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Der Erbschein ist da

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Als ich nach Ostern einen Termin machen will, habe ich die alte Frau am Telefon, mit der ich mich im Ort schon mehrfach nett unterhalten hatte. Sie ist völlig aufgelöst, ihr Sohn ist Karfreitag überraschend verstorben. Schlaganfall mit 46 Jahren. Zunächst bin ich sprachlos, vereinbare mit ihr dann aber, mich später noch einmal zu melden.

Vom Nachbarn erfahre ich, dass der inzwischen Verstorbene hier im Ort eine junge Frau und drei Kinder hinterlassen hat. Sie waren allerdings schon geraume Zeit geschieden. Da gibt es noch eine Freundin und drei weitere Kinder. Die Nachkommen haben ebenfalls schon einige Kinder, die alte Frau letztendlich sechs Enkel und sieben Urenkel. Nun ist der einzige Sohn tot, mit 46 Jahren.

Na, bei dem Stress nicht verwunderlich, denke ich, beiße mir aber auf die Zunge.

Ende Mai bin ich wieder dort und werde durch eine Schar schreiender Kinder in die Küche gelotst. Auch die geschiedene Schwiegertochter ist anwesend. Ich spreche ihnen mein Beileid aus und das ist durchaus ernst gemeint. Ich leide mit, denn bei der jetzt entstandenen verworrenen Erbsituation wird es eine Weile dauern, bis wir alle Angaben und Belege für eine Grundbucheintragung des neu zu vermessenden Hofes haben werden.

Der Verstorbene und seine geschiedene Ehefrau stehen bis jetzt als Eigentümer im Grundbuch. Die Übertragung des großen Bauernhofs auf diese beiden haben die Eltern vor Jahren veranlasst, damit die jungen Leute einen Ausbaukredit bekommen. Eine Grundstücksteilung zu diesem Zweck war nicht möglich. Es sind eben unvermessene Hofräume. Leider haben es die Eltern versäumt, sich wenigstens ein lebenslanges Wohnrecht eintragen zu lassen.

Der Verstorbene war vor Jahren zu seiner Freundin gezogen. Die Ehefrau blieb bei ihren Schwiegereltern wohnen. Eine Tochter ist 27 Jahre alt und lebt mit zwei Kindern und dem im September zu erwartenden dritten mit auf dem Hof. Eine weitere Tochter ist erst 22 Jahre alt, hat aber bereits vier Kinder und lebt auswärts.

Alle sind aber oft und gern da, zumal die alte Frau seit Jahren für die gesamte Sippe nicht nur kocht, sondern meist auch zahlt. Sie sagt, „die haben doch alle nichts“. Keiner habe jemals gearbeitet, nur sie und ihr Mann in der Braunkohle bis zur Rente. Die Rente ist üppig, sie leben gut davon. Zweimal waren sie von der Knappschaft aus schon zur Kur, einmal sogar vier Wochen lang im höchsten Luxus, in Heringsdorf.

„Wissen Sie, wie das manchmal nervt mit den vielen Kindern?“, fragt sie mich. „Und wir haben alles bezahlt, wir bezahlen das Öl für die Heizung, den Strom, das Wasser und Abwasser. Und am liebsten wollen sie uns loswerden, wir sollten schon eine Mietwohnung im Ort nehmen. Jetzt ist der Freund der einen Enkeltochter mit hier, sie erwarten im September ein Kind. Der Freund ist ja zu ihr ganz nett, der vorige hat sie nur verprügelt. Aber die machen sich breit, jetzt züchten sie in unserer Scheune Karnickel und sonst sitzen sie den ganzen Tag im Hof und trinken Bier. Und Arbeit hat der Freund auch nicht. Die Ausbildung macht er wohl irgendwie fertig, obwohl er erst mal durch die Prüfung gefallen ist, aber danach sieht es düster aus.“

Als ich im Juni noch einmal vor Ort auftauche, werde ich schon auf der Straße empfangen: „Ach, hören Sie auf“, sagt die Frau. „Der Erbschein ist da, die Schwiegertochter und ihre Kinder bekommen alles. Und das hat alles einmal uns gehört, stellen Sie sich das mal vor. Wir werden uns jetzt eine Wohnung suchen, das hält man nicht mehr aus. Ich musste ihr ja sogar den Erbschein bezahlen, 170 Euro, die hat ja nichts.“

Kaum vermessen – schon vergessen

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