Читать книгу Kaum vermessen – schon vergessen - André Marcher - Страница 5

Оглавление

Außendienst ist gut fürs Gemüt. Und man erfährt etwas.

Vermesser geraten an Menschen, die Land verkaufen wollen oder müssen, die geerbt haben oder eine Regelung ihrer Hinterlassenschaften anstreben, die bauen wollen oder sich einfach nur streiten, z. B. um drei Zentimeter Garagenüberbauung. Die Vermesser sind immer schuld, auch wenn sie die Garage weder abgesteckt noch gebaut haben.

Schafe brechen aus, Mädchen werden schwanger, die Vermesser sind immer schuld.

Und hinter all dem täglich Erlebten stecken aber nicht nur Ärgernisse, sondern Geschichten und immer auch Geschichte. Kleine Fetzen davon sind hier dem Alltag entrissen und in wenigen Zeilen festgehalten.

Im Buch wird scheinbar längst dem Vergessen Anheimgegebenes hervorgeholt, in der Hoffnung es durch neue Verbreitung vielleicht bewahren zu können.

André Marcher

Leipzig im Dezember 2012

Eingangs

Mein Beruf ist Geodät.

Haben Sie so etwas schon einmal gehört oder gelesen?

Landvermesser ist der sicher verständlichere Ausdruck. Ich vermesse nunmehr tatsächlich nur noch Land. Das war nicht immer so. Noch vor einiger Zeit herrschte in Leipzig ein regelrechter Bauboom. Ich habe heute noch den Geruch von frischem Beton in der Nase, der mein Leben jahrelang begleitet hat. Meine Schienbeine sind voller Narben von den vielen Bewehrungseisen, über die man auf jeder Baustelle zwangsläufig stolperte. Um mein linkes Auge ziehen sich grobe Falten. Die stammen vom ständigen Zusammenkneifen, wenn man mit dem rechten Auge durch das Okular des Messinstrumentes schaut.

Probieren Sie das mal. Jetzt gleich! Ein Auge zukneifen. Meine Physiotherapeutin würde nun sagen: „Und halten!“

Sie schaffen das auch. Halten!

In der Zwischenzeit erzähle ich weiter. Jetzt bin ich Landvermesser. Seit einigen Jahren schon.

Dorfbewohner, darunter Bauern mit riesigen Agrarbetrieben, aber auch kleine Bäuerlein im Nebenerwerb, Gewerbetreibende aller Art, einfache und komplizierte Hausbesitzer, Hausfrauen und Hausmeister sind meine Klientel.

Halten Sie noch?

Ich bin ruhiger geworden. Nicht, dass ich früher hektisch war. Ich hatte immer mal wieder mit italienischen Bauarbeitern zu tun. Die reden oder singen den ganzen Tag. Und das entscheidende Wort lautete: Domani! Morgen wird es auch noch, soll das heißen.

Dennoch habe auch ich Termine zu halten.

Apropos: Bitte weiter halten!

Und doch bin ich ruhiger geworden. Der Zeitdruck lässt mich nicht mehr kollabieren. Wissen Sie, was Flurneuordnungen sind? Oder wo man ungetrennte Hofräume findet? Sie müssen meine Fragen nicht beantworten können. Auch ein spezieller Lehrgang ist nicht notwendig. Nach der Lektüre meiner Zeilen werden Sie einiges von dem ahnen, was Vermesser so den lieben langen Tag treiben, warum sie Fluren bereinigen und sich um Hofräume kümmern, wenn diese getrennt werden müssen.

Und wenn Sie jetzt das Auge wieder locker lassen, wird Ihnen auch das Lesen nicht so schwerfallen.

Meine Leidenschaft ist das Sammeln. Wie heißt man da? Vielleicht Sammler. Im Grunde bin ich nur ein Zuhörer. Die meisten wissen es zu schätzen, wenn ich ihnen einfach zuhöre. Und mich interessieren ihre Lebens- und Alltagsgeschichten. Warum? Habe ich nichts Besseres zu tun? Habe ich nicht eben behauptet, ich müsse einen Flur reinigen und den Müll im Hof trennen oder so ähnlich? Warum muss ich da noch sammeln?

Vermesser sind schon eigenartige Leute!

Kaum vermessen – schon vergessen

Подняться наверх