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Garagengrundstück

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Meine nächsten „Klienten“ wohnen in einer kleinen engen Gasse mit eingeschossigen Gebäuden, Haus an Haus wie meistens in einer Altstadt. Alle Häuser haben nach Süden einen kleinen schmalen Garten, den man vom Stadtgraben aus auch über einen Weg erreichen kann.

In den 1970ern schafften sich die Leute Autos an und wollten diese auch irgendwie unterstellen. Wer Land hatte, baute sich eine Garage. Andere pachteten diese mitunter weit von der eigenen Wohnung entfernt.

Hier nun war in den meisten Fällen Land vorhanden, aber die Grundstücke waren und sind viel zu schmal. Das erweist sich bis heute als manchmal unlösbares Problem.

Als ich am späten Nachmittag bei einer Familie klingele, öffnet mir eine freundliche adrette Frau. Sie und ihr Mann sind beide bereits Altersrentner, Mitte sechzig, sehen aber jünger aus. Und siehe da, der Schein trügt nicht. Sie erzählt mir, dass sie noch stundenweise in einer Boutique arbeite und er ebenfalls noch tätig sei, im hiesigen Spaßbad. Hier bei den beiden „Jüngeraussehenden“ werde ich seit Langem auch wieder einmal zum Kaffeetrinken „genötigt“. Na gut, es ist halb vier Uhr nachmittags und es ist frischer Kuchen aufgetischt. Außerdem haben beide ein kniffliges Anliegen, bei dem ich ihnen helfen soll. So schnell komme ich hier nicht wieder heraus, also kann ich mir auch mal ein „Käffchen“ genehmigen.

Beide haben zu DDR-Zeiten das Grundstück ihrer Nachbarin erworben, einer älteren Dame, die ins Pflegeheim kam. Grund des Erwerbs war insbesondere, einen breiteren Garten zu bekommen, um Platz zu gewinnen für den Bau einer Garage. Denn ihr eigenes Grundstück war keine drei Meter breit. Ich erfahre, dass man damals zwar ein Grundstück erben, aber kein zweites kaufen konnte, wenn man schon Grundbesitzer war. Also wurde alles über den damals gerade erwachsen gewordenen Sohn abgewickelt. Nun hatte man zwei Häuser und einen größeren, jetzt fünf Meter breiten Garten, in dem dann die Garage gebaut wurde.

Der Sohn, der eigentlich in das zweite Haus einziehen sollte, hatte nach der Wende große Pläne und brauchte Geld. Ohne sich weiter mit seinen Eltern abzustimmen, fand er einen Käufer für das Haus, sackte das Geld ein und war weg. Alle waren bis vor kurzem der Meinung, sie hätten seinerzeit nur das Haus verkauft, zumal der neue Besitzer keinerlei Anspruch auf das Grundstück dahinter geltend machte. Mit der Vermessung zum jetzigen Zeitpunkt stellte sich heraus, dass der Kaufvertrag natürlich auf den kompletten Anteil am ungetrennten (unvermessenen) Hofraum bezogen war und damit nun Jahre nach dem Verkauf ein schwerer Konflikt entstanden ist.

Um es kurz zu machen, die fehlende Kommunikation innerhalb der Familie hat die „Jüngeraussehenden“ um einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens gebracht, denn nicht nur Grund und Boden, sondern auch die darauf errichtete Garage mussten nach der Vermessung entschädigungslos an den Nachbarn abgetreten werden.

Wie aber kam es, dass es fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit noch unvermessene Grundstücke gab? Diese Erscheinung war eine Folge der preußischen Grundsteuerreform von 1861. Die für die damals vorgesehene Besteuerung in einigen Gegenden nötige Vermessung der Grundstücke, u. a. in den von 1815 bis 1952 zeitweise zu Preußen gehörigen sächsischen Landesteilen, konnte nicht im erforderlichen Tempo durchgeführt werden. Also verzichtete man darauf und ließ als amtliches Verzeichnis im Sinne der Grundbuchordnung das damalige Gebäudesteuerbuch zu. Betroffen von diesem Problem waren nicht nur kleine Dörfer, sondern oft auch ganze Innenstädte. Ohne dem Leser weitere Details aufzunötigen, nur noch so viel: Im Liegenschaftskataster waren solche Flächen nicht erfasst. Das Grundbuch sagte demzufolge auch nichts über die genaue Lage und Größe der Teilflächen aus, sondern führte sie nur als "Anteil an einem ungetrennten Hofraum". Nach der Wende stellte man schnell fest, dass Grundbesitz, der im Grundbuch nur als Anteil am ungetrennten Hofraum mit Angabe der Flur- und Hausnummer eingetragen ist, kein Grundstück im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein kann und versuchte Abhilfe zu schaffen. Die Vermessung wurde also erst 150 Jahre nach der preußischen Grundsteuerreform vorgenommen.

Gut Ding will Weile haben …

Kaum vermessen – schon vergessen

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