Der Börsenmakler Ronald Preston, der mit 29 Jahren von allen der Jüngste war, schwamm im wahrsten Sinne des Wortes in Geld. In seinem Freundeskreis bezeichnete man ihn als den Kapitalisten.
An solchen abendlichen Treffen nahm normalerweise auch der CIA-Chef Mitchum teil. Da er ausgerechnet an diesem Abend zu einem Empfang eines Botschafters gehen musste, konnte er seine Clique nicht begleiten, was ihm aufrichtig leid tat.
Die vier Freunde gingen ins Le Canard, eines der beliebtesten Restaurants Washingtons. Das Lokal befand sich im obersten Stock eines Wolkenkratzers und bot exzellente französische Küche. Es war einer der wenigen Treffpunkte der Politiker, Schauspieler, Sänger und Geschäftsleute, für die Geld nur eine nebensächliche Rolle spielte. Denn das billigste Menü kostete 140 US-Dollar. Die günstigste Weinflasche einige hundert US-Dollar. Für die meisten Gäste war sehen und gesehen werden von besonderer Bedeutung.
Der Besitzer, ein Pole, der lange in Frankreich gelebt hatte, bevor er in die USA umsiedelte, arbeitete nach dem Motto: „Ich bin teuer aber gut. Wer sich ein gutes Essen nicht leisten kann, soll in eine Pizzeria gehen.“
„Mann, die Leute haben aber Geld!“, staunte Warren, der seine Blicke über die Tische gleiten ließ.
Das Restaurant war bis auf den letzten Platz ausgebucht.
„So ist es mein Lieber. Hier siehst du den Crème de la Crème der Leute. Siehst du den dicken da vorne am dritten Tisch?“, fragte Giorgio.
„Welchen Dicken? Ich sehe, außer mir, nur Dicke hier“, antwortete Warren.
„Das war der Witz des Jahres. Es darf gelacht werden“, sagte Giorgio mit ernster Miene und legte die Fingerkuppen auf den Brustkorb und tat so, als würde er sich kitzeln.
„Ich meinte den mit der dicken Brille und der roten Krawatte.“
„Meinst du den mit dem gestreiften Sakko, der ausschaut wie eine gegrillte Schweinshaxe?“
„Mensch, du scheinst ein richtiger Feinschmecker zu sein. Jetzt weiß ich, was du die ganze Zeit in London treibst.“
„So begeistert bin ich von deinem Witz aber auch nicht“, sagte Warren und fügte gleich hinzu: „Und was ist mit ihm?“
„Er ist ein Senator der Republikaner. Und das Whiskyfass rechts von ihm ist ebenfalls Senator. Allerdings von den Demokraten.“
„Das ist aber interessant. Ich dachte, die Demokraten und die Republikaner vertragen sich nicht“, wunderte sich Warren und runzelte die Stirn. Tiefe Falten breiteten sich parallel zu den Augenbrauen aus und ließen ihn wesentlich älter erscheinen.
„Das ist nur im Parlament und vor den Medien so. Wenn es irgendetwas umsonst gibt, dann sind sie alle die besten Freunde. Geld macht aus Feinden die besten Freunde und aus Freunden die unerbittlichsten Feinde.“
Der Kellner mit einem dünnen Salvatore-Dali-Bart sprach grammatikalisch zwar ein einwandfreies Englisch, dafür klang aber sein ausgeprägter französischer Akzent bestialisch.
Sie bestellten bei ihm das Essen. Vier Männer, vier verschiedene Menüs. Bei dem Wein waren sie sich allerdings einig. Es musste ein Rotwein sein.
„Welchen Wein können Sie uns empfehlen?“, fragte Giorgio, der vergeblich in der Weinkarte blätterte. Der Reichtum der Weinangebote irritierte ihn. „Wer die Wahl hat, hat auch die Qual“, sagte er zu sich.
Der Kellner hielt sein spitzes Kinn zwischen dem Daumen und Zeigefinger und ließ die verschiedenen Rotweine vor seinen Augen Revue passieren. „Ich habe etwas Feines für Sie“, sagte er nach etwa einer Minute. Er suchte in der Weinkarte danach und zeigte es Giorgio, der just diesen Wein gut kannte. Er war einer seiner Lieblingsweine. „Mit einem Chateau Neuf du Pape kann man niemals was falsch machen“, flüsterte er leise.
Der Lärmpegel des Restaurants kletterte inzwischen nach oben, sodass er selbst seine eigene Stimme nicht hörte.
Der erste Gang wurde serviert.
Warren hatte eine Kürbiscremesuppe mit Ingwar und einem Sahnehäuptchen.
„Herrlich“, meldete er gleich nach dem ersten Löffel. „Giorgio, du bist ein Schatz. Das ist wirklich eine gelungene Überraschung. Danke!“ Er war sich inzwischen unsicher, was Giorgio mit der Überraschung gemeint hatte. Ging es dabei um dieses gehobene Restaurant mit dem phantastischen Essen oder hatte sein Freund doch noch eine andere Idee.
Giorgio öffnete weit seine Augen. Er stierte Warren verständnislos an.
„Entschuldige… was für eine Überraschung denn?“
„Die, von der du erzählt hast, bevor wir hierhergekommen sind.“
Giorgio überlegte kurz und zwang sein Gedächtnis. Seine Hand wanderte nach oben und begann seinen Kopf zu jucken. Als hätte diese Prozedur seine Gedächtniszellen mobilisiert, fiel ihm just in diesem Moment ein, was er Warren versprach. Er begann zu lachen.
„Du bist aber einer… die Überraschung, von der ich gesprochen habe, kommt erst… nach dem Essen! Du musst bis etwa Mitternacht Geduld haben, mein Lieber. Lass uns erst gemütlich speisen. Na dann, zum Wohl!“ Er hob sein Glas hoch.
Vier mit Rotwein gefüllte Gläser trafen sich über dem Tisch. Das leise Klirren ging im Lärm des Lokals unter.
Als sie das Restaurant verließen und auf der noch nassen Straße standen, um eine Zigarette zu rauchen, zeigten die Uhren kurz nach 23 Uhr.
Dicke Wolken bedeckten den nächtlichen Himmel, sodass kein einziger Stern zu sehen war. Die Temperaturen waren allerdings immer noch angenehm mild.
„Wann bekomme ich meine Überraschung?“, fragte Warren und machte ein kleines Kind nach, das seinen Kopf gegen die Eltern durchsetzen wollte. Er musste sich anstrengen, damit seine Freunde nicht merkten, dass er bereits angeschwipst war. Dass in den Adern der anderen ebenfalls etwa eine Promille Alkohol zirkulierte, konnte er nicht erahnen.
Für Warren war es der Abend der Abende. Schon seit einigen Monaten sehnte er sich nach einer solchen Vergnügung. Die Feier in London erreichten nicht einmal die Hälfte an Entspannung und Gemütlichkeit. Sie hatten in einem noblen Restaurant hervorragend gegessen und dazu einen köstlichen Wein getrunken. Es blieb allerdings zu Freude des Wirtes nicht bei einer einzigen Flasche Chateau Neuf du Pape. Es folgten nämlich in Laufe des Abends zwei weitere; danach bestellten sie zu Verdauungszwecken ein ordentliches Glas TreSoliTre Riserva, ein Grappa aus Barolotrester, der langjährig in französischen Ailler-Eichenfässern gelagert wurde.
„Ich will meine Überraschung“, wiederholte Warren und schaute Giorgio schief an, der seine Zigarette eben zu Ende geraucht hatte. Er schnippte den Zigarettenstummel zwischen zwei Fingern so gekonnt weg, dass er mitten in einer Pfütze landete.
„Du bist ja schlimmer als ein Kind. Eine richtige Nervensäge! Du kriegst jetzt deine Überraschung, wenn du mir verrätst, wie spät es ist.“
Warren blickte auf seine Uhr, erkannte jedoch gar nichts. Sowohl der Stunden- als auch der Minutenzeiger bildeten in seinem Sehzentrum nur verschwommene Figuren. Seine Anstrengung änderte an der Realität nichts. Er sagte dann einer Eingebung folgend, dass es Mitternacht war, was letztendlich Giorgio hören wollte.
Sie stoppten das Taxi, das gerade mit einer Schrittgeschwindigkeit an ihnen vorbeifuhr, als hätte jemand es beim Verlassen des Restaurants extra für sie bestellt.
Giorgio nannte dem Taxifahrer das Ziel, das in der Nähe vom Brentwood Park in einer Seitenstraße der New York Ave NE lag.
Der Fahrer, ein Schwarzer mit einem mächtigen Konglomerat von feinen Locken, grinste abfällig, als er die Adresse hörte. Dem Gesichtsausdruck nach kannte er die Gegend gut und die vier waren sicherlich nicht seine ersten Kunden, die hinfahren wollten.
Zu dieser späten Stunde mitten in der Nacht war der Verkehr ruhig. Auf den Straßen fuhren wenig Autos. Bei zwei von drei Wagen handelte es sich um ein Taxi, das wohl keine Passagiere zu ihrem Arbeitsplatz förderte, sondern in ein Lokal, in dem sie beim Washingtoner Nachtleben mitmischen konnten.
Die Fahrt zu der Adresse, die den Taxifahrer hämisch grinsen ließ, dauerte nicht einmal eine halbe Stunde. Tagsüber benötigte man für diese Strecke bestenfalls mindestens das Zweifache an Zeit.
Die vier Freunde zeigten dank der Alkoholkonzentration im Blut ihre beste Stimmung und bombardierten einander mit Witzen, die sich nur unterhalb der Gürtellinie abspielten. Die Lautstärke ihres Gelächters erreichte gelegentlich Spitzenwerte. Der Taxifahrer hörte ihnen geduldig zu und lachte mit. Er beförderte die angeheiterten Fahrgäste liebend gerne. Denn sie waren die großzügigsten Kunden und gaben so gut wie immer reichliches Trinkgeld.
Und diese Vermutung bewahrheitete sich, als sie dort ankamen.
Ronald, der Börsenmakler, saß vorne auf dem Beifahrersitz und hielt sein Portemonnaie in der Hand bereit. Sobald das Taxi anhielt, griff er blind hinein und zog einen Einhundert-Dollarschein, den er dem Taxifahrer streckte.
„Der Rest für Sie“, sagte er und stieg aus.
Der Taxifahrer glaubte seinen eigenen Augen nicht. „Noch fünf solche Gäste und meine Nacht ist gerettet“, dachte er. Gerade hatte er über sechzig Dollar Trinkgeld bekommen, das ihn überglücklich stimmte.
Die Gegend sah ziemlich düster und heruntergekommen aus. Die Ruinen ließen es erahnen, dass einst zwei- bis dreistöckige Häuser existierten und vor langer Zeit auch bewohnt wurden. Zwischen den abgerissenen Wänden stand ein einsames zweistöckiges Haus ohne Schild, das nähere Informationen über das Gebäude preisgab. Der Verputz war an vielen Stellen abgeblättert, sodass darunterliegende Ziegelsteine wie Flecken aussahen. Ein Meer von Neonlichtern in verschieden grellen Farben wies eindeutig daraufhin, dass es sich um einen Nachtclub handelte. Die ein- und ausgehenden Lichter wirkten wie ein beweglicher Pfeil, der in der Mitte eines aus roten Glühbirnen bestehenden Herzens endete. Laute Technomusik mit überwiegendem Bass drang hinaus. Der gesamte Boden schien zu vibrieren.
Die Türsteher, zwei schwarzhäutige Riesen mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen, musterten die neuen Gäste mit kritischen Augen, ließen sie jedoch ohne Kommentar passieren.
Warren schauderte beim Blick der beiden Türsteher und seine Erinnerungen an den Besuch im Weißen Haus wurden trotz hohen Alkoholspiegels auf einmal lebendig. „Jetzt weiß ich, wo unser ehrwürdiger Präsident seine Gorillas herrekrutiert“, ging ihm durch den Kopf, der mehr instinktiv handelte als rational. Er begann zu lachen und begegnete prompt den fragenden Blicken seiner Begleiter. Er konnte allerdings nicht mehr tun, als sie zu ignorieren.
Die rot beleuchteten Steinstufen führten in einen Keller hinunter. Mit jedem Schritt nahm die Musik an Lautstärke und die Vibration an Intensität zu.
Als sie unten ankamen, waren, bis auf Giorgio, der das Lokal in- und auswendig kannte, alle von der Szene überwältigt, die vor ihnen zur Darstellung kam. Warren strahlte voller Enthusiasmus. Er rieb seine Augen, als könnte er sein Sehvermögen steigern. Das, was er gerade sah, entsprach in allen Punkten seinen Vorstellungen von einem wahrhaften Etablissement. Seine Träume wurden an diesem Abend endlich real und er fand, wonach er schon seit Jahren gesucht hatte. Er schimpfte mit sich selbst, dass nicht er, sondern sein Freund Giorgio dieses Lokal entdeckt hatte. Er verfluchte die Zeiten in London.
Auf einer von mehreren Spots angestrahlten Drehbühne führten vier schwarzhäutige Mädchen, kaum älter als zwanzig, einen erotischen Tanz vor. Bis auf einen winzigen Fetzen Stoff, der nur das Allernötigste bedeckte, hatten sie nichts an. Die schlangenhaft verführerischen Bewegungen stellten nicht nur ihre zarten Körper zur Schau, sondern ihre Rundungen vor allem waren dermaßen provokativ, dass alleine der Anblick jeden männlichen Verstand außer Kraft zu setzen reichte.
Die Mädchen, die die Gäste an den eng aufgestellten Tischen bedienten, sahen nicht anders aus. Warren erkannte sofort, dass die Tänzerinnen und Bedienungen nach einem vorgeschriebenen Turnus ihre Tätigkeit tauschten.
„Diese jungen, schwarzen Mäuschen. Ich liebe sie… ich liebe sie alle“, flüsterte Warren. „Hier ist meine Welt und das ist mein Paradies. Was habe ich denn im beschissenen London verloren? Ich bin der größte Depp aller Zeiten, ein Narr, ein Arsch…“
Giorgio betrachtete seine Freunde zufrieden, die die nackten Körper mit halb offenem Mund angafften, als stünden sie unter Hypnose. Er verstand zwar Warrens Gemurmel nicht, konnte sich allerdings gut vorstellen, dass er von allen die größte Freude hatte.
Warrens Freude wuchs von Sekunde zu Sekunde und gab ihm das Gefühl, das Paradies auf Erden gefunden zu haben. So viele und noch dazu so junge Mädchen hatte er auf einmal noch nie gesehen. Hinzu kam ihre dunkle Hautfarbe, die unter dem Licht der kräftigen Strahler golden glänzte.
Er liebte junge, schwarze Mädchen. Er bezeichnete sie „chocolate girls.“
Bis auf einige Dunkelhäutige waren alle Gäste des Klubs weiß. Sie hatten anscheinend denselben Geschmack wie Warren, dessen Ungeduld ihn nach vorne trieb, ohne auf seine Begleiter zu achten. Kaum machte er ein paar Schritte zur Drehbühne hin, so hängten sich zwei Mädchen an jeweils einen Arm und zogen ihn in eine Ecke. Beide sahen reizend aus und hatten einen graziösen Körper. Warren konnte ihnen nicht widerstehen und folgte ihnen wie ein Sklave.
Er legte seine Arme auf ihre nackten Schultern. Ihre Haut fühlte sich elektrisierend an. Er spürte, wie seine männlichen Hormone auf einmal verrückt spielten, gegen die sein Körper machtlos war.
Unter ständigem, Warrens Verstand außer Gefecht setzendem Streicheln führten sie ihn an einen freien Tisch und schubsten seinen ohnehin schwachen Körper auf den leeren Sessel. Warren fiel wie eine Bleikugel darauf. Sie ließen ihm keine Sekunde Zeit, seine Situation zu realisieren. Prompt setzte sich eins der beiden Mädchen rücklings auf seinen Schoß, während das andere ihre Streichelkünste fortsetzte.
Die zwei Tage in Washington DC vergingen für Warren wie ein Traum. Er ärgerte sich, dass er nicht länger dortbleiben konnte. Er musste gegen die teuflischen Gedanken, den Kranken und Flugunfähigen zu spielen, regelrecht kämpfen. Er hätte am liebsten, den Rückflug nach London annulliert und dadurch seinen Aufenthalt in Washington um einige Tage verlängert.
Die Entscheidung, doch noch termingerecht zurückzufliegen, war für ihn sehr bitter.
Als er im Flugzeug saß, schloss er immer wieder die Augen und dachte an die beiden Nächte mit den jungen chocolate girls. Sie waren keine jungen, unschuldigen Mädchen, sondern der Teufel höchstpersönlich. Sie beherrschten ihr Metier perfekt und verführten ihn auf einer meisterhaften Art und Weise, sodass er sich als ziemlich unerfahren vorkam.
Dass er pro Aufenthalt in Washington mindestens einmal diesem Club einen Besuch abstatten werde, versprach er sich selbst und suchte in diesem Versprechen nach etwas Trost. „Ganz sicher“, murmelte er. „Um jeden Preis! Egal, was passiert; ich werde immer wieder dort sein. Warren, ich verspreche es dir!“
Die Erinnerungen an die nächtlichen Exzesse hatten ihn dermaßen im Griff, dass er es nicht mitbekommen hatte, wie die Stewardess neben ihm stand und mit ihm sprach.
„Was…? Wie…? Wie bitte?“, stammelte er auf einmal, als sie ihn leicht an seiner linken Schulter berührte. Er stierte auf sie und musterte sie von oben bis unten.
Sie war eine hübsche Frau Mitte dreißig. Blond und blauäugig. Volle Lippen, eine schöne Nase… makelloses Gesicht. Eine tadellose Figur mit schönen langen Beinen, die von einem dunkelblauen Rock nur bis zum Oberschenkel bedeckt waren. „Nein… keine Chance… du hast keine Chance bei mir, Süße. Du bist viel zu alt für mich. Ich möchte wieder zu meinen chocolate girls“, dachte er. Seine traurige Miene verriet, wie unglücklich er gerade war.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wollte nur wissen, ob ich Ihnen etwas zu trinken bringen darf.“
„Ähm… ja, gerne. Ein Whisky bitte. Genau ein Whisky mit Eis. Mit viel Eis.“
Die Stewardess entfernte sich. „Genau“, ging ihm durch den Kopf, „mit viel Eis; mit sehr viel Eis sogar. Das kann ich jetzt dringend brauchen.“
Warren, der sich selbst als Arbeitstier bezeichnete, vergaß bereits nach dem zweiten Tag in London das Washingtoner Nachtleben. Er war wieder mit Leib und Seele bei ITMC. Handel mit Geld. Handel mit den wertvollsten Konsumgütern der Welt. Das Geld war sein Metier, seine Nahrung. Ohne Geld war der Mensch ein Nichts. Eine nutzlose Last. Ein wertloses Wesen, das auf der Erde keine Daseinsberechtigung hatte.
Er ging mit dem Geld um, wie ein Jongleur mit seinen Bällen. Und kein Anderer beherrschte das Jonglieren mit dem Geld, so gut wie er. Er war der geborene Trader; ein Dompteur des Geldes.
Der Spruch, „den Urlaub kann man nur durch Fleiß und effiziente Arbeit verdienen“, stand in goldenen Lettern in einem Glasrahmen auf seinem Schreibtisch. Er liebte diesen Spruch, den er selbst ausgedacht hatte.
Jeder Mitarbeiter, der ungeachtet der Gründe ihn konsultierte, wurde automatisch mit diesem Spruch konfrontiert. Denn er musste während des Gesprächs mit Warren wohl oder übel unmittelbar vor diesem Spruch sitzen, der ihn aus dem Glasrahmen angrinste.
Inwieweit er seine Mitarbeiter durch diesen Spruch zu einer effizienteren Arbeit motivieren konnte, wusste keiner. Er beauftragte auch niemanden, der das Ergebnis in einer anonymen Umfrage auswerten sollte. Er hielt es für völlig überflüssig. Denn er war von der erfolgversprechenden Wirkung dieses einfachen Satzes mehr als überzeugt.
Die Urlaubsplanung der so genanten einfachen Mitarbeiter im ITMC erledigten die Abteilungsleiter. Das gehörte voll zu ihrem Verantwortungsbereich. Sie mussten ohne wenn und aber dafür sorgen, dass die Abteilung optimal funktionierte. Daher hatten sie ein relativ autonomes Entscheidungsrecht.
Was allerdings den Urlaubswunsch der Vorstandsmitglieder und der Abteilungsleiter betraf, hatte Warren einzig und allein das Entscheidungsrecht. Er konnte es genehmigen oder ablehnen und brauchte, niemandem gegenüber es zu rechtfertigen.
Während jeder Urlaubswunsch aus diesem Personenkreis von ihm persönlich paraphiert und genehmigt werden musste, konnte er seinen eigenen Urlaub, wann und wie lange, selbst bestimmen.
Trotzdem zeigte Warren sich am 14. Mai 2001 zum ersten Mal von seiner besten kollegialen Seite, als hätte sich sein Führungsstil geändert, und legte seinen eigenen Urlaubsschein (ausnahmsweise) zwei Vorstandsmitgliedern zur Unterzeichnung vor.
Obwohl Berge von noch zu bearbeitenden Ordnern auf seinem Schreibtisch auf die baldige Entscheidung warteten, beantragte er zu Überraschung aller Arbeitskollegen, kurz entschlossen einen Urlaub.
Er erzählte jedem, dass er massiv überarbeitet sei und inzwischen nicht mehr richtig denken könne. Er stünde kurz vor einem Burn-out-Syndrom und spiele sogar mit Selbstmordgedanken. Er fühle sich wie eine ausgepresste Zitrone.
Daher bat er seine Kollegen, deren Chef schließlich er selbst war, ihm nur eine Woche Auszeit und zwar vom 18. Mai bis zum 25. Mai 2001 zu gönnen.
Bereits am 16. Mai 2001 besuchte er am späten Vormittag ein Reisebüro in Oxford Street, das nur teure und exklusive Reisen anbot. Er kannte zwar das Büro nicht, hatte aber viel darüber gehört. Es soll durch seine kompetente Beratung zu den besten in London zählen.
Die Dame hinter dem Schreibtisch war, so wie er es erwartet hatte, überaus zuvorkommend und begrüßte ihn mit einem Händedruck. Sie bot ihm einen Kaffee, den er dankend annahm. Er erklärte ihr seine Urlaubsvorstellungen: Strand, Sonne, Luxushotel und Genuss pur.
„Wie lange möchten Sie bleiben?“, fragte sie, während sie ihm eine Tasse Kaffee und, obwohl er es nicht bestellt hatte, ein Glas Mineralwasser servierte.
„Ich kann mir leider nicht länger als eine Woche Urlaub leisten. Das ist derzeit das Maximum“, stöhnte er.
„Verstehe“, antwortete sie ihm und zählte die Urlaubsorte auf, die für ihn in Frage kommen konnten. Sie wies ihn daraufhin, dass es keinen Sinn hätte, ein weit entferntes Ziel herauszusuchen, da man ansonsten wertvolle Stunden von seinem Urlaub im Flugzeug verbrachte.
Sie zeigte ihm einige Orte im Katalog und favorisierte die kanarische Insel Fuerteventura, die viel Sonne, einen herrlichen Strand und gute Hotelanlagen bot.
Ein Fünf-Sterne-Hotel in Gran Trajal fiel ihm beim ersten Blick auf. Ohne zu zögern, ließ er die Würfel fallen und buchte die Reise fest. Er zahlte mit der Kreditkarte die volle Summe und verließ mit einem strahlenden Gesicht das Reisebüro. Das Gefühl der Erleichterung beflügelte ihn. Seine Füße federten beim Gehen und seine Schritte sahen wie Sprünge aus.
In der Regent Street aß er in einem japanischen Restaurant zu Mittag. Es störte ihn absolut nicht, dass er am Tisch alleine saß und keine Unterhaltung hatte. Er beschäftigte sich während des Essens mit seinen Zukunftsplänen, Träumen und Visionen.
Es gab noch viele Dinge, die auf seinem Weg auf ihn warteten und die er meistern musste. Er war ein Perfektionist und vollendete jede begonnene Arbeit mit Erfolg. Die Niederlagen, die er gelegentlich erlebt hatte, vergaß er niemals und arbeitete an denen solange, bis er sie letztendlich wettmachte.
Der 17. Mai 2001 war ein schöner, sonniger Tag. Ein beruhigendes Grün beherrschte die Parkanlagen. In den Gärten präsentierten die Blumen ihre schönsten Farben.
Warren ging es nicht anders als der Natur. Er strahlte freundlich, lachte herzlich und erzählte sogar Witze. Von dem strengen Geschäftsführer, der außer Arbeit nichts kannte, sah man absolut keine Spur. Sein Benehmen entsprach seinem Gegenbild.
Diese plötzliche Verwandlung führte bei seinen Mitarbeitern zu heimlichen Diskussionen. Sie tuschelten hinter seinem Rücken und mutmaßten, was wohl für diesen Umbruch sorgte. Jeder warf eine Behauptung in die Runde. Man erörterte das Pro und Kontra dieser Vermutung, kam allerdings nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Auch wenn viele Argumente dagegensprachen, einigte man sich doch noch darauf, dass der Beginn seines einwöchigen Urlaubes ab dem nächsten Tag der Grund für seine Verwandlung sein musste.
Kurz nach 18 Uhr hielt sich außer Warren noch jemand in dem mächtigen ITMC-Gebäude. Er hörte, wie die Tür des Kleiderschrankes im Vorzimmer geöffnet wurde. Er stand auf und trat heraus.
Seine bildhübsche Sekretärin aus Italien, die in zwei Wochen ihren dreißigsten Geburtstag feiern würde, knöpfte gerade ihren grasgrünen Mantel zu.
Er ging auf sie zu und umarmte sie von hinten. Gleichzeitig fuhren seine Hände über die geschlossenen Knöpfe und öffneten sie. Das gehörte zu seiner täglichen Beschäftigung, die er inzwischen instinktiv vollführte.
Giovanna arbeitete seit über einem Jahr im Vorzimmer als seine Privatsekretärin. Noch während der Probezeit liebäugelte er mit ihr und nützte die Gelegenheit aus, als sie auf der Geburtstagsfeier einer Mitarbeiterin bedudelt war und er sie mit seinem Luxusschlitten nach Hause fuhr. Seitdem hatten sie ein intimes Verhältnis, obwohl auch Giovanna, so wie er, verheiratet war.
Nachdem ihr Mantel auf dem Boden landete, umarmte er sie noch fester und küsste sie leidenschaftlich.
„Kannst du nicht noch etwas hier bleiben, Giovanna?“, fragte er. Seine Stimme klang traurig und belegt, wie ein krankes Kind, das die Hand seiner Mutter festhielt und sie nicht gehen lassen wollte.
„Du weißt, dass ich schon längst zuhause sein müsste, Liebes“, antwortete sie und rang im Anschluss an einem langen Kuss nach Luft.
„Ich möchte gerne noch einige Stunden mit dir verbringen; in dem Hotel, wo wir uns immer getroffen haben. In unserem Liebesnest.“
„Das will ich auch, glaube mir, aber ich habe heute wirklich keine Zeit“, betonte sie flehend und streichelte zärtlich seine linke Wange.
„Ab morgen bin ich aber nicht mehr da.“
„Ja, mein Liebster, ich weiß, dass du in Urlaub gehst. Du bist aber, Gott sei Dank, nur für eine Woche weg. Nächste Woche sind wir wieder zusammen. Und wir werden gemeinsam meinen Geburtstag feiern. Die offizielle Feier gibt es, erst nachdem Du und ich uns geliebt haben. Ich verspreche es dir, dass ich gleich am ersten Tag, wenn du wieder da bist, mehrmals mit dir zusammen sein und dir alle Wünsche erfüllen werde. Ich muss aber jetzt wirklich weg. Mein Mann wartet schon auf mich.“
„Ich hasse deinen Mann. Am liebsten würde ich ihn eigenhändig erwürgen. Ich bin so eifersüchtig auf ihn. Ich kann es nicht ertragen, dass du jede Nacht neben ihm liegst.“
„Liebes, glaub mir, auch mir gefällt es nicht. Du hast ja auch eine Frau zu Hause. Der Gedanke, dass du nachts neben ihr liegst und anstatt meines Körpers sie umarmst, macht mich ebenfalls verrückt. Lass uns bitte heute nach Hause gehen. Bitte!“
„Wer weiß, vielleicht sehen wir uns nie wieder?“, sagte Warren leise und schaute dabei auf den Boden.
Seine Blicke verfolgten das Spiralmuster des Teppichs, das wiederum aus mehreren ineinander verflochtenen kleineren Spiralen bestand. Seine Stimme hatte einen traurigen Unterton und war belegt. Es klang so, als führten sie tatsächlich ihr letztes Gespräch miteinander.
Giovanna schauderte nach Warrens ungewöhnlicher Bemerkung. Sie fror auf einmal und bekam Gänsehaut, als hätte sie eben einen schrecklichen Geist gesehen, der seine eisige Kälte auf sie übertrug. Sie kuschelte sich an ihn heran, umarmte ihn fest und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie hörte, wie sein Herz laut und schnell schlug.
„Wie kannst du so etwas sagen?“, sprach sie, dem Weinen nahe. „Du redest so, als würden wir uns nie wiedersehen. Möchtest du, dass mein Herz nun plötzlich stillsteht und nie wieder schlägt?“
Giovanna verlor die Beherrschung. Die traurige, depressive Stimmung sprengte den eisernen Käfig und befreite sich. Sie fing an zu weinen. Tränen liefen ihr über die Wangen und bildeten zwei feuchte Linien, die unter dem Deckenlicht glänzten.
„In dieser Welt ist alles möglich, Giovanna. Der Tod lauert überall auf uns. Heute sind wir hier. Morgen vielleicht nicht mehr. Wer weiß?“, antwortete Warren wie ein Philosoph, der eine alte Weisheit neu entdeckte.
„Sprich bitte, bitte nicht so. Du machst es mir so schwer. Die ganze Zeit mache ich mir Gedanken, wie ich eine ganze Woche ohne dich aushalten soll und nun sprichst du auch noch vom Tod. Versuche doch auch mich zu verstehen. Ich bin gerne, sehr gerne bei dir. Ich habe aber einen Mann, den ich in Laune halten muss. Kannst du mir bitte sagen, wie dir so ein abscheulicher Gedanke plötzlich in den Sinn kommen kann? Du hast bis jetzt noch nie vom Tod geredet. Du warst stets guter Laune. Das ist nicht das erste Mal, dass du in Urlaub gehst. Verheimlichst du mir irgendetwas? Etwas Wichtiges, was auch ich wissen müsste. Erzähl es mir. Erzähl mir bitte alles. Ich flehe dich an.“
Sie kniete vor ihm, hielt jedoch seine Hände immer noch fest.
„Ich weiß es auch nicht. Ich kann dir nicht sagen, wie ich auf diesen Gedanken komme. Er quält mich aber so. Die ganze Nacht habe ich an dich gedacht. Eine dumme Stimme sagt mir, dass ich dich verlieren werde.“
„So was Dummes…“
„Ja, dumm aber lästig. Ich möchte mit dir zusammen sein, Giovanna; sagen wir zum Abschied. Als Urlaubsgeschenk. Jetzt, sofort!“
Sie hatte nicht mehr die Kraft, ihm zu widerstehen. Sie war schwach. Viel zu schwach im Gegensatz zu ihm.
Während sie ihn stürmisch küsste, knöpften ihre Hände sein Hemd und die Hose auf. Als sie sich auf dem nackten Boden liebten, wusste Warren, dass er diese junge, hübsche Italienerin, mit der er etliche Male schöne Momente erlebt hatte, nie wiedersehen würde.
- T E I L II –
Das skrupellose Komplott