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Menschen und Hofräume Meine Frau ist Doktor

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„Meine Frau ist der Doktor, ich bin nur der Herr M.“, sagte er mir am Telefon. Und sie hätten beide eigentlich keine Zeit, höchstens früh morgens ab fünf Uhr. Ich stutze und entscheide mich für eine Rückfrage: „Geht es auch ein bissel später, es geht schließlich um die Vermessung Ihres Grundstücks, nicht um meins. Und sehen müsste ich schon etwas.“

„Nur bis sieben“, ist seine Antwort. Da habe ich ja Glück, dass ich sein Grundstück nicht kurz vor Weihnachten besuchen muss. Aber gesagt, getan. Ich stehe um vier Uhr früh auf, um kurz nach sechs Uhr bei Frau Doktor und Herrn M. vor dem Haus zu stehen. Ich gönne mir ja sonst nichts. Und einen kleinen Vorteil hat das Ganze, ich erlebe einen herrlichen Sonnenaufgang auf dem flachen Lande. Der beste Einstieg also für ein Montagmorgen-Gute-Laune-Programm.

„Ich muss los, was brauchen Sie?“ So empfängt mich Frau Doktor der Biochemie am Tor.

„Na Moment“, sage ich, ich gebe ihr einige kurze Erläuterungen. „Und dann brauche ich vor allem Ihre Unterschrift.“

„Geben Sie schon her, den Rest macht mein Mann.“ Im Gehen signiert sie mein Verhandlungsprotokoll und ich will ihr als Dank dafür den Wunsch für einen schönen Arbeitstag noch mit auf den Weg geben. Es gelingt mir auch. „Na, nun muss ich wegen Ihnen heute ja länger machen, das ist nicht so schön“, muffelt sie zurück.

Wir sind in Deutschland, an einem ganz normalen warmen Frühlingsmorgen. Das Thermometer zeigt schon einige Plusgrade an und die ersten Sonnenstrahlen könnten die Haut bereits erwärmen und bis zur Seele vordringen, wenn man sie denn ließe.

Der Mann von Frau Doktor hat etwas mehr Zeit und erzählt mir sogar, dass er in leitender Funktion bei einem großen deutschen Energieversorger arbeitet. Bei der kürzlich erst vollzogenen Fusion verschiedener Energielieferanten hat die beaufsichtigende Behörde insofern Einfluss genommen, dass nun mehrere eigenständige Firmen unter einem Dach entstanden sind. Was heißen soll: Da ist viel in Bewegung, auch was den Abbau von Sozialleistungen angeht, zum Beispiel anzurechnende Arbeitsjahre und Manteltarifverträge. Und er befürchtet für sich das Schlimmste, wenn die Vorruhestands- bzw. Altersteilzeitregelungen irgendwann wegfallen sollten. „Machen kann man ohnehin nichts.“ Er ist Anfang Fünfzig, denke ich. Da wird das tatsächlich gerade nicht passen. Was weiß man schon, was in einem Jahrzehnt sein wird.

Auf dem idyllisch anmutenden Dreiseitenhof stehend, fällt mir der Lärm auf. „Das ist die Autobahn“, winkt Herr M. resigniert ab. Die neue Autobahn hinter dem Hof führt, was den Lärm angeht, sozusagen durch das Schlafzimmer. „Die Pläne sollen ja ausgelegen haben. Und wenn wir das geahnt hätten“, sagt er, „hätten wir uns damals vielleicht mehr darum kümmern sollen.“

Ja, denke ich, da vielleicht auch.

Kaum vermessen – schon vergessen

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