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- KAPITEL 9 -

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Die Kaufingerstrasse, Münchens Hauptgeschäftsstrasse zwischen Karlsplatz Stachus und Marienplatz, war an diesem Tag besonders belebt.

Menschen, die zwischen diesen beiden, bei allen Münchnern bekannten Plätzen marschierten, drängelten und schubsten sich gegenseitig, um schneller vorwärts zu kommen. Viele bliesen wutentbrannt die Atemluft durch die zugespitzten Lippen und bereuten es schon längst, ausgerechnet an einem solchen Tag zum Einkaufen in die Stadt gefahren zu sein, als wäre es schon der heilige Abend und die Leute versuchten, die vergessenen Geschenke doch noch vor dem Ladenschluss zu besorgen.

Manche voll gefüllte Einkaufstasche sorgte zusätzlich für Behinderung, sodass sie immer wieder an Beinen von Leuten oder anderen Einkaufstaschen hängen blieb.

Aufgrund multipler Prellungen wurde Dr. Jörg Sörenson sieben Tage lang in einem städtischen Krankenhaus stationär behandelt. Nachdem er bereits auf dem Weg ins Krankenhaus im Notarztwagen einige Male gebrochen hatte, musste er die erste Nacht auf der Intensivstation bringen. Man vermutete dahinter eine schwere Gehirnerschütterung.

Die Röntgenaufnahmen zeigten zum Glück keine Knochenbrüche. Eine akute Gehirnblutung wurde durch eine Kernspintomographie ausgeschlossen. Durch die wiederholt durchgeführten Ultraschalluntersuchungen konnte man freie Flüssigkeitsansammlungen im Bauchraum und somit innere Blutungen ebenfalls ausschließen.

Um eine später auftretende Blutung im Kopf nicht zu übersehen, wurde eine Woche nach der stationären Aufnahme eine zweite Kernspintomographie des Schädels angefertigt, die zum Glück ebenfalls unauffällig ausfiel.

Obwohl er bereits vor etwa zwei Wochen aus der stationären Behandlung entlassen wurde, litt er immer noch an Kopf- und Rückenschmerzen, sodass er regelmäßig ein Analgetikum einnehmen musste.

Auch zum Ein- und Durchschlafen musste er ein Medikament schlucken, da er seit diesem Angriff regelmäßig nicht nur unter Angstattacken, sondern auch unter Schlafstörungen litt.

Albträume ließen ihn keinen einzigen Tag in Ruhe und beraubten ihm den Schlaf. Diese grauenvollen Träume nahmen solche Maße an, dass seine Gedanken inzwischen nur noch um eine einzige Frage kreisten: „Werde ich es jemals schaffen, sie loszuwerden?“

Ausgerechnet an diesem Tag, an dem alle Münchener sich in der Kaufingerstrasse zu treffen schienen, hatte Jörg Sörenson um 11.30 Uhr im Polizeipräsidium in der Ettstrasse einen Termin. Er erhielt vor fünf Tagen von der Münchener Staatsanwaltschaft ein Schreiben, mit dem er aufgefordert wurde, sich beim Polizeipräsidium vorzustellen, um die nach seinen Beschreibungen in Frage kommende Person, welche ihn angegriffen hatte, zu identifizieren.

Als hätte er diese ungewöhnliche Menschenmenge erahnt, ging er recht früh aus dem Haus und fuhr mit der U-Bahn bis zum Marienplatz. Nachdem er aus der U-Bahn ausgestiegen war, schaute er auf die Funkuhr der Bahn, deren Zeiger auf 9.54 Uhr zeigte. Instinktiv warf er einen Blick auf die eigene Armbanduhr, auf der es erst 9.51 Uhr war.

„Ach, ich habe noch viel Zeit und brauche mich daher überhaupt nicht zu beeilen“, dachte er und marschierte ohne Hektik Richtung Ettstrasse.

Er wurde von vielen Passanten, die es eilig hatten, herumgeschupst, sodass er keinen einzigen Meter gerade gehen konnte. Er kam sich vor wie ein Ball, der von einem zum anderen Spieler gekickt wurde.

Nach knapp 25 Minuten stand er vor dem Polizeipräsidium in der Ettstrasse und litt unter einem Anflug von drückenden Schmerzen am Hinterkopf. Es war seit geraumer Zeit das erste Mal, dass er sich unter so vielen Menschen bewegen musste. Ungewohnt und anstrengend.

Er hatte Glück, dass der alte Mann, der mit seiner Frau zusammen Zeuge des tätlichen Angriffes gewesen und als einer der ersten ihm zu Hilfe gekommen war, rechtzeitig daran gedacht hatte, das Kennzeichen von dem Porsche zu notieren. Dieses Kennzeichen würde in Jörgs Gedächtnis für immer einen Platz beanspruchen. Wie sollte er es auch vergessen? Der Wagen mit dem Kennzeichen M- AE 1955 veränderte schließlich sein Leben.

Bereits während seiner stationären Behandlung erstattete Jörg bei der Münchener Staatsanwaltschaft Anzeige gegen seinen Angreifer, für die er eine Täterbeschreibung abgeben musste. Alleine die Beschreibung oder die Erwähnung, ja sogar der Gedanke an ihn löste bei ihm heftiges Herzklopfen, Engegefühl im Brustkorb und Schweißbruch aus. Die Schmerzen an den verschiedenen Körperteilen wurden dann lebendig und quälten ihn, so als befände er sich immer noch am Boden und müsste die kräftigen Tritte über sich ergehen lassen.

Erst die von einer Krankenschwester verabreichte Mischung diverser Beruhigungsmittel entspannte ihn, sodass er dem Polizisten, der ihn auf seinem Krankenzimmer vernahm, eine genauere Beschreibung seines Angreifers geben konnte.

Das Kennzeichen des Porsche kannte er ja von dem Ehepaar Ehrlich.

Der alte Mann, der Arno Ehrlich hieß, besuchte mit seiner Frau Katherina zusammen Jörg Sörenson einige Male im Krankenhaus. Für sie war es einfach nicht nachvollziehbar, dass eine Person am helllichten Tage und noch dazu mitten auf einer Strasse vor den Augen anderer Menschen jemanden krankenhausreif schlagen und einfach verschwinden konnte, als wäre nichts passiert. Sie betonten es immer wieder, dass die Szene, deren Zeugen sie geworden waren, für sie zu den verabscheuungswürdigsten Erlebnissen gehörte. Sie erklärten sich sofort bereit, als Zeugen stets bei ihm zu sein und ihn zu unterstützen.

Jörg lehnte es strikt ab. Er wollte nicht, dass dieses liebenswürdige, alte Ehepaar, das unter Gehbeschwerden litt, sich zum Polizeipräsidium bemühte. Sein Gewissen konnte es nicht ertragen.

Frau und Herr Ehrlich ließen sich jedoch von den Überredungskünsten Jörgs nicht beeinflussen und harrten darauf, als Zeugen aufzutreten.

„Sie geben sich umsonst Mühe, Herr Dr. Sörenson“, sagte Arno Ehrlich, „niemand kann uns von unserer Entscheidung abbringen.“

„Es ist sehr lieb von Ihnen Frau Ehrlich und Herr Ehrlich, dass Sie mir helfen wollen. Die Sache ist aber meines Erachtens so klar, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ich kann es nicht zulassen, dass Sie zum Polizeipräsidium geladen werden und dort, was weiß ich, wie lange warten müssen, bis man Sie überhaupt beachtet. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass Sie vielleicht sogar mehrmals hingehen müssen. Danach gibt es eventuell einen Prozess, bei dem Sie ebenfalls anwesend sein müssen. Das sind Sachen, über die man gründlich denken muss.“

„Schauen Sie, Herr Dr. Sörenson“, antwortete daraufhin Arno Ehrlich mit einer väterlichen, aber humorvollen Stimme, „ich verstehe Sie gut, dass Sie in Ihrer Nähe keine betagten, sondern nur junge Menschen haben möchten...“

Jörg unterbrach ihn sofort. „Bitte, bitte, Herr Ehrlich, Sie verstehen mich falsch. Ich möchte nicht, dass Sie sich die ganze Prozedur antun. Ich wiederhole es, nur Gott weiß, wann Sie wie oft zur Staatsanwalt rennen müssen. Und das könnte für Sie eine große körperliche Belastung werden.“

Arno Ehrlich war hartnäckig und ließ sich von Jörg nicht beeinflussen: „Glauben Sie, dass Sie bessere Zeugen finden, als uns?“

„Nein! Auf keinen Fall. Ich drücke mich anscheinend nicht richtig aus. Der ganze Vorfall ist so eindeutig und so offensichtlich, dass ich sicherlich auf keine Zeugen angewiesen sein werde. Ich weiß, wie der Mann, der mich niedergeschlagen hat, aussieht. Und wir kennen das Auto samt Marke, Farbe und Kennzeichen. Dann ist doch alles glasklar. Oder?“, harrte Jörg.

„Dass wir unbedingt mit Ihnen kommen möchten, mein Sohn, hat mit Ihnen an sich nichts zu tun“, mischte sich diesmal Frau Ehrlich ein, mit einer traurig, aber melodisch klingenden Stimme. Sie sprach Hochdeutsch im Gegensatz zu ihrem Mann, der einen leichten Bayerischen Dialekt hatte.

„Könnten Sie mir dann bitte sagen, womit es zu tun hat?“ fragte Jörg ungeduldig, sobald sie diesen einzigen Satz ausgesprochen hatte.

„Schauen Sie, Herr Dr. Sörenson, ich bin 68 Jahre alt und mein Mann wird in ein paar Monaten 77. Wir sind die letzten Vertreter unserer Verwandtschaft. Wir haben weder Geschwister noch Kinder. All die Jahre haben wir, vom Krieg angefangen bis heute, viele grausame Dinge erlebt. Nun waren wir davon der Meinung, dass wir im sichersten Land Europas, in der sichersten Stadt Deutschlands leben und fühlten uns bis vor einigen Wochen sehr glücklich. Wir haben uns immer gewünscht, dass wir die letzten Jahre unseres Daseins glücklich und friedlich verbringen. Kein Krieg, kein Anschlag und auch keine tätlichen Angriffe. Aber nun… aber nun...“ Frau Ehrlich schwieg. Sie konnte nicht mehr reden. Einige Tränen liefen ihr langsam über die Wangen und landeten leise auf dem Boden.

Herr Ehrlich umarmte sie liebevoll, drückte sie fest und setzte in ihrem Namen das Gespräch fort: „Eben seit diesem Ereignis wurden ihre Erinnerungen an den Krieg, der bei ihr einschneidende Erlebnisse hinterließ, wieder lebendig. Sie leidet nun permanent unter Albträumen und denkt immer wieder daran, dass ein Unbekannter mitten auf der Straße sie angreift und ihr weh tut… einmal weckte ich sie auf, da sie weinte und nach Hilfe schrie. Sie war schweißgebadet und ziemlich unruhig. Sie hat geträumt, dass ein Mann ihren Hals festdrückte und sie erwürgen wollte. Niemand möchte durch Gewalt sterben. Wir wollen, dass der liebe Gott unsere Seele genauso friedlich in Empfang nimmt, wie er sie uns bei der Geburt geschenkt hat.“

Arno Ehrlich zog aus der Innentasche seiner Samtjacke ein Stofftaschentuch und wischte damit die Tränen seiner Frau ab. Dann schaute er tief in Jörgs Augen und sprach weiter. „Mit unserem Auftritt als Zeugen möchten wir nichts Anderes tun, als unsere Pflicht zu erfüllen, der Menschheit und vor allem der nachfolgenden Generation gegenüber. So ein Vorfall darf in unserem schönen Land nie wieder passiert. Wir sind kein Volk der Aggression oder der Gewalt. Wir haben aus der Geschichte und aus unseren Erfahrungen gelernt. Wir möchten die Nation des Friedens, die Nation der Sicherheit und des gegenseitigen Vertrauens werden. Daher, mein Sohn, können wir es auf keinen Fall zulassen, dass so ein Gewaltakt niemals ungeahndet bleibt. Und zu dritt, da bin ich mir sicher, können wir viel mehr erreichen, als Sie alleine.“

Jörg blieb keine Alternative. Gegenüber dieser Entschlossenheit musste er nachgeben und sich bereit erklären, die Ehrlichs als Zeugen zu benennen.

Mitte der dritten Woche nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung bekam Jörg von der Staatsanwaltschaft ein dreiseitiges Schreiben, das er aufgrund des komplizierten Beamtendeutsches erst nach mehrmaligem Lesen einigermaßen verstanden hatte.

Laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft habe der Besitzer des Porsches an dem Tag des Vorfalles seinen Wagen an jemanden verliehen und könne sich nun nicht mehr an den Namen dieser Person erinnern. Daher wurde er zum Polizeipräsidium geladen, um aufgrund von Photos den Täter zu identifizieren.

Er griff nach dem Hörer und rief Herrn Ehrlich an. Sobald er die Nummer gewählt hatte, sagte ihm ein sich stets wiederholender kurzer Ton, dass die Leitung belegt war.

Er wartete einige Minuten und rief noch einmal an.

„Ehrlich“, meldete sich die vertraute männliche Stimme.

„Hallo Herr Ehrlich, hier ist Sörenson. Jörg Sörenson. Hoffentlich störe ich Sie nicht.“

„Nein, nein… Sie stören nie. Wie geht es Ihnen?“

Jörg Sörenson und Arno Ehrlich unterhielten sich einige Minuten und tauschten gegenseitig Höflichkeiten aus. Am Ende erfuhr Jörg, dass Frau und Herr Ehrlich ebenfalls von der Staatsanwaltschaft eine Ladung zur Zeugenverhörung und Täteridentifizierung erhalten hatten.

„Merkwürdig“, sagte Arno Ehrlich und schwieg.

Jörg wartete einen Augenblick, da er davon ausging, dass sein Gesprächspartner weitersprach. Doch das tat er nicht. Daher sprach Jörg selbst und stellte Herrn Ehrlich die Frage, deren Antwort seine Neugier beenden konnte.

„Was ist denn so merkwürdig, Herr Ehrlich?“

„Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft.“ Seine Stimme klang nachdenklich und unsicher, als stünde er eben vor einer wichtigen Entscheidung.

„Herr Ehrlich, ich verstehe Sie nicht ganz“, bohrte Jörg nach.

„Der Halter“, sagte Ehrlich in einem merkwürdigen Tonfall. Spuren einer gewissen Verzweifelung waren nicht zu überhören. Dann fuhr er weiter. „Wissen Sie? Der Halter eines Wagens ist meines Erachtens auch für jedes Vergehen des Fahrers, an den er seinen Wagen geliehen hat, verantwortlich. Verstehen Sie mich?“

„Offen gestanden, nicht ganz.“

„Damit möchte ich Folgendes zum Ausdruck bringen: Es ist völlig egal, an wen dieser Aggressor seinen Wagen geliehen hat. Er haftet auf jeden Fall auch dafür, wenn derjenige ein Vergehen oder einen Unfall verursacht. Entweder erinnert er sich an diese Person, oder er übernimmt die volle Haftung und kommt für sämtliche Schäden auf. Verstehen Sie mich nun?“

„Ja, klar. Ich verstehe Sie bestens. Ansonsten kann man alles Mögliche tun und später behaupten, den Wagen an jemanden geliehen zu haben, an dessen Namen man sich nicht mehr erinnert.“

„Genau. Und dann können wir die Kriminalität nicht mehr in Griff bekommen, denn auf einmal leidet jeder an Gedächtnisstörungen.“

„Da haben Sie völlig Recht, Herr Ehrlich. Es ist tatsächlich merkwürdig. Sehr merkwürdig!“

Am Eingang des Polizeipräsidiums legte Jörg Sörenson dem kräftigen Beamten hinter der Glasscheibe das Schreiben der Staatsanwaltschaft mit der Ladung vor.

Der Polizist setzte gelassen seine Brille auf und nahm das Schreiben in die Hand. Er überflog es schnell.

„Zimmer 105, erster Stock, die zweite Tür rechts“, sagte er und deutete auf das Treppenhaus.

„Danke.“

Jörg drehte sich um zu gehen.

Der Polizist rief hinterher: „Ihr Schreiben!“

Er ging die sich nach oben verjüngenden Treppen hoch und erblickte das Ehepaar Ehrlich auf einer Bank neben Zimmer 105 sitzen. Er reichte beiden die Hand und grüßte sie freundlich.

„Grüß Gott Frau Ehrlich, Hallo Herr Ehrlich. Schön Sie wieder zu sehen, auch wenn das nicht der richtige Ort für ein gemütliches Treffen ist. Ihnen beiden geht es hoffentlich gut“, sagte er strahlend.

„Natürlich geht es uns gut, mein Sohn, das ist ja das, was wir wollten. Nun sind wir gespannt auf das Ergebnis“, antwortete die Frau leise.

„Sie werden sehen, Herr Dr. Sörenson, beim ersten Blick werde ich ihn identifizieren, diesen unverschämten Kerl“, sagte Herr Ehrlich mit einer festen Stimme und ballte dabei seine rechte Hand zu einer Faust.

„Ach, Herr Ehrlich, lassen Sie bitte diesen Doktor. Glauben Sie mir, inzwischen stört mich dieser Titel dermaßen, dass ich ihn nicht mehr hören kann“, antwortete Jörg.

„Das darf nicht sein. Sie haben dafür gearbeitet und es auch verdient. Aber ich verstehe Sie. Daher sagen wir ab sofort zu Ihnen mein Sohn. Sind Sie damit einverstanden?“

„Das klingt viel angenehmer und freundlicher!“, antwortete er und berührte plötzlich seine Stirn, als ihm etwas Wichtiges einfiel:

„Haben Sie schon an der Zimmertür geklopft? Nicht, dass wir hier stundenlang umsonst warten müssen.“

„Ja“, sagte Arno Ehrlich, „das haben wir schon gemacht. Der Polizist meinte, wir sollen einfach Platz nehmen und warten. Wir würden aufgerufen, wenn es soweit ist.“

Die Frau nickte mit dem Kopf und bestätigte die Aussage ihres Mannes.

Alle drei setzten sich auf die leere Bank neben der Tür, deren Farbe an vielen Stellen bereits abblätterte. Jörg war froh, dass sie recht schlank waren, sonst hätten sie nie zu dritt auf diese Miniaturbank gepasst. Noch dazu gab es weit und breit weder Stühle, noch andere Sitzgelegenheiten.

Etwa fünf Minuten saßen sie auf der Bank, ohne miteinander zu sprechen. Alle drei starrten auf den Boden und warteten.

Die Tür des Zimmers 105 ging mit einem unangenehmen Quietschen langsam auf und ein kräftig gebauter Polizist mittleren Alters trat heraus.

„Ich sehe, Sie sind inzwischen vollzählig“, sagte er in einem stark bayerisch gefärbten Dialekt. Sein Haarschnitt wie bei einem US-Soldaten sah an dem runden Gesicht merkwürdig aus. „Darf ich bitten?“, fügte er dann hinzu und hielt die Tür für die drei offen.

Frau Ehrlich trat zuerst ins Zimmer ein, dann Herr Ehrlich, gefolgt von Jörg.

Der Polizist deutete dem älteren Ehepaar mit der Hand, sich auf die Lederstühle zu setzen, die schon längst auf den Sperrmüll gehörten. Da ihm nur zwei Stühle zur Verfügung standen, ging er in das Zimmer nebenan und holte einen dritten, der wesentlich neuer aussah.

Das ungleichmäßige Klimpern einer Schreibmaschine aus dem Nebenzimmer hörte für einen kurzen Augenblick auf.

Er ließ sich mit einem Stöhnen auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. Es kostete ihn anscheinend viel Kraft.

Der Polizist tat Jörg leid. „Ach du armer Kerl, du hast es schwer. Das Leben ist wirklich hart“, ging in seinem Kopf.

„Erst mal, Grüß Gott. Mein Name ist Isidor Stumpf und ich bin Hauptkommissar. Bevor wir uns mit der Sache näher befassen, muss ich mich um einige Formalitäten kümmern. Darf ich bitteschön Ihre Ausweise und die Ladungen sehen?“

Sie folgten der Aufforderung und legten die entsprechenden Dokumente auf den Tisch, wobei aus jedem Mund ein „Bitteschön“ kam.

Hauptkommissar Stumpf nahm sie zu sich und überzeugte sich von der Übereinstimmung der Namen. Nachdem er an seinem PC die Namen der Anwesenden einschließlich ihrer Ausweisnummer eingetragen hatte, gab er sie ihnen zurück.

„So“, sagte er nachdenklich und legte eine Pause ein, als hätte er plötzlich den Faden verloren und nicht wusste, weswegen die drei Personen ihm gegenübersaßen.

Fröhlich fuhr er dann fort. Nun konnte er sich wohl an seine Aufgaben erinnern: „So… nun… nachdem ich Ihre Personalien überprüft habe, das ist für uns Polizisten natürlich der wichtigste Punkt, wie Sie es sicherlich wissen…“, dabei lachte er leise und schaute seine Gegenüber prüfend an, wie sein Scherz bei ihnen angekommen war.

Ein entspannter und glücklicher Gesichtsausdruck stimmte ihn fröhlich, als er dem Ehepaar Ehrlich ein leichtes Schmunzeln, das sicherlich nur aus Höflichkeitsgründen zustande kam, entnehmen konnte. „Nun möchte ich Ihnen kurz erläutern, wie wir vorgehen… Ich glaube, den Grund, weswegen Sie hier sind, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Oder?“

Dabei schaute er jeden fragend an.

Alle Drei schüttelten den Kopf und sagten der Reihe nach „Nein“.

Er sprach im selben gelangweilten Ton weiter und klopfte gleichzeitig mit dem Ende eines Bleistiftes in einem bestimmten Rhythmus auf den Tisch.

„Wir werden Ihnen Fotografien von zehn verschiedenen Leuten zeigen, die für uns als Täter in Frage kommen. Ihre Aufgabe besteht darin, einfach den Täter zu identifizieren und das entsprechende Foto herauszufischen. Damit Sie sich allerdings gegenseitig nicht beeinflussen, werden wir diese Prozedur mit jedem von Ihnen einzeln, das heißt, in drei separaten Räumen durchführen.“

Er blickte erneut jedem in die Augen. „Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“

Wieder nickten alle Drei gleichzeitig.

„Haben Sie dazu irgendwelche Fragen?“

Nein, keiner hatte welche.

„Schön, dann können wir anfangen“, sagte er zufrieden und nahm den Hörer des für alle Behörden typischen Telefons in die Hand. Er tippte mit dem Zeigefinger einige Tasten und wartete ein paar Sekunden.

„Wir sind so weit“, sagte er in den Hörer.

Das Klimpern der Schreibmaschine im Nebenzimmer hörte erneut auf und drei Polizisten traten durch die offene Tür hinein. Sie sahen nicht nur ziemlich jung aus, sondern ähnelten einander dermaßen, dass Jörg sich sicher war, dass es sich bei ihnen um Drillinge handelte. Am Liebsten hätte er sie danach gefragt, ob seine Vermutung der Wirklichkeit entsprach. So viel Mut fand er bei sich allerdings nicht.

Jeder Polizist forderte einen der geladenen auf, ihm zu folgen.

Das Zimmer, in das der Polizist Jörg hineingeführt hatte, war ziemlich klein und schaute in einen Hinterhof. Es sah gar nicht nach einem Arbeitszimmer aus. Es war vielmehr eine Mischung aus einer Abstellkammer, Küche und Büro. Das Regal an der den Fenstern gegenüberliegenden Wandseite reichte bis zur Decke und war voll mit dicken schwarzen Ordnern. Links davon sah eine Kochnische ungewöhnlich sauber aus, als hätte man sie noch nie benutzt. Schräg gegenüber fanden sich Besen, Eimer, Waschlappen und diverse Reinigungsmittel.

Jörg nahm an dem kleinen Holztisch Platz, nachdem der Polizist die Tassen darauf abgeräumt hatte. Er holte aus dem Ordner, den er die ganze Zeit unter dem Arm trug, ein DIN A-Kuvert heraus und schüttelte dessen Inhalt auf den Tisch. Mehrere Bilder fielen heraus. Er drehte sie vorerst auf den Rücken, auf dem eine mit rotem Filzstift geschriebene Nummer befand, und ordnete sie in der richtigen Reihenfolge von eins bis zehn.

„So, Herr Sörenson …“

Auch wenn Jörg kurz zuvor, dem Ehepaar Ehrlich gesagt hatte, dass der Titel Doktor ihn nervte, ärgerte er sich plötzlich darüber, dass dieser junge Polizist seinen Doktortitel einfach ignoriert hatte.

„Sie sehen hier zehn Bilder, nummeriert von eins bis zehn. Ich werde sie gleich umdrehen und Sie brauchen nichts Anderes zu tun, als mir die Person zu zeigen, von der Sie glauben, es handelt sich um den Täter. O. K.?“

Jörg nickte mit dem Kopf und sagte „In Ordnung.“

Der Polizist deckte anschließend die Bilder der Reihe nach auf.

Jörg ließ kurz seine Blicke über alle Bilder wandern, was nur zwei bis drei Sekunden in Anspruch nahm.

Das, was er sah, überraschte ihn dermaßen, dass er unwillkürlich schmunzeln musste. Denn, sobald seine Blicke auch das letzte Foto mit der Nummer 10 passiert hatten, dachte er an einen Faschingsscherz, obwohl der Fasching schon längst vorbei war. Es war auch nicht der erste April.

Er hob seinen Kopf und betrachtete stumm den Polizisten, der vor dem Spiegel am Waschbecken stand und seine Mütze in verschiedene Positionen rückte, um wohl festzustellen, bei welcher Position er cool aussah.

Als er merkte, dass Jörg nicht die Bilder, sondern ihn anschaute, drehte er sich schnell um. Sein Gesicht bekam auf einmal eine deutliche Röte.

„Sind Sie schon fertig?“, fragte er verwundert.

„Nein…“, stotterte Jörg.

„Na, dann? Sie sollen nicht mich, sondern die Bilder anschauen“, unterbrach ihn der Polizist etwas verärgert.

„Aber die… die Bilder…“

„Was ist mit den Bildern?“

„Ich… ich meine die Photos.“

„Ist doch klar, was Sie meinen; ob Bilder oder Photos… alles dasselbe. Was soll denn mit ihnen sein?“

„Sie passen doch nicht…“ Jörgs Blicke wanderten zwischen den Fotos und den Augen des Polizisten.

Er stotterte nach wie vor. Er hatte eine blasse, wächsern glänzende Gesichtsfarbe. Die Lippen zitterten.

„Entschuldigung, aber ich verstehe Sie überhaupt nicht“, sagte der Polizist und kam näher. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch wie ein Lehrer, der aus einem Schüler das letzte Wissen herauspressen wollte. Er betrachtete ebenfalls die Bilder.

„Ich sehe nix! Zumindest nix, was nicht in Ordnung sein soll“, sagte er immer noch überrascht.

„Die Bilder… ich meine die Fotos… sie passen überhaupt nicht zu der Beschreibung, die ich bei der Vernehmung angegeben habe“, sagte Jörg und schüttelte dabei fassungslos den Kopf.

„Ich verstehe nix davon“, antwortete der Polizist und hob seine Schultern hoch. „Bilder sind Bilder. Nicht mehr und auch nicht weniger. Sie müssen mir nur sagen, welches Bild zu dem Täter passt.“

„Ich habe aber bei der Vernehmung eindeutig erzählt, dass der Täter um die 40 war, einen goldgelben Gesichtsteint, blonde, lockige Haare und einen mächtigen Bart um den Mund herumhatte.“

„Und?“

„Was heißt, und? Schauen Sie sich selbst die Bilder hier an. Das sind ja unscharfe Aufnahmen von Teenegern“, protestierte Jörg.

„Diese beiden Aufnahmen sind aber nicht von Teenegern“, sagte der Polizist und zeigte auf zwei Fotos.

„Ich glaube, ich drücke mich falsch. Diese beiden Bilder zeigen doch Männer, die mindestens 80 Jahre alt sind und kurz vor dem Exitus stehen.“ Jörgs Stimme klang diesmal recht energisch.

„Bitte? Wovor stehen die Beiden?“, fragte der Polizist nach.

„Vor dem Exitus. Das heißt, sie stehen kurz vor dem Tod. Sehen Sie nicht, wie krank sie ausschauen?“, erklärte Jörg ungeduldig.

Er spürte, wie sein Herz vor lauter Wut zu klopfen begann und seine Ohren richtig heiß wurden. Seinen Kopf schüttelte er so heftig, dass der Polizist sich nicht ganz sicher war, ob Jörg gerade einen Tick oder womöglich sogar einen epileptischen Anfall hatte.

„Ich bin doch kein Doktor. Woher soll ich wissen, wer krank und wer nicht krank ausschaut.“

„Aber ich! Ich bin Doktor… ich bin doch Arzt!“

„Sie meinen, dass der Täter auf diesen Bildern nicht zu erkennen ist bzw. dass Sie ihn nicht identifizieren können“, betonte der Polizist und sammelte die Fotos, die er in den Umschlag steckte.

„Ja, das meine ich. Er ist auf keinem dieser Bilder vorhanden, Herr Kommissar!“

„Ich bin kein Kommissar“, entgegnete der Polizist und lachte dabei. Seine Lippen gaben von Nikotin vergilbte Zähne frei.

„Egal… ich meinte Entschuldigung. Ich sage es Ihnen noch einmal. Diese Bilder haben mit der Beschreibung des Täters a b s o l u t nichts zu tun. Sie müssen mir Bilder vorlegen, die in etwa der Beschreibung passen.“ Jörg wurde nicht nur lauter, sondern auch deutlich nervöser.

Mit zunehmendem Pochen seines Herzens bekam er nun zusätzlich Atemprobleme, sodass er zu hecheln begann. Er stand vor einem großen Rätsel und war einfach ratlos.

„Dann sind Sie für heute fertig. Sie hören bald von der Staatsanwaltschaft.“

„Aber…“

„Sie! Ich habe keine Zeit für irgendwelche Plauderstündchen. Auch ich habe viel zu tun und muss zu meiner Arbeit. Warten Sie halt das Schreiben der Staatsanwaltschaft ab!“ schlug der Polizist vor und bat Jörg, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, den Raum zu verlassen.

Wie Jörg das Polizeipräsidium verlassen hatte und auf die Straße gelangt war, wusste er nicht mehr. Als er zu sich kam, saß er nach vorne gebeugt auf einer Sitzbank dem Polizeipräsidium gegenüber und stützte den Kopf mit beiden Händen. Er sah desorientiert aus und litt an einer Amnesie. Er wusste über die letzten paar Minuten nichts mehr.

Eine männliche Stimme erschreckte ihn, obwohl sie ziemlich besorgt und freundlich klang.

„Geht es Ihnen nicht gut, Herr Dr. Sörenson?“

Jörg hob seinen Kopf und blickte nach oben. Ihm gegenüber stand das Ehepaar Ehrlich und beobachtete ihn mit besorgten Augen. Er benötigte etwa eine halbe Minute, bis er sich zusammenreisen und antworten konnte.

„Wie? … Wie bitte?“, fragte er mit einer heiseren Stimme, als käme er eben aus einer stark verrauchten Kneipe.

„Ich fragte, ob Sie sich nicht wohl fühlen. Sie sehen so blass aus“, sagte Herr Ehrlich und setzte sich neben ihn.

Frau Ehrlich nahm auf der anderen Seite Platz und streichelte liebevoll seine Hand. Beide sahen deprimiert aus und hatten feuchte Augen.

„Doch… doch, doch… mir geht es gut… besser meine ich. Und wie geht es Ihnen?“, stotterte Jörg.

Frau und Herr Ehrlich schauten sich fragend an. Herr Ehrlich griff erneut ein:

„Geht es Ihnen wirklich gut, Herr Dr. Sörenson? Sollen wir Ihnen einen Krankenwagen rufen?“

„Nein, nein, danke! Es geht wieder“, sagte Jörg und versuchte zu lächeln. „Die Bilder, wissen Sie? Die Bilder, die mir vorgelegt wurden…“

„Ich kenne hier um die Ecke ein tolles Café“, unterbrach ihn Frau Ehrlich. „Wollen wir uns nicht dort hinsetzen und einen Kaffee trinken, während wir uns unterhalten? Heute zahle ich!“ Ihre Stimme klang zwar heiter, verbarg jedoch etwas Trauriges.

Sie hatten Glück und bekamen in dem überfüllten Café einen freien Tisch. Gerade in dem Moment, in dem sie das Café betraten, wurde gleich neben der Tür ein Tisch mit vier Stühlen frei. Herr Ehrlich ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen und setzte sich sofort auf den ersten Stuhl.

Leute, die schon länger in der Mitte des Cafés herumstanden und auf einen freien Tisch warteten, warfen Herrn Ehrlich einen vorwurfsvollen Blick, sagten aber nichts. Sie flüsterten sich einige Bemerkungen, die sicherlich nicht gerade das angenehme Wetter betrafen.

Der Geruch des frisch gebrühten Kaffees füllte den Raum aus und löste bei den Gästen schon beim Eintreten großen Kaffeedurst aus. Die Einrichtung, die Bilder an den Wänden und die farbenfrohen Kuchensorten erinnerten an ein urtümliches Wiener Café.

„Nun, erzählen Sie mal! Was ist denn passiert?“, begann Herr Ehrlich und fixierte Jörgs Augen.

„Sie wissen doch, wie der Täter aussah? Oder?“, antwortete Jörg in Form einer Frage.

„Natürlich weiß ich es. Das haben wir doch dem Beamten auch erzählt“, antwortete Herr Ehrlich.

„Eben, wir haben dem Beamten den Täter bestens beschrieben. Und was ist passiert…?“

„Bitteschön, was darf´s sein?“, unterbrach ihn die Bedienung, die ziemlich breit war. Ihr Trachtenkostüm saß an ihrem Oberkörper so eng, dass Teile ihres mächtigen Busens durch das Dekolletee regelrecht herausgequetscht wurden.

Ehepaar Ehrlich bestellte jeweils einen koffeinfreien Kaffee und ein Stück Sachertorte. Jörg begnügte sich mit einem Haferl Milchkaffee und einer kleinen Flasche Mineralwasser.

„Wollen Sie keinen Kuchen? Sie sind heute mein Gast. Nutzen Sie es aus“, bemerkte Frau Ehrlich und lächelte freundlich.

„Vielen Dank, Frau Ehrlich! Es ist sehr lieb von Ihnen. Ich habe aber derzeit mit Sodbrennen zu kämpfen, sodass ein Stück Kuchen mir sicherlich nicht gut tun würde“, log er. Er hatte zwar kein Sodbrennen, der Druck an seinem Oberbauch und die Übelkeit von vorhin verjagten ihm allerdings jeglichen Appetit.

„Nun habe ich den Faden verloren, glaube ich. Was sagte ich gerade? Ach ja, jetzt weiß ich es wieder. Wir haben doch dem Beamten den Täter bestens beschrieben.“ Seine Stimme zitterte und sein Gesicht errötete. Er spürte erneut wie seine Ohren zunehmend wärmer wurden. „Dann komme ich zum Polizeipräsidium und was wird mir gezeigt?“

Er legte eine etwas längere Pause und schaute erwartungsvoll auf die Gesichter der beiden. Nachdem eine Antwort auf seine Frage weggeblieben war, fuhr er fort. „Kinder! Stellen Sie sich es vor, man hat mir Bilder von Kindern vorgelegt! Einfach lächerlich. Bilder von Kindern. Können Sie sich nun meine Verärgerung verstehen? Die ganze Anzeige bei der Staatsanwaltschaft war für die Katz. Bilder von Kindern… einfach lächerlich!“ Er sprach dabei recht langsam und betonte jedes Wort.

„Nein!“, schrie Frau Ehrlich völlig überrascht. Ihre Stimme war so laut, dass die Leute an den Tischen nebenan ihre Köpfe umdrehten und sie anschauten.

„Sooo… zweimal Sachertorte, zwei koffeinfrei und ein Milchkaffee...“, sagte die Bedienung von vorhin und legte ein Tablett auf den Tisch. Sie merkte wohl nicht, dass ihre breite Hüfte auf Jörgs linke Schulter drückte, sodass er mit seinem Stuhl nach rechts rutschen musste, da dieser Körperkontakt ihm unangenehm war.

„Doch! Es war so“, antwortete Jörg, nachdem die Bedienung sich entfernt hat.

„Das verstehe ich wirklich nicht“, mischte sich Herr Ehrlich ein, der die Gabel gerade in den Kuchen stecken wollte. „Ich habe irgendwie das Gefühl, dass die Beamten uns überhaupt nicht ernst nehmen“, sagte er dann.

„Wie meinen Sie es?“, fragte Jörg.

„Auch uns hat man Bilder von Kindern vorgelegt!“

„Das ist nicht möglich. Das kann einfach nicht sein!“, antwortete Jörg überrascht und schlug auf den Tisch, sodass die Tassen klirrten. Milchkaffee schwappte aus seinem Becher und landete in der Untertasse.

„Doch, doch…“, mischte sich Frau Ehrlich ein und setzte ihre Tasse, aus der sie eben einen Schluck getrunken hatte, auf die Untertasse ab. „Die Bilder, die ich gesehen habe, hatten absolut nichts mit dem Täter zu tun. Noch dazu waren sie recht unscharf.“

„Gab es auch Fotos von ziemlich alten Männern?“, wollte Jörg wissen, während er einige Servietten aus dem Spender herauszupfte und sie in die Untertasse legte, um sie zu trocknen.

„Jaaaa!“, sagten beide gleichzeitig und nickten mit dem Kopf.

„Eins der Bilder zeigte sogar ein farbiges Kind“, sagte Herr Ehrlich.

„Ja, das stimmt. Jetzt erinnere ich mich auch“, bestätigte Jörg. „Ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe versucht, den Polizisten darauf hinzuweisen. Er hörte mir aber nicht einmal zu. Meine Proteste stießen auf taube Ohren und brachten absolut nichts.“

„Ich bin mir sicher, dass es sich hierbei um ein Missverständnis oder um eine Verwechselung handelt. Einer der Polizisten braucht nur statt einer sechs eine acht geschrieben zu haben und so haben wir schon den Salat. Eine andere Möglichkeit kommt für mich nicht in Frage. Man kann uns nicht einfach falsche Bilder vorlegen oder womöglich sogar versuchen, uns auf diese Weise auf den Arm zu nehmen. Es wäre viel zu offensichtlich. Wir leben schließlich in einem demokratischen Land, in dem das Gesetz und das Recht, Gott sei Dank, noch einen gewissen Wert besitzen“, erklärte Herr Ehrlich und fuhr fort, „ich würde sagen, dass wir wirklich auf das Schreiben der Staatsanwaltschaft warten, bevor wir irgendetwas unternehmen. Sie werden sehen, dass es sich um ein Missverständnis handelt und die Staatsanwaltschaft wird sich bei uns deswegen entschuldigen. Nun lasst uns den Kaffee und den Kuchen genießen. Wie heißt es so schön? Carpe diem!“

Der Betrug

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