Читать книгу Der Betrug - Ali Erbas - Страница 5
- KAPITEL 3 -
ОглавлениеWashington DC (USA). Bereits am selben Abend saß der Geschäftsführer des ITMC Timothy J. Warren in einer neueren Maschine der American Airlines in Richtung Washington. Gleich nach dem Treffen mit dem Bundesinnenminister Bertram ließ er sich von seinem Chauffeur zum Franz-Josef-Strauß-Flughafen fahren und passierte die Passkontrolle problemlos und vor allem ohne Wartezeit über den VIP-Eingang. Er gehörte zu den letzten Passagieren, die in die Maschine einstiegen. Der freundlichen Begrüßung durch das Bordpersonal entgegnete er nur mit einem kurzen Kopfnicken.
Warren flog wie immer first-class im Oberdeck des Airbus A380. Geld spielte für ihn gerade als Vorsitzender des ITMC keine Rolle. Zudem wurden ihm sämtliche Reisekosten von der Gesellschaft zurückerstattet. Er legte seine lederne Aktentasche, die voll mit diversen Berichten und Computerausdrucken war, ins Gepäckfach und machte es sich in dem Sessel bequem, auf dem ohne weiteres noch eine Person ausreichend Platz gehabt hätte. Er drückte auf einige Knöpfe und brachte die Position der Lehne in die für seinen Rücken angenehmste Lage.
Die junge Stewardess mit mandelförmigen Augen und dünnen bogenförmigen Augenbrauen wartete anscheinend darauf, bis er seine optimale Sitzposition gefunden hatte. Prompt stand sie strahlend neben ihm und fragte mit einer angenehmen Stimme, ob sie ihm etwas zu trinken bringen durfte. Er brauchte nicht lange zu überlegen und bestellte bei ihr gleich einen Whisky mit wenig Eis und dazu etwas Knabberartikel.
Nun drückte er erneut auf einige Knöpfe an der Armlehne und brachte den Sitz in eine halb liegende Position. Über einen anderen Knopf schaltete er den Fernseher ein. Das Bild auf dem kleinen Monitor flackerte bei jedem neuen Tastendruck für einige Sekunden und stellte sich automatisch auf scharfe Konturen ein.
Warren hasste diese Zeitinterwalle, die der Fernseher zum Programmwechsel benötigte. Für ihn spielte jede Sekunde eine immense Rolle.
Die Stewardess brachte ihm ein Glas mit Whisky und eine Schale mit einer Nussmischung und stellte sie auf den Tisch, den sie zuvor aufgeklappt hatte. Er dankte ihr, ohne seine Augen vom Bildschirm zu nehmen, und schwenkte das Glas solange, bis er die erfrischende Kälte der langsam schmelzenden Eiswürfel in seiner Hand spürte. Den ersten Schluck ließ er eine Zeitlang im Mund kreisen, um seine Zunge mit dem Whiskygeschmack einzustimmen, als tränke er einen kostbaren Wein. Während die Flüssigkeit im Mund langsam in den Magen floss und eine wohltuende Wärme hinter dem Brustbein auslöste, nickte er zufrieden mit dem Kopf, denn der Whisky schmeckte nicht, wie er befürchtet hatte, nach einem billigen Fussel.
Als auf dem Monitor die Szene eines Westerns aus den früheren Jahren erschien, übertraf seine Freude jede Erwartung. Er hatte die wichtigsten Sachen zur Entspannung: Whisky und Western.
Warren liebte Western. Über 80 Prozent seiner immensen DVD-Sammlung bestand aus Westernfilmen, wobei er allerdings aus Mangel an Freizeit die meisten von ihnen kein einziges Mal gesehen hatte.
Er ließ das Abendessen ausfallen und begnügte sich mit Whisky. Irgendwann spürte er die Wirkung des Alkohols. Wie viel Whisky er inzwischen getrunken hatte, wusste er selbst nicht. Eine angenehme Müdigkeit übermannte ihn, sodass sich sein durchtrainierter Körper so schwer wie Blei fühlte. Seine Augenlider fielen wie zwei Vorhänge nach unten, als würde ein schweres Gewicht an ihnen hängen und sie nach unten ziehen. Seine roten Augen verschwanden unter beiden Lidern.
Seine Hand wanderte schlaff auf den Knöpfen an der rechten Armlehne und drückte auf Gutglück herum. Erst beim vierten Knopf gelang es ihm, seinen Sitz in eine Liegeposition zu bringen.
Eine Weile hatte er das Gefühl, dass die Maschine an Höhe verlor und in der Luft schwebte. Sein Gehirn schaltete das Denkzentrum aus und machte schon Feierabend. Der Körper entspannte sich und die Muskelgruppen legten ihre Kontraktionsfähigkeit ab. Dieser Schwebezustand dauerte nicht einmal zehn Sekunden und er begann, mit leicht offenem Mund leise zu schnarchen.
Der Beamte in dem VIP-Schalter des Washingtoner Flughafens kannte Warren anscheinend recht gut, sodass er ihn freundlich grüsste und blindlings in seinen Pass den Einreisestempel setzte.
Diesen VIP-Schalter schätzten die Geschäftsleute, die das Glück hatten, ein VIP zu sein, besonders, da sie die Passkontrolle ohne Wartezeiten schnell passieren und kurz danach den Washingtoner Flughafen verlassen konnten. Während die anderen Passagiere in den langen Schlangen teilweise über eine Stunde warten mussten, konnten diese begnadeten Leute ihrer Arbeit oder sonst was sofort nachgehen.
Warrens Reisetasche kam als erste auf dem Gepäckband, sodass er sie herunternahm und ohne Zeit zu verlieren, den Flughafen verließ. Er fuhr in einem frisch geputzten Taxi direkt in das Fünf-Sterne-Hotel The Fairfax at Embassy Row an der Massachusetts Avenue. Das Hotel gehörte zu den besten Washingtoner Hotels und bot eine unbeschreibliche Eleganz und Pracht. Die luxuriös ausgestatten Zimmer und Suiten boten eine bezaubernde Aussicht auf Embassy Row, die National Cathedral oder das Washington Monument.
Warren fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. Kaum schloss er die Tür seines Hotelzimmers auf, spürte er eine Vibration direkt über seinem Herzen. Kurz danach folgte der Klingelton der Filmmusik „The good, the bad and the ugly.“ Wie oft er diesen Film angeschaut hatte, wusste er selbst nicht. Und jedes Mal hatte er das Gefühl, er würde ihn zum ersten Mal sehen.
Er nahm das silbern glänzende Mobiltelefon aus der Innentasche seines beigefarbenen Sakkos und warf einen schnellen Blick auf das Display. Es handelte sich um eine Spezialnummer, deren Besitzer man einfach nicht warten lassen durfte. Daher warf er seine Reisetasche wie einen wertlosen Sack geschwind auf den Boden und drückte hastig auf die grüne Taste, um das Gespräch entgegenzunehmen.
„Guten Abend, Sir“, sagte er in einem freundlichen Ton. Sein Hals fühlte sich nach vielen Whiskys ziemlich trocken.
„Sind Sie gut angekommen?“, fragte eine männliche Stimme, die streng und ziemlich harsch klang.
„Ja, Sir, vielen Dank für die Nachfrage. Wie geht es Ihnen Sir?“
Der Mann am anderen Ende der Leitung reagierte nicht auf Warrens Frage und tat so, als hätte er sie nicht gehört. Seine Sprache hatte einen überheblichen Ton und jeder Satz klang wie der ungestüme Befehl eines gnadenlosen Guerillakämpfers, der seine Anhänger kommandierte.
„Ich erwarte Sie morgen punkt 10 Uhr in meinem Büro.“
„Kommt Daniel auch?“
Warren wusste, dass er auch auf diese Frage keine Antwort erhalten würde. Trotzdem versuchte er es und stellte sie seinem Gesprächspartner. Es hätte ja sein können, dass er zu seiner Überraschung doch noch eine Antwort bekam.
Doch keine Überraschung.
„Dann bis morgen. Schlafen Sie gut.“
Und die Leitung war tot.
Warren schmunzelte und schüttelte den Kopf. Er kannte seinen Gesprächspartner zu gut. Seine Menschenkenntnis bestätigten wieder einmal, dass er sich stets auf sie verlassen könnte.
„Unverbesserlich… Wie immer! 1:0 für mich mein Freund. Du musst schon aufpassen“, ging ihm durch den Kopf.
Er nahm seine Tasche in die Hand und steckte die als Türöffner dienende Magnetkarte in den Schlitz einer oberhalb der Klinke angebrachten cremefarbenen Box. Ein rotes Lämpchen unterhalb des Schlitzes begann zu blinken. Er achtete überhaupt nicht darauf und drückte vergeblich auf die Türklinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er wurde ungeduldig. Er begann über die moderne Technik zu schimpfen; das tat ausgerechnet der geschäftsführende Vorsitzende des ITCM, das ohne die moderne Technik einem Auto ohne Motor ähnelte.
Erst bei seinem dritten und letzten Versuch blinkte das Lämpchen grün und die Tür ließ sich doch noch öffnen. Sobald er das Zimmer betrat, schaltete er alle Lichter ein und inspizierte die Räume, wie ein Detektiv, der nach Wanzen oder anderen Abhöranlagen suchte, auch wenn er keine Ahnung davon hatte.
Er konnte sich nicht erinnern, dass er irgendwann, daran glaubte er zumindest, überhaupt abgehört worden war; es gab ebenso keine Drohungen oder Anschläge. Trotzdem steckte in seinem Inneren ein merkwürdiges Gefühl des Misstrauens und krankhaft gesteigerter Vorsicht.
„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Diesen Spruch brannte er sich in sein Gedächtniszentrum ein, sodass er wie eine Leuchtreklame vor seinen Augen vorbeizog, sobald er ein Hotelzimmer betrat oder mit einer neuen Tätigkeit begann. Er öffnete jeden Brief vorsichtig, beobachtete beim Einkaufen oder beim Spazieren die Umgebung genauer und ging nur in Restaurants, die er gut kannte. Dort wurde ihm ein Stammtisch zugewiesen, von dem aus er alle Gäste sehen und auch beobachten konnte.
Gegenüber den wiederkehrenden Gedanken, er könnte verfolgt, bedroht, vielleicht sogar entführt werden, war er machtlos. Obwohl er mit seinem Namen weder als Politiker noch als Diplomat irgendwelche Schlagzeilen machte, spielte seine wichtige Position bei ITMC bei den vom Verfolgungswahn herrührenden Vorsichtsmaßnahmen sicherlich eine nicht unerhebliche Rolle.
Nachdem er seinen quälenden Instinkt von der Sicherheit des Hotelzimmers und der fehlenden Abhöranlagen überzeugt hatte, atmete er erleichtert tief durch und schritt zum riesigen Fenster, von dem aus er einen herrlichen Blick auf die National Cathedral hatte. Der Bau dieser sechstgrößten Kathedrale der Welt, immerhin die zweitgrößte in den USA, begann am 29. September 1907 in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt. Diese episkopale Kathedrale wird als das Nationale Haus des Gebets der USA bezeichnet und ist sowohl der Amtssitz des Leitenden Bischofs (Presiding Bishop) der Episkopal-Kirche in den USA, als auch des Bischofs der Episkopal-Diözese von Washington.
Warren betrachtete eine Zeitlang die Menschen, die in die Kathedrale gingen. Die meisten Besucher bildeten ältere Leute und Angehörige der dunkleren Nation. Als eine große japanische Touristengruppe hinter einer hochgewachsenen Frau, die eine rote Fahne hochhielt, hineinging, kehrte er ins Zimmer zurück und packte seine Tasche aus. Obwohl er fast während der gesamten Flugdauer geschlafen hatte, überkam ihn eine plötzliche Müdigkeit. Er gähnte mehrmals hintereinander, sodass er auf seinen Plan, für einen Drink in die Bar zu gehen, verzichtete und entschied sich fürs Bett.
Am nächsten Tag wachte er relativ früh auf und sprang sofort aus dem Bett, obwohl er erst um zehn Uhr verabredet war. Er begann mit der Morgengymnastik. Nach fünfzig Liegestützen und fünfzig Situps ging er ins Bad und rasierte seinen Stoppelbart mit dem Elektrorasierer, den er erst vor zwei Wochen gekauft hatte. Er fuhr mit der Innenfläche der rechten Hand immer wieder über sein Kinn und suchte nach Stellen, die noch kratzten. Nach fünf Minuten fühlte sich seine Haut weich und glatt, wie bei einem Baby. Anschließend sprang er in die Badewanne und lag mindestens eine halbe Stunde in der angenehm warmen Flüssigkeit, aus der das Moschusparfüm seinen dezenten Duft empor schickte.
Beim Anziehen des nadelgestreiften Anzuges pfiff er fröhlich die gleiche Melodie wie bei seinem Handy „The good, the bad and the ugly.“
Er nahm den Lift und fuhr in das Foyer. Normalerweise benutzte er keinen Lift, hatte aber gerade an diesem Tag keine Lust vom dritten Stock, in dem sich sein Zimmer befand, herunter zu laufen.
Das Schild mit der Aufschrift „Breakfast” links neben der Rezeption fiel ihm sofort auf. Es zeigte in einen hell beleuchteten Korridor. Die Frau, eine Asiatin, am Eingang des Frühstückssaals wünschte ihm einen guten Morgen und erkundigte sich nach seiner Zimmernummer. Sie markierte die Nummer auf ihrer Liste mit einem schwungvollen Häkchen. Kaum schritt er in den nach frischem Brot und Kaffee duftenden Frühstücksraum, so wurde er von einer ziemlich jung aussehenden Frau mit blasser Haut gebeten, ihr zu folgen. Sie geleitete ihn zu einem Tisch in unmittelbarer Nähe des Buffets, dessen Reichtum an vielfältigen Angeboten die Diätpläne mancher Gäste sicherlich zum Scheitern führte.
Warren bestellte bei der Dame gleich einen doppelten Espresso und die Tageszeitung Washington Post. Sie dankte ihm mit einem freundlichen Lächeln, eilte zu einer Kollegin mit breiten Hüften und gab ihr die Bestellung weiter.
„Das ist ja wie beim Militär“, dachte er, „jeder Befehl wandert von oben nach unten.“
Er holte vom Frühstücksbuffet eine Vollkornsemmel, ein paar Scheiben Käse, Wurst und etwas Obst. Er stellte den Teller auf den Tisch und ging zu den Köchen, die in ihren Pfannen diverse Omeletts herstellten. Er bestellte bei einem kleinen Mann mit kurzen grauen Haaren ein Omelett mit Pilzen, Speck und Zwiebeln. Als er zu seinem Tisch zurückkam, sah er, dass die Dame seinen Espresso und die Zeitung bereits auf dem Tisch abgestellt hatte. Während des Frühstücks blätterte er in der Zeitung und überflog die Überschriften und die fettgedruckten Zeilen, fand aber keinen Artikel bzw. keine Nachricht, die ihm als lesenswürdig zu sein schien. Daher ersparte er sich den Rest des Textes. Die Seiten mit den Wirtschaftsnachrichten ließ er gänzlich aus. Die aktuelle Situation kannte er ja bestens. Er steckte schließlich selbst in diesem Zweig darin.
Er schaute auf seine Uhr, eine Rolex mit goldenem Rahmen, die jetzt mehr als das Doppelte des vor Jahren von ihm gezahlten Preises kostete. Sie zeigte 9.20 Uhr; die rechte Zeit aufzubrechen.
Er trat hinaus auf die Straße.
Der Himmel war leicht bedeckt. Die Wolken schoben sich im Zuge des Windes und ließen gelegentlich die Sonnenstrahlen durchscheinen.
Das hektische Treiben der Menschen überraschte ihn nicht. Denn in London sah es vor allem morgens nicht anders aus.
Der Portier, ein älterer Mann mit einem müden Gesicht, der in seiner Uniform wie ein strenger Offizier aussah, fragte ihn, ob er ihm ein Taxi bestellen durfte. Ein kurzes Kopfnicken reichte völlig und das Taxi stand schon vor ihm. Der Portier hielt ihm die Tür solange auf, bis Warren auf dem Rücksitz bequem saß. Trinkgeld gab es keins.
„Wo geht es bitteschön hin?“, fragte der Taxifahrer, der sich bereits in den dichten Verkehr eingereiht hatte.
„Zum Weißen Haus“, murmelte Warren.
„Entschuldigung?“
Warrens Blicke begegneten im Rückspiegel den Augen des Taxifahrers, die ziemlich überrascht wirkten. Er hatte bis jetzt noch nie einen Fahrgast ins Weiße Haus befördert.
„Zum Weißen Haus bitte“, wiederholte Warren, diesmal etwas lauter und deutlicher.
Der Taxifahrer nickte mit dem Kopf und betrachtete seinen Fahrgast eingehend im Rückspiegel. Während der gesamten Fahrt dachte er über das Gesicht seines Fahrgastes nach. War er ein bekannter Mann, den er kennen musste? Ein Minister vielleicht? Sollte er mit ihm ein Gespräch anfangen und ihn einfach danach fragen? „Lieber nicht“, dachte er. Ihm fiel prompt der Lieblingsspruch seines Vaters ein. Zuviel Neugier könnte schlimme Folgen haben. Also, still sein und sich auf die Fahrt konzentrieren.
Zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin hielt das Taxi vor dem Weißen Haus an. Mehrere Schilder wiesen auf das Parkverbot hin.
„Das macht 18,90 Dollar.“
Warren streckte ihm zwei Zehndollarscheine.
„Den Rest können Sie behalten.“
Er stieg aus dem Taxi und marschierte zum südlichen Nebeneingang.
Eine Schar von schwer bewaffneten Sicherheitsbeamten stand schussbereit und observierte jede Person genauer, die sich ihnen näherte.
Er legte seinen Ausweis, den er bereits vorher aus seinem Portemonnaie herausgeholt hatte und nun in der Hand bereithielt, einem korpulenten, aber ziemlich athletisch aussehenden Soldaten mit schwarzer Hautfarbe vor, der mindestens zwei Meter maß und mehr wie ein Riese wirkte, als ein einfacher Wachposten. Die anderen drei Soldaten, die Warren misstrauisch beäugten, sahen nicht anders aus.
Warren fröstelte schon beim Anblick seines scharfkantigen, ernsten Gesichtes, auf dem nicht die Spur einer Freundlichkeit zu entdecken war. Er dachte kurz an einen Henker, der sein Beil, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den Hals eines Menschen fallen ließ und anschließend den abgerissenen Kopf den Zuschauern vorführte.
„Kann ich Ihnen helfen“, brummte der Riese und musterte ihn von oben herunter mit kritischen Augen, als handelte es sich bei Warren um einen kleinwüchsigen Mann, der nichts Anderes war als ein Störfaktor. Er stand auf den gespreizten Beinen wie ein Cowboy, der bei einem Duell jederzeit seine Pistolen ziehen konnte. Seine Stimme klang seinem Gesicht passend unheimlich. Beängstigend.
„Ja… Ich habe um zehn Uhr einen Termin beim Vizepräsidenten Ronald G. Slawish.“
Warrens Stimme wirkte schwach und unsicher.
„Warten Sie hier!“ Brummte der Riese. Es klang mehr nach einem militärischen Befehl zum Angriff als eine Bitte oder Empfehlung.
Der Wachmann verschwand mit Warrens Ausweis in der Hand in einem der Wachhäuschen, an dessen Dach mehrere Überwachungskameras die Gegend akribisch durchsuchten. Einer der drei Wachmänner stellte sich unmittelbar vor Warren, damit er nicht auf die Idee kam, einige Zentimeter näher zum Eingang zu kommen. Die anderen Zwei setzten mit ihren Maschinengewehren im Anschlag die Patrouille fort.
Nach knapp zwei Minuten kam der Riese heraus und händigte Warren seinen Ausweis aus, ohne den Mund aufzumachen. Warrens Freude kletterte prompt nach oben, dass seine Ohren von der beängstigenden Stimme verschont blieben.
Der Wachmann, dem an seiner Brust hängenden Schild nach Addison hieß, deutete Warren mit der Hand, ihm zu folgen. Beide traten in das nächste größere Wachhäuschen ein, in dem zahlreiche Monitore, Computer, Drucker und Geräte vorhanden waren, die Warren nichts sagten. Es roch eigenartig; ein Hauch von verbranntem Gummi.
Addison händigte Warren einen Stift ohne Mine und eine Tafel, die nichts anderes war, als eine getönte Scheibe aus Glas. Ein dünnes Spiralkabel verband den Stift mit der Tafel.
Warren trug die angeforderten Daten, wie Nach- und Vornamen, Adresse, Beruf, den Namen der zu besuchenden Person und den Grund seines Besuches in die vorgesehenen Felder ein. Seine Blicke wirkten ziemlich überrascht, als er jede Eintragung sofort auf einem der Monitore sehen konnte.
Kaum schrieb er den letzten Buchstaben auf, so wurde er diesmal von einem anderen Riesen, diesmal allerdings von einem Weißen mit goldgelben Haaren, vor eine Digitalkamera geschoben.
„Der Präsident hat hier anscheinend lauter stumme Mitarbeiter“, ging ihm durch den Kopf. „Am besten sage ich ebenfalls nichts. Wer weiß, sie sind vielleicht auch noch taub.“
Der Blitz, der unmittelbar vor einem Klick leuchtete, war ziemlich hell und blendete ihn. Eine Aufnahme von vorne, eine von der rechten und eine von der linken Seite.
„Das war es“, dachte er zufrieden. Dass das Weiße Haus gut bewacht wurde, wusste er. Daran, dass ausgerechnet er aber solchen Sicherheitsmaßnahmen unterworfen werden musste, hätte er nicht einmal im Traum gedacht.
Die Wirkungen des starken Blitzes spürte er immer noch an den Augen. Er hob seine rechte Hand, um sie zu reiben.
Prompt hielt der blonde Riese seine sich zu den Augen bewegende Hand fest und drückte sie nach unten. Unter Warrens überraschten Blicken packte er seinen rechten Daumen und ließ ihn auf einem farblosen Stempelkissen rollen. Anschließend fuhr er mit einem Scanner darüber. Der Daumen begann in Violett zu fluoreszieren. Warren konnte den komplizierten Verlauf der Linien auf dem Monitor sehen. Danach dieselbe Prozedur auch mit dem linken Daumen.
Nun hatte er es endlich überstanden.
Beim Verlassen des Häuschens erhielt er von einem dicken Mann mit Adleraugen einen Lanyard mit einem daran baumelnden Besucherausweis. Auf der gesamten Länge des Lanyards stand in Großbuchstaben der sich wiederholende Aufdruck
„WHITE HOUSE – VISITOR“
Warren stülpte das Band über den Kopf und platzierte es am Hals, sodass der Ausweis auf seiner Brust herunterhing. Er wandte seine Blicke zu dem Riesen, der kein Zentimeter von seiner Nähe ausgewichen war, und ließ sie für sich sprechen: „Und was nun?“
Zu Warrens Überraschung schien Addison, der Riese, seine Blicke richtig gedeutet zu haben. Denn er hob seine rechte Hand und deutete ihm mit einem Stoppzeichen zu warten.
Es verging kaum eine Minute, da traten zwei Wachmänner mit Maschinengewehren ein. An ihrem Hosenbund baumelten noch einige Waffen.
„Würden Sie uns bitte folgen?“, sprach der kleinere von beiden, der mit etwa 1.80 neben seinem Kameraden wie ein Kind aussah.
„Ein Wunder ist geschehen. Ein Wunder. Sie können doch reden!“, schoss Warren durch den Kopf. Er musste lachen, unterdrückte es jedoch rechtzeitig, sodass es nur bei einem Lächeln blieb. Er wusste, dass ihm eigentlich nichts passieren konnte; sich aber unnötig Ärger einhandeln? Nein, das wollte er auf keinen Fall.
„Wollten Sie etwas sagen?“, fragte diesmal der größere von beiden und betrachtete Warren mit einem strengen Blick. Warren schauderte wieder.
„Nein, nein… Wieso fragen Sie?“
„Sie lachen.“
„Entschuldigen Sie. Ich habe nicht gelacht, sondern nur gelächelt.“
Der Mann schüttelte genervt den Kopf, sagte aber nichts. Warrens Gesichtsmimik verriet Erleichterung.
Die Schritte von Warrens Begleiter hallten auf dem Marmorboden in einem Rhythmus, der nach einem Militärmarsch erinnerte. Obwohl sie nur zu zweit waren, spürte er wie der Boden mit jedem Schritt vibrierte.
In dem Gang zum Zimmer des Vizepräsidenten hatte Warren nicht die Gelegenheit, die teuren, antiken Möbel zu bewundern. An den Wänden hingen riesige Ölbilder von früheren US-Präsidenten. Er brauchte sie nicht näher anzuschauen. Denn er kannte ihre Namen und von manchen sogar die Zeiten, von wann bis wann sie das Präsidentenamt innehatten.
Einer seiner Begleiter klopfte an einer mit Schnitzereien verzierten Tür.
„Kommen Sie rein, Warren!“, brüllte eine Stimme von innen.
Warren trat ein und wurde mit einem ungeduldig wirkenden Vizepräsidenten konfrontiert.
„Wo waren Sie denn die ganze Zeit?“, fragte Ronald G. Slawish, der gleichzeitig Wirtschaftminister war, unfreundlich und hielt ihm seine teure Uhr, eine Rolex Oyster Perpetual, vor die Nase.
„Diese Frage sollten Sie lieber Ihren Gorillas stellen, Herr Vizepräsident. Ich wurde nicht einmal bei meiner Einreise nach Israel so intensiv durchleuchtet.“
„Was möchten Sie damit sagen?“
„Nur das, was ich eben gesagt habe. Ich bin froh, dass Ihre Gorillas zumindest meine Prostata in Ruhe gelassen haben. Ach übrigens, Sie haben eine schöne Uhr. Sie gefällt mir sehr gut.“
„Reden Sie kein dummes Zeug, Warren. Kommen Sie mit in mein Büro.“
Der Vizepräsident ging mit schnellen Schritten vor und Warren folgte ihm.
Das Büro des Vizepräsidenten war geräumig und geschmackvoll eingerichtet. In jeder Ecke stand eine golden glänzende Vase mit getrockneten Blumen. Hinter dem Schreibtisch aus Mahagoni hing eine große US-Amerikanische Fahne an einem Standmast.
„Hallo, Timothy“, sagte der Mann, der auf dem Sofa saß und in der rechten Hand ein Glas Whisky mit Eiswürfeln hielt.
Warren kannte die Stimme bestens. Er strahlte. „Hallo, Daniel. Schön dich zu sehen, altes Haus.“ Er umarmte den CIA - Chef Daniel Mitchum, der mit ihm zwar gleichaltrig war, aber wesentlich älter aussah. „Wie geht es dir, Alter?“
„Mittelmäßig gut bis mittelmäßig schlecht. Ich würde sagen, einfach den Umständen entsprechend. Dafür siehst du aber prächtig aus. Anscheinend bekommt dir das englische Essen gut.“
„Ich kann mich nicht beklagen. Wie geht es deiner Familie? Möchte dein Sohn immer noch Bankräuber werden, wenn er erwachsen ist?“
„Was denkst du denn? Jetzt kommt es noch schlimmer…“
„Und zwar?“
„Auch meine Tochter möchte nun Bankräuberin werden und ihren Bruder begleiten. Sie möchten zusammen eine Bande gründen. Frage mich bitte nicht, wie die beiden auf diese Schnapsidee kommen. Ich habe einfach keine Erklärung dafür.“
„Der Apfel fällt doch nicht weit vom Stamm. Was soll ich dazu sagen. Ich wusste schon immer, dass deine Kinder eine hundertprozentige Kopie von dir sind.“
Mitchum kam nicht dazu, Warren zu antworten.
„Setzen Sie sich hin Warren“, unterbrach der Vizepräsident das Gespräch mit einem Brüllen eines hungrigen Löwen. „Möchten Sie auch einen Whisky? Als Alternative kann ich Ihnen Wasser anbieten?“
„Wenn Sie mich vergiften wollen, dann bitte ein Glas Wasser.“
„Sie waren anscheinend viel zu lang in der Sonne, Warren.“
Der Vizepräsident ging zur Schrankwand, die aus demselben Holz geschnitzt war wie der Schreibtisch, und öffnete eine Tür. Das Licht in dem Fach ging an und mehrere Flaschen wurden sichtbar. Manche von ihnen waren noch nicht einmal angebrochen. Einem Eiskübel entnahm er drei Eiswürfel und warf sie in ein Glas. Dann kippte er großzügig Whisky darauf.
Warren konzentrierte sich auf die Whiskymarke, konnte sie allerdings nicht sehen. Er nahm neben Daniel Mitchum Platz, dessen Augen gerötet und müde aussahen.
Warren und Mitchum stammten aus einem Vorort von Cleveland im Bundesstaat Ohio. Alle Schulklassen bis zur Hochschule besuchten sie gemeinsam und wurden so die besten Freunde. Erst im College trennten sich ihre Wege. Der Kontakt zwischen ihnen aber ebbte niemals ab. Sie telefonierten oder mailten regelmäßig miteinander.
Warren studierte Wirtschaftspolitik in Chicago, IL, und Mitchum Politikwissenschaften in San Fransisco. Mitchum ging gleich nach dem Studium in den Staatsdienst und kletterte die berufliche Leiter mit großen Schritten ziemlich schnell nach oben, während Warren immer dem Geld hinterherjagte. Er ging mit sich selbst sehr streng um und arbeitete hart, sodass er bald einen Namen als Wirtschafts- und Finanzexperte machte. Sein Freund Daniel Mitchum besorgte ihm zusätzlich die besten Kontakte, sodass er nicht nur einige Politiker, Senatoren und Diplomaten, sondern auch manche Minister kennen gelernt hatte. Er verpasste keine einzige Einladung der Leute, die in den USA etwas Macht besaßen. Besonders gerne nahm er an Cocktails und Partys teil, auf denen sich ein Staatsmann unter den Gästen befand. Das Glück begleitete seine Karriere und so lernte er den amerikanischen Vizepräsidenten Slawish kennen, der laut Meinung aller Medien und Experten ohne Zweifel die größten Chancen hat, als nächster US-Präsident gewählt zu werden.
„So, Warren, was haben Sie zu berichten?“, meldete sich der Vizepräsident erneut, der den Whisky statt Eis mit Soda trank.
Slawish wirkte wie ein unruhiger Geist. Seine Beine waren andauernd in Bewegung, als würde er sich vor einem wichtigen Match warm machen. Die grau melierten Haare wirkten, obwohl er erst vor einer Woche 65 wurde, voll und kräftig, wie bei einem jungen Menschen. Auch seine Augen verloren in all den Jahren gar nichts an Sehkraft, sodass er ohne Brille sowohl die Nähe als auch die Ferne gleich gut sehen konnte.
Warren holte tief Luft und begann zu berichten: „Es gibt weltweit eine bedrohliche Wirtschaftsrezession, deren Ende in ferner Zukunft zu sein scheint. Sie ähnelt einer Wüste ohne Oase, die jeden Tropfen Wasser im Bruchteil einer Sekunde verschluckt. Unsere hoffnungsvollen Investitionen haben über vierzig Prozent an Wert verloren. Die Kaufkraft des Dollars geht mit jedem Tag eine Stufe herunter in den Keller. Der Abwärtstrend des Dollars gegenüber Euro oder Yen ist nicht zu bremsen, obwohl die wirtschaftliche Lage sowohl in Europa als auch im fernen Osten nicht rosiger aussieht, als bei uns…“ Warren legte eine kleine Verschnaufpause und trank schnell einen Schluck aus seinem Glas. „…bis auf Deutschland. Die Deutschen stehen mit ihrer Wirtschaft noch gut. Sie sind eisern und lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen. Ob Sie allerdings ihre Stabilität länger aufrechterhalten können, vermag ich zu bezweifeln. Die Autoindustrie steht besonders in unserem Lande fast still. Das Interesse an Gold, Platin oder Diamanten ist auf der ganzen Welt enorm gesunken und spielt im Handel kaum noch eine Rolle. Die großen Banken horten vor lauter Angst das Geld und betätigen kaum noch Investitionen. Einige von ihnen, die ich eigentlich eher zu den Mittelständischen zählen würde, stehen sogar kurz vor dem Aus. Man hat das Gefühl, dass bald der dritte Weltkrieg ausbricht. Das ist nur ein Trugschluss. Die Realität zeigt genau das Gegenteil. Die Krise zwingt viele Staaten zu einem grundlegenden Umdenken. Sie suchen nach neuen Wegen. Und dieser neue Weg heißt Frieden; ein globaler Frieden. Das macht sich vor allem im nahen Osten bemerkbar. Stellen Sie sich vor, Herr Vizepräsident, sogar die Israelis, Sie haben sich keinesfalls verhört! Ja, sogar die Israelis möchten sich nun mit den Palästinensern verbünden und gemeinsam einen neuen Staat gründen. Ein Land, in dem es keine Kriege mehr gibt, sondern nur noch Frieden. Können Sie sich es vorstellen? Die OPEC-Staaten haben ihre Ölförderung gedrosselt und...“
Warren sprach schnell wie ein Schüler, der seinen Text auswendig gelernt hatte und diesen in kürzester Zeit loswerden wollte. Die Mimik des Vizepräsidenten änderte sich nach jedem Satz, mehr oder minder. Er wirkte nachdenklich. Als er das Wort OPEC hörte, hielt er plötzlich inne und unterbrach Warren mitten im Satz.
„Was ist mit den Russen? Wie schaut es mit unseren russischen Freunden aus?“
Warren wirkte durch seine Bemerkung überrascht. „Seit wann sind denn die Russen unsere Freunde?“, hätte er am liebsten gefragt, fand aber bei sich doch nicht den entsprechenden Mut. „Den Russen geht es nicht viel besser. Sie haben den Verbrauch der Konsumgüter drastisch heruntergefahren. Der Import wurde auf ein Minimum gesenkt. Sie versuchen, ihre Reserven an Öl, Gas und anderen Handelsobjekten für schlechtere Zeiten aufzuheben. Sie hoffen natürlich, irgendwann den entscheidenden Schachzug zu machen und den Preis denjenigen Ländern, die von ihnen abhängig sind, ohne wenn und aber selbst zu bestimmen. Sie denken an so eine Art Monopolstellung. Sie haben bereits vor einigen Monaten den Gashahn zugedreht. Ganz Europa befindet sich in einem Aufruhr. Alleine in ITMC machen wir täglich Millionen von US-Dollar Miese. Das Haus können wir trotz massiver mathematischer Akrobatik kaum noch halten.“
Der Vizepräsident stand vor der Glastür, die zum Garten führte, und schaute heraus.
Eine riesige Wolke zog vorbei und gab den Weg für die Sonnenstrahlen frei. Sie schienen auf den frisch gemähten Rasen und ließen den Garten intensiv grün leuchten.
Eine Amsel mit einem Büschel von Halmen im Schnabel flog dicht an der Scheibe vorbei.
Slawish drehte sich mit einer flinken Bewegung zum CIA-Chef Daniel Mitchum, der gerade sein Glas ausgetrunken hatte.
Mitchum war ein zierlicher Mann mit forschen neugierigen Augen. Durch sie erweckte er bei allen Leuten das Gefühl, nicht nur über alles Bescheid zu wissen, sondern auch alles unter Kontrolle zu haben. Den größten Teil seines Erfolges verdankte er diesen apodiktischen Blicken, die bei seinen Gesprächspartnern automatisch eine gewisse Unsicherheit auslöste.
„Das, was Warren gesagt hat, kann ich nur bestätigen“, sagte Mitchum, der den Blick des Vizepräsidenten so gut kannte, dass er sofort wusste, wann er reden bzw. schweigen sollte. Mit einem leisen Räuspern klärte er schnell seinen Hals und fuhr dann gleich fort. „Wir haben inzwischen sichere Informationen über die Existenz eines Plans, der vorsieht, dass die afrikanischen Staaten nur untereinander Geschäfte bzw. Handel betreiben werden. Hierzu soll jede erdenkliche Erleichterung von allen ratifizierenden Staaten ermöglicht werden. Im Gegenzug dazu soll der Handel sowohl mit den außerafrikanischen Ländern als auch mit denjenigen innerhalb Afrikas, die nicht in dieser Handelsunion mitmachen, mit hohen Steuern und ewig dauernden bürokratischen Hürden geahndet werden.“
Mitchum legte eine künstliche Pause ein, die den Vizepräsidenten verunsicherte und, obwohl er Mitchum recht gut kannte, doch noch nervös machte.
„Ist es alles?“
„Nein, nein. Jetzt kommt der wichtigste Teil. Und zwar… dass der Initiator dieses teuflischen Planes unser geliebter Freund aus… Libyen ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.“
Die Augen des Vizepräsidenten traten hervor. Die Überraschung auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen. „Nein, unmöglich! Ich dachte, Kaddafi will sich langsam zu Ruhe setzen.“
„Das dachten wir zuerst auch. Er scheint zu unserer Überraschung seine zweite Jugend zu durchleben. Aber diesen Plan der afrikanischen Staaten könnte man als das kleinere Übel deklarieren.“
„Mir wird schlecht, wenn Sie so reden, Mitchum. Legen Sie lieber eine kurze Pause ein. Wollen Sie noch ein Glas?“, unterbrach ihn Slawish.
„Ja, gerne.“
„Sie auch, Warren?“
„Wenn es Ihnen keine Umstände macht, Mister Vizepräsident.“
Slawish bediente die beiden und füllte auch das eigene Glas nach.
„Danke, Mister Vizepräsident.“ Der CIA-Chef nahm sein Glas und schaute zum Vizepräsidenten hinauf, um ihm zu signalisieren, dass er mit seinem Bericht weiterfuhr. „Das größere Übel, das mir Kopfzerbrechen bereitet, ist der noch als topgeheim geltende türkische Plan.“
Mitchum wollte damit die eigene Arbeit würdigen, dass es dem CIA gelungen war, diesen als topgeheim geltenden Plan bereits zu kennen.
„Der türkische Plan?“, fragte Slawish völlig verblüfft.
„Ja, der Plan der Türken.“
„Sie sind doch unsere Verbündeten, unsere Freunde. Oder bin ich mit meinen Informationen nicht mehr auf dem aktuellsten Stand?“ Seine Stimme klang wuterfüllt.
„Doch, doch. Die Türken sind nach wie vor unsere Freunde. Es gibt allerdings ein türkisches Sprichwort, das besagt önce can, sonra canan.“
Die Verblüffung des Vizepräsidenten war nun komplett.
„Ich wusste nicht, dass Sie auch Türkisch sprechen.“
„Nur ein paar Wörter. Also, übersetzt bedeutet dieser Spruch, zuerst rette ich mein Leben und erst danach das meines Geliebten...“
„So ein verfluchter Angeber“, dachte Warren und schmunzelte.
Mitchum trank einen Schluck Whisky und setzte sein Gespräch fort: „Nun zu dem Plan der Türken. Die Türkei kontaktiert intensiv die islamischen Staaten. Sie will alle islamischen Länder unter einem Dach vereinen und eine so genannte islamische Handelsunion gründen, die ähnlich strukturiert ist wie die Europäische Union. Sie soll das Gegengewicht zur Europäischen Union werden. Falls dieser Plan realisiert wird, bedeutet es zweifellos das baldige Ende der Europäischen Union.“
Der Vizepräsident ging erneut zu der Glastür und betrachtete den Garten. Eine dunklere Wolke verdeckte die Sonne vollständig und der Rasen sah in dem grauen Licht traurig aus. Der Himmel verdunkelte sich rapide. Es roch nach Regen.
Im Raum herrschte eine tödliche Stille. Beide Männer, Warren und Mitchum nippten leise an ihrem Whisky.
Woran dachte wohl der Vizepräsident? An die nächsten Wahlen, deren Ergebnis bereits jetzt schon mit großer Wahrscheinlichkeit feststeht? Oder an einen Urlaub irgendwo im fernen Osten, weit weg von jeglichem Stress? Einen solchen Urlaub hatte er eigentlich schon längst verdient. Während der Präsident mehr als genug Urlaub machte und sämtliche Geschäfte und Entscheidungen ihm überließ, musste er im weißen Haus Tag und Nacht Stellung halten und immer zur Verfügung stehen. Es war klar, dass sein Job anstrengend war. Dafür hatte er aber alle Zügel in der Hand und der Präsident kaufte ihm jeden Käse als bare Münze ab.
Er drehte sich um und schritt nachdenklich zu seinem Platz hinter dem Schreibtisch. Er hob sein Glas, um einen Schluck zu trinken, verzichtete jedoch darauf und richtete Warren eine neue Frage, die eigentlich schon längst fällig war. „Sie haben doch den deutschen Innenminister getroffen. Was meint er?“
„Ach der…“, Warren grinste hämisch. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht viel von dem deutschen Innenminister hielt. „Der hat doch vom Tuten und Blasen keine Ahnung. Ich glaube, er kennt nicht einmal, die Farbe der eigenen Augen. Ich muss zugeben, dass er zwei Sachen hervorragend beherrscht: Nämlich Essen und Trinken. Daher wird er von Tag zu Tag fetter. Und wissen Sie, was sein Motto ist?“
Warren hielt inne und wartete. Slawishs strenger Blick ließ ihn doch weitersprechen. „Er sagt, wir sollen den Gürtel enger schnallen, sparen und auf Luxus verzichten. Stellen Sie sich es vor, Herr Vizepräsident, ausgerechnet er… Das nenne ich einen Hohn gegenüber dem Bürger. Er verdankt seine gesamte politische Karriere nur…“
„Warren, mich interessiert sein Aussehen einen Scheißdreck. Sagen Sie mir nur, was er über die ganze Lage denkt, ohne uns hier noch eine Modeshow zu präsentieren“, unterbrach ihn der Vizepräsident und tat so, als wäre er über Warrens Äußerungen verärgert.
„Entschuldigung. Ich dachte, ich könnte mit ein paar Wörtern über den deutschen Minister die Spannung in diesem Raum etwas mildern.“
„Warren!“, schrie Slawish; diesmal tatsächlich verärgert.
„Entschuldigung, Herr Vizepräsident. Der deutsche Innenminister möchte, dass wir das ITMC-Projekt aufgeben und es an Firmen, Banken, Geschäftsleute, kurz an Interessenten als Büroräume vermieten. Er ist davon überzeugt, dass wir mit den Mieteinnahmen irgendwann unsere Ausgaben…“
Der Vizepräsident ließ Warren wieder einmal nicht zu Ende sprechen und unterbrach ihn.
„Und unsere englischen Partner?“
„Sie schweigen. Bis jetzt habe ich von ihnen noch keinen Hinweis bzw. Vorschlag erhalten; weder konkret, noch diskret. Weder positiv, noch negativ. Ich glaube, sie warten darauf, dass wir ihnen einen konkreten Plan unterbreiten. Und aufgrund dieses Planes wollen sie entscheiden, ob sie mitmachen oder nicht. Sie kennen sie besser als ich. Bei allen entscheidenden Punkten warten unsere Freunde vorerst eine Weile. Danach suchen sie sich die Siegerseite und erklären sich voller Elan bereit, auf ihrer Seite mitzumachen.“
„Mensch Warren, wir machen hier keine politischen Analysen. Bleiben Sie sachlich und reden Sie nicht soviel. Was ist mit den Italienern? Haben Sie sie kontaktiert?“
Warren schwieg. Er betrachtete einen Augenblick sein Glas. Dann antwortete er leise.
„Nein… zumindest noch nicht.“
Der Vizepräsident versuchte sich zu beherrschen.
„Was heißt noch nicht? Was tun Sie denn den ganzen Tag in London?“
„Ich habe die Italiener aus den folgenden Gründen noch nicht kontaktiert …“
„Und zwar?“, griff der Vizepräsident mitten im Satz ein.
„Erstens ist die Einlage der Italiener bei ITMC relativ gering und zweitens, ich wollte nicht zuviel Wirbel verursachen. So wie die Lage aussieht, geht es den Italienern noch einigermaßen gut. Das heißt, sie können sich noch über Wasser halten. Man soll ja nicht alles verraten, nicht einmal seinen Partnern.“
„Gut gedacht Warren“, lobte ihn der Vize. Seine Mimik verriet jedoch nicht, ob er es ernst gemeint hatte.
„Danke Sir.“
Nach dieser Erklärung von Warren herrschte im Raum erneut eine Stille. Sie saßen wortlos auf ihren Plätzen und starrten auf die braune Flüssigkeit in den Gläsern, die ziemlich schnell zu verdunsten schien. Wie viel Whisky jeder Anwesende während dieses Meetings getrunken hatte, wusste keiner von ihnen.
Mitchum hob seinen Kopf hoch und blickte heraus. Ein kleiner Vogel draußen saß auf dem Ast eines mächtigen Baumes mit gelb-roten Blättern und pickte in einem hektischen Rhythmus auf die Rinde. Er fragte sich, wonach wohl dieser Vogel pickte.
Warrens Wangen glühten von dem Alkohol. Er zog schnell ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und fing einen von der Stirn herunterrollenden Schweißtropfen rechtzeitig auf, bevor dieser auf dem Boden landete.
Der Vizepräsident lockerte seine Krawatte und ging zum Regler der Klimaanlage. Er stellte die Zimmertemperatur um drei Grad kühler, ohne die beiden zu fragen. Kaum hatte er sich hingesetzt, so verließ er wie ein unruhiger Geist wieder seinen Sitz und marschierte erneut zu der überdimensionalen Glastür. Dass er Mitchum die Sicht nach draußen versperrte, fiel ihm nicht einmal auf.
Mitchum schmunzelte über Slawishs Verhalten. „Schade, dass unser Vize nicht aus Glas besteht“, schoss ihm durch den Kopf.
Die Wolken über Washington beherrschten nun den ganzen Himmel und wechselten ständig ihre Form. Sie bildeten pausenlos neue, bizarre Gestalten. Slawish glaubte, zwischen den Wolken das Bild eines Löwen zu entdecken. Er schaute genauer hin und verfolgte ihre Bewegungen. Mit dem Vorbeiziehen der grauen Wolken löste sich der Löwe langsam auf und verwandelte sich nun in eine pferdekopfähnliche Figur.
Das Dunkle am Himmel wurde drastischer. Ein Gewitter befand sich im Vormarsch. Die ersten Tropfen landeten schon auf der Glasscheibe.
„Wie hoch ist die Versicherung?“, fragte Slawish ohne sich umzudrehen, als würde er mit seinem Spiegelbild am Glas sprechen.
Warren und Mitchum blickten ratlos einander und dann auf den Rücken des Vizepräsidenten. Er stand regungslos vor der schalldichten und kugelsicheren Scheibe wie eine Statue. Seine breiten Schultern verliehen ihm etwas Überhebliches, Majestätisches.
„Wie hoch die Versicherungssumme ist, wollte ich wissen“, wiederholte er seine Frage. Diesmal sprach er etwas lauter und drehte sich blitzartig um, wie ein Cowboy, der gerade einen sich heranschleichenden Killer entdeckt und daraufhin seinen Revolver gezogen hatte.
Warren befand sich gedanklich nicht im Weißen Haus. Seine Gedanken beschäftigten sich, passend zu der letzten Drehbewegung des Vizepräsidenten, mit einem Western, in dem er selbst die Hauptrolle spielte.
Die Kamera zeigte ihn von hinten. Er marschierte mit sicheren Schritten auf dem sandigen Boden. Seine Revolver baumelten am breiten Ledergürtel im Rhythmus seiner Schritte nach vorne und zurück. Die lockeren Sporne an seinen abgetragenen Stiefeln schepperten wie Büchsen, die an einem Strang zusammengebunden waren. Hinten erschienen vier Banditen. Kaltblütig und skrupellos. Auf ihren Gesichtern breitete sich ein niederträchtiges Lächeln aus. Braune, faule Zähne wurden sichtbar. Sie blickten einander. Alle vier nickten im Sekundentakt mit dem Kopf. Erstes Nicken… das zweite… und beim dritten griffen sie nach ihren Revolvern.
Warren, im Mundwinkel eine halbgerauchte Zigarre und die obere Hälfte seines Gesichtes von dem Hut bedeckt, drehte sich blitzschnell, zog dabei die beiden Revolver und schmiss sich auf den Boden. Während dieses Fluges schoss er vier Mal in schneller Folge. Etwas Staub kam hoch und er landete sanft auf dem Boden. Die vier Männer auch… allerdings unsanft wie ein Sack und mit jeweils einem Loch auf der Stirn.
Musik... Lauter werdende Töne eines Mundharmonikas.
Wind wirbelte den Sand auf…
„Warren. Verdammt noch mal. Was ist denn los mit Ihnen? Sind Sie schon so blau, dass Sie mir nicht mehr zuhören können?“, tobte der Vizepräsident.
Warren erschrak. Der Western verflog kurzerhand. Die Realität kehrte zurück. Er spürte die spannungsgeladenen Blicke des Vizepräsidenten auf seiner Haut. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, mit Tausenden von Ameisen im Vakuum zu schweben.
„Entschuldigung, Herr Vizepräsident. Ich… ich habe Sie akustisch nicht verstanden.“
„Was gibt es da, was Sie nicht verstehen können? Ich habe Sie einfach gefragt, wie hoch die Versicherungssumme ist. Ist es jetzt klar mit Ihrer Akustik?“ Er verlagerte sein Gewicht ungeduldig von einem Bein aufs andere.
„Welche Versicherung meinten Sie, Herr Vizepräsident?“
„Wissen Sie, dass Sie meine Geduld langsam überstrapazieren? Welche Versicherung sollte ich denn meinen? Die von ITMC natürlich. Glauben Sie, dass ich Sie extra von London hierher bestellt habe, um zu hören, wie hoch Ihre Arbeitslosen- oder Rentenversicherung ist, oder was?“
„Ach ja, ITMC!“ Warren legte wie Inspektor Columbo seine rechte Hand auf die Stirn. „Mensch, ich habe es total vergessen. Wie dumm von mir. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Vizepräsident. Natürlich das ITMC. Die Versicherungssumme… ja, klar doch… Sie beträgt genau 10,6 Milliarden US-Dollar.“
„Das ist ja ein Wahnsinn“, sagte Mitchum und pfiff erstaunt. „Das ist ja ein Vermögen!“
„Jetzt fängt der mit dem Unsinn an“, moserte Slawish und schüttelte mit dem Kopf. „Sagen Sie mal, sind auch Sie bereits blau?“, fragte der Vizepräsident seinen CIA-Chef Mitchum, der fassungslos über die Höhe der Summe nachdachte. „Damit es jetzt schon klar ist; das nächste Mal gibt es nur noch Leitungswasser zu trinken!“, fügte er dann hinzu.
„Blau nicht. Aber vielleicht verrückt, Herr Vizepräsident“, entgegnete ihm Mitchum wie ein Kind, dass eine teure Vase kaputt schlug und so tat, als hätte es absolut nichts damit zu tun.
„Das ist mir nicht neu, Mitchum. Das wusste ich bereits bei unserer ersten Begegnung“, meinte der Vize daraufhin und zwang sich zu einem Lächeln. „Das, was Warren eben gesagt hat, ist eine wunderbare Nachricht, Herr Vizepräsident. Es klingt nach Erfolg, nach Sieg…“
„Was für ein Sieg?“
„Ein Traum, den die ungewöhnlichen Umstände reell werden lassen, und ein Wahnsinnserfolg, wenn wir richtig handeln.“
„Ich habe das Gefühl, dass Sie mich auf einen teuflischen Plan verleiten möchten.“
„Da haben Sie völlig Recht. Solange der Teufel auf unserer Seite ist und uns zum Überwinden der Krise verhilft, können wir nicht nein sagen. Es gibt einen hervorragenden Weg, durch den wir nicht einige Milliarden kassieren, sondern auch den ersten bedeutenden Schritt zum wirtschaftlichen Aufschwung machen können.“
„Haben wir zufälligerweise die gleichen Gedanken, Mitchum?“, fragte der Vizepräsident strahlend und zeigte stolz seine makellosen Schneidezähne.
„Ich glaube schon, Herr Vizepräsident. Ob Timothy weiß, wovon wir sprechen?“
„Was glaubst du, weswegen ich hier bin, du pallone gonfiato?“, griff Warren sofort ein und rutschte auf seinem Sitz nach vorne. „Wegen meiner Arbeitslosen- oder Rentenversicherung?“ Er wiederholte bewusst die Worte des Vizepräsidenten, um den Vizepräsidenten zu ärgern.
„Sie sind einfach unverbesserlich, Warren. Wie ich sehe, ist aus Ihnen eine richtige Tratschtante geworden. Und hören Sie auf mit Ihren türkischen Sprüchen“, mischte sich der Vizepräsident ein.
Warren ignorierte die Bemerkung des Vizepräsidenten und fuhr unbeirrt weiter. „Die richtige Antwort lautet weder noch, lieber Daniel. Andererseits, wenn du glaubst, dass ich von London hierher geflogen bin, nur um mit dir einen Whisky zu trinken, dann täuschst du dich ebenfalls. Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du endlich an etwas Konstruktives denkst.“ Sobald Warren das letzte Wort ausgesprochen hatte, kippte er den restlichen Whisky in den Mund.
Die Menge im Glas hatte er wohl unterschätzt, sodass er sie erst nach zweimaligem Schlucken hinunterförderte und anschließend heftig räuspern musste.
Slawish reagierte schneller als Mitchum und machte seine Bemerkung. „Es klingt so, als hätten Sie bereits einen konkreten Plan, Warren.“
„In der Tat, Herr Vizepräsident, ich habe mir bereits einen Plan zurechtgelegt und alle Einzelheiten bis auf die kleinsten Details ausgearbeitet.“
„Ich bin stolz auf dich mein Lieber“, lobte Mitchum Warren und klopfte dreimal auf seine linke Schulter.
„Lassen Sie mich vorher die Gläser auffüllen.“ Der Vizepräsident wirkte deutlich entspannt. Auf seinem Gesicht sah man die Freude eindeutig. Er nahm alle Gläser und stellte sie auf den Schreibtisch. Sobald sie aufgefüllt waren, sprach er zu Warren.
„Wir hören Ihnen zu, Warren.“
„Unser erster und entscheidender Schritt lautet, die Wirtschaft um jeden Preis ankurbeln. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich hierbei hauptsächlich an die US-amerikanische Wirtschaft denke. Das heißt der internationale Handel muss durch einen raffinierten Plan wieder aufblühen. Es muss wieder Geld fließen. Die Länder, egal ob in Europa oder Asien, müssen kaufen und verkaufen. Und hierfür benötigen wir unbedingt ein neues Handelszentrum, da unser ITMC inzwischen viel zu alt und nicht mehr up to date ist. Meines Erachtens ist dieser Plan einfach zu realisieren.“
Inzwischen begann es zu regnen. Die schweren Regentropfen prassten wie Pfeile herunter und vermischten sich zu einer kleinen Wasserlache im Garten, die zunehmend größer wurde.
Die Tropfen, die auf den Glasscheiben des Weißen Hauses landeten, flossen über mehreren Spuren herunter und behinderten die Sicht.
„Ob unser kleiner Vogel immer noch auf dem Ast sitzt und nach etwas Essbarem pickt?“, ging Mitchum durch den Kopf. „Vielleicht ist er heruntergefallen und im Regenwasser ertrunken. Was für ein schrecklicher Gedanke.“
Der Vizepräsident spürte auf einmal ein unangenehmes Kribbeln in den Waden, stand daraufhin auf und ging zur Glastür. Er hoffte, mit diesen paar Schritten das Kribbeln loszuwerden. Ganz im Gegenteil dieses unangenehme Gefühl ging rasch in Wadenkrämpfe über. Er begann mit Lockerungsübungen für die Waden. Beide Fersen langsam hochheben und das gesamte Gewicht auf Fußspitzen verlagern. Anschließend die Fersen wieder absenken. Dann die Fersen wieder hoch und das Gewicht auf die Fußspitzen verlagern…
Wie unangenehm die Wadenkrämpfe sein können, wusste Warren aus eigener Erfahrung. Sie fangen nach längerem Sitzen mit leichten Zuckungen an. Darauf folgen ziehende Schmerzen mit einem unangenehmen Kribbeln, als marschierten Tausende von Ameisen in und auch auf der Haut. Kaum hörten diese Gefühle auf, so zieht sich eine Muskelgruppe zusammen und harrt unter qualvollen Schmerzen in dieser Position. Der Zustand einer scheinbaren Lähmung setzt ein. Eine Bewegung ist nicht mehr möglich. Besonders gefährlich sind die Wadenkrämpfe, wenn sie beim Schwimmen auf hoher See auftreten. Für den Betroffenen gibt es in solchen Situationen, nur noch zwei Sachen zu tun: Beten und Hoffen.
Beten, dass Gott den Hilferuf erhört; Hoffen, dass er die entsprechende Hilfe möglichst bald zukommen lässt.
Slawishs Gäste beobachteten den Vizepräsidenten eine Zeitlang. Mitchum fragte ihn, ob er nach Hilfe rufen sollte. Nein, er wollte es nicht. Er versicherte seinen Gästen, dass es gleich vorbei wäre, was auch stimmte. Denn nach etwa zwei Minuten kehrte er zu seinem Platz und trank den restlichen Whisky in seinem Glas aus. Er schaute auf die Uhr. Er hatte nicht mehr viel Zeit und musste auf eine Pressekonferenz.
„Sind Sie soweit, Warren? Wollen Sie uns endlich Ihren Plan verraten?“
„Wenn Sie noch aufnahmefähig sind, Herr Vizepräsident?“
„Haben Sie die leiseste Ahnung darüber, wieso ich bei Ihnen immer wieder das Gefühl habe, dass die Londoner Luft Ihnen überhaupt nicht bekommen hat?“
„Wie meinen Sie es, Herr Vizepräsident?“, fragte Warren überrascht; er tat zumindest so, als war er über diese Frage überrascht.
„Was soll es hier noch zu meinen geben? Sie wissen ganz genau, was ich denke. Alleine diese Frage ist ein Hohn. Sie sind, seitdem Sie in London leben, irgendwie anders geworden. So… stolz… selbstherrlich. Ich würde sogar sagen, snobistisch, wenn nicht sogar unverfroren.“
„Möchten Sie damit sagen, dass Sie mit meiner Arbeitsleistung nicht zufrieden sind, Herr Vizepräsident?“
„Verdammt Warren. Sie drehen einem das Wort im Mund.“ Der Vizepräsident wurde wütend. Er spürte das Pumpen seines Herzen in den Halsschlagadern. „Wer redet denn hier von einer Unzufriedenheit? Natürlich bin ich mit Ihrer Leistung zufrieden, voll und ganz sogar. Also hören Sie auf zu…“ Er schwieg eine Zeitlang und suchte nach einer passenden Formulierung. Sie fiel ihm nicht ein. „… zu… zu… ach, ist doch egal. Erzählen Sie uns einfach von Ihrem Plan und spannen Sie uns nicht auf die Folter. Soviel Zeit habe ich auch nicht.“
Warren nickte zufrieden mit dem Kopf. „Ich bitte um Entschuldigung, Herr Vizepräsident“, sagte er reumütig. Innerlich ging ihm allerdings etwas Anderes durch den Kopf. „Passen Sie auf, Herr Vizepräsident. Ich führe 2:0. Wenn es so weitergeht, wird das Spiel in einem Desaster für Sie enden.“
„Sind Sie auch soweit Mitchum?“
Mit dem Satz, „Nun zu meinem Plan“, leitete Warren seinen Vortrag ein.
Nachdem Warren seinen Plan ausführlich und mit allen Details erläutert hatte, erkannte er die vom Glück erfüllten Gesichter seiner Gesprächspartner. Er gab sich jedoch damit nicht zufrieden. Er wartete auf ihr Lob.
„Mensch Timothy, du bist ja ein Genie. Ich sehe, die Freundschaft mit mir hat dir doch einiges gebracht. Ich könnte dich glatt in meinem Team als Sekretär gebrauchen“, sagte Daniel Mitchum, der CIA-Chef, und klopfte ihm, diesmal etwas fester, auf die Schulter.
Der Vizepräsident stand auf und gratulierte ihm mit einem festen Handdruck. Er bewunderte Warrens ausgeklügelten Plan. Dieser übertraf seinen eigenen Plan um einige Nummern. Er war nicht nur ausgereift und intelligent, sondern einfach diabolisch. Daher vergaß er seinen Plan auf der Stelle und erwähnte ihn mit keinem Wort.
Auf einmal bekam der Vizepräsident Warren gegenüber ein schlechtes Gewissen, da er immer wieder davon überzeugt war, dass Warren als geschäftsführender Vorsitzender des ITMC die meiste Zeit auf seinem Hintern saß und sich von seinen hübschen Sekretärinnen verwöhnen ließ. Dass er in bestimmten Kreisen als Casanova einen Namen machte, wusste Slawish schon seit geraumer Zeit.
„Warren, ich bin stolz auf Sie“, sagte der Vizepräsident und kehrte zu seinem Platz zurück. „Wir brauchen allerdings für diesen Plan einen Namen. Dieser Name muss genauso diabolisch klingen wie der Plan selbst...“
Warren blendete es kurz aus, dass er gerade mit Amerikas zweitmächtigsten Mann sprach und unterbrach ihn, von seinem Plan beflügelt. „Das ist auch schon erledigt, Herr der Vizepräsident. Der Plan bekommt einen hervorragenden Namen.“
„Würden Sie ihn uns verraten?“
Warren lachte vermessen, selbstherrlich, stolz. Seine Augen glänzten, wie zwei kostbare Diamanten. Dann begann er mit einem kurzen Vortrag, bevor er den Namen seines Planes verriet. „Schon seit vielen Jahren gibt es eine terroristische Organisation, deren Name allein auf der ganzen Welt Abscheu und Wut auslöst. Und diese Organisation ist für uns das gefundene Fressen. Einen besseren Namen gibt es nicht.“
„Schon gut Warren! Wie lautet nun der Name Ihres Planes?“, griff der Vizepräsident ungeduldig ein und schaute auf seine Uhr.
Warren ließ für einige Sekunden seine Partner schmoren. Dann sprach er endlich das lang ersehnte Wort aus:
„Al-Qaida!“
Sowohl Slawish als auch Mitchum wiederholten es. Wie auf Befehl hoben sie gleichzeitig den rechten Daumen nach oben und signalisierten ihre Begeisterung. Slawish hob zufrieden sein Glas und blickte zuerst auf Warren und dann auf Mitchum.
„Dann erheben wir unsere Gläser auf das Wohl der Al-Qaida!“
Alle drei leerten ihre Gläser. Der Vizepräsident schaute wieder auf seine Uhr, diesmal etwas genauer. „So, meine Herren. Ich danke Ihnen beiden, dass Sie gekommen sind und mit Ihren Beiträgen mir eine große Freude bereitet haben. Auch wenn ich den Rest des Tages lieber mit Ihnen verbringen würde, muss ich leider meinen anderen Verpflichtungen nachgehen. Mein Terminkalender quält mich…“
Just in diesem Moment läutete das Telefon auf seinem Schreibtisch und unterbrach ihn. Er warf zuerst einen Blick auf das Display, bevor er den Hörer abnahm.
„Mister Vizepräsident. Entschuldigen Sie bitte die Störung“, hörte er seine Sekretärin sagen.
Er hörte ihr zu und sagte, „ja… ich weiß… klar… wir sind schon fertig… natürlich… ja, er soll es fertigmachen. Dann bis gleich.“
Er legte den Hörer auf.
Seinen angefangenen Satz führte er nicht zu Ende. Er stand auf und kam auf beide zu. Die Freude auf seinem Gesicht und die strahlenden Blicke verliehen ihm etwas Kindliches.
„Na dann, meine Herren. Wir hoffen für uns alle das Beste. Der Plan möge nur noch vom Erfolg gekrönt werden.“
Slawish verabschiedete die beiden nicht nur mit einem festen Händedruck; sondern umarmte sie wie ein Vater, der seinem Nachwuchs durch diese Geste die aufrichtige Fürsorge und seine niemals endende Liebe beweisen wollte.
Mitchum und Warren gingen zur Tür hin. In der Türschwelle blieb Warren stehen und drehte sich zu Slawish um.
„Haben Sie was vergessen, Warren?“, fragte der Vizepräsident neugierig.
„Ach, beinahe hätte ich es vergessen; bei dem Ausdruck pallone gonfiato handelt es sich nicht um Türkisch, sondern um Italienisch.”
Warren ließ Slawish keine Zeit, sich dazu zu äußern, und verschwand schnellen Schrittes im langen Flur Richtung Ausgang.