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Kaum vermessen – schon vergessen

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Eine kleine verschlafene Gasse. Wie im Mittelalter.

Pünktlich um 14 Uhr klingele ich an der Haustür. Nach einer Weile öffnet ein älterer Herr ein Fenster im ersten Geschoss und sieht mich etwas fragend an.

„Ich bin der Vermesser“, versuche ich zu erklären. „Ich war doch mit meinem Messtrupp schon mal da.“

„Ach, das habe ich total vergessen“, meint er.

Kaum vermessen, schon vergessen.

Es stellt sich heraus, dass der Herr ganz nett ist. Wie die meisten Anderen fragt auch er mich als Erstes, warum ich denn nun noch einmal komme, wo ich doch mit den Kollegen schon da war. Also rattere ich von vorn mein Anliegen herunter: Alles kontrollieren, protokollieren und so. „Und dann brauche ich natürlich Ihre Unterschrift.“

„Und dann kommt die Rechnung?“, fragt er. „Im Prinzip ja, aber alles viel später, in diesem Jahr nicht mehr“, kann ich ihm versichern. „Keine Angst“, sagt er, „Geld habe ich. Was glauben sie, wie lange ich gearbeitet habe? Fünfzig Jahre, Wehrdienst eingerechnet. Haben Sie das mit dem Günter Grass4 gelesen und der SS? Es ist genauso gewesen, wie er das beschreibt. Uns Halbwüchsige haben sie stundenlang eingesperrt, bis sie ausreichend Unterschriften hatten. Das war 1944, da war ich sechzehn. Mich Untersetzten hätten die vor dem Krieg nie genommen. Da mussten die SS-Leute dem arischen Bild entsprechen, groß, blond, blauäugig. Aber kurz vor Kriegsende nahmen die alles, was zwei Beine hatte und ein Gewehr halten konnte. Ich bin davongekommen, die haben uns abends wieder raus gelassen, nachdem sie von einigen die Unterschrift hatten. Zwei aus meiner Schulklasse haben unterschrieben. Die sind aus dem Krieg nicht wieder gekommen. Ich wollte zwar den Krieg auch gewinnen, aber nicht bei der SS. Ich war ein guter Skifahrer und wollte zu den Gebirgsjägern. Ich bin doch Sudetendeutscher und war als Jugendlicher am Aschberg Skispringer.“

Gebirgsjäger, ein eigenartiges Wort, denke ich. Es klingt nicht nach Krieg, eher nach Natur und Freiheit. Sage ich aber nicht. Stattdessen frage ich vorsichtig zurück: „Am Aschberg, als Sudetendeutscher?“

„Ich bin Schwaderbacher, wir haben gleich hinter der Grenze gewohnt“, sagt er.

„Bublava“, fällt mir daraufhin ein.

„Ja“, sagt er, „das heißt heute Bublava. Kennen Sie das?“ Und fährt fort: „Können Sie sich das heute noch vorstellen? Wir waren Deutsche in der Tschechoslowakei, doch das Einzige, woran man das merkte, war die Währung. Wir hatten Kronen. Die Grenze war offen. Bis 1918 gehörten wir zu Österreich-Ungarn, dann wurde die Tschechoslowakei gegründet. Dann kam die Machtübernahme Hitlers 1938 im sudetendeutschen Gebiet. Ein Jahr später marschierte er auch in der Rest-Tschechoslowakei ein. Schon als Kinder fuhren wir Ski und sprangen von selbst gebauten Schanzen. Mein großes Vorbild Birger Ruud, ein Norweger, sprang auf der nahe gelegenen Aschbergschanze, die auch mein Domizil werden sollte. Unsere Sportler starteten immer schon zwar als tschechoslowakische Bürger, aber bei deutschen Sportklubs, wie dem WSV Klingenthal. Die alte Aschbergschanze lag übrigens am Nordhang und wurde nach dem Krieg abgerissen. Das Kriegsende habe ich als 17-jähriger Infanterist bei München überlebt. Wir wurden von den Amerikanern interniert und nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Ich hatte nur eins im Kopf, ab nach Hause! Ich war ein Volltrottel. Kaum war ich über die Grenze, wurde ich wie andere Heimkehrer auch, zum Strafdienst ins Mährische eingezogen. Zum Glück bin ich dort nach sechs Wochen Bergwerk wieder freigekommen, weil ich als zu jung eingestuft wurde. Die anderen blieben noch ewig und manch einer kam gar nicht zurück. Keiner konnte sich vorstellen, dass es für uns keine Heimat mehr geben würde. Noch einen Tag vor der Umsiedlung haben unsere Nachbarn die Kartoffeln für den Winter eingebracht. Und dann war einfach Schluss. Alles, was vorher einen Wert gehabt hatte, wurde unwichtig. Grundstücke und Gebäude, Tiere und Landtechnik, alles wurde zurückgelassen. Meine Eltern haben das nie verwunden. Und dann kamen wir hierher ins Flachland, aufs Dorf. Was soll ich Ihnen sagen, wir waren die ärmsten Schweine, die Habenichtse, im Grunde auf einer Stufe mit Asozialen oder Kriminellen. Die Bauern haben abends die Vorhänge schön dicht zugezogen, damit wir nicht sahen, was die alles zu essen hatten. Die konnten sich ja auch nicht vorstellen, dass wir mal ganz normale Leute waren, so zerlumpt und abgewrackt, wie wir alle ankamen. Untergebracht wurden wir zunächst in Scheunen, später irgendwie aufgeteilt. Ich bekam Arbeit in der Ziegelei und fing an, Fußball zu spielen. Und weil das alles ganz gut klappte, nahm mich mein Meister, der auch im Fußballverein war, eines Tages zur Seite und meinte, so geht das nicht weiter. Bei deiner schweren Arbeit brauchst du ein richtiges Dach über dem Kopf. Und dieses kleine alte Haus, in dem wir jetzt stehen, war frei. Ich verdiente damals 178 Mark im Monat und konnte dann jahrelang monatlich 100 Mark abstottern. Ich war sparsam, sehr sparsam. Aber ich hatte was Eigenes. Aus meinen Kindern ist was geworden. Die haben alle was Eigenes und ich sage Ihnen, was für schöne Häuser! Meine Tochter ist mit dem Direktor der Kurklinik verheiratet. Einer meiner Enkel verdient sich sein Geld mit Kanalsanierung in aller Welt. Der schreibt immer aus Amerika und Australien. Wir waren immer die Flüchtlinge, diesen Makel bekamen wir nie los. Aber hier mit dem Haus, mit den Kindern oder auch mit dem Fußball habe ich mich selbst aus dem Sumpf gezogen. Na, die Kinder wollen davon nichts mehr wissen, aber Sie verstehen mich? Ich habe mit meinem Nachbarn in einer Mannschaft gemeinsam Fußball gespielt. Wir waren jahrelang ein Traumduo. Verstehen Sie, wie ich mich gefühlt habe, dass ich als Flüchtling die Tore geschossen habe? Waren sie schon bei meinem Nachbarn? Der ist der Schwiegervater von zwei Fußballnationalspielern. Stellen sie sich das mal vor.“ Er erzählt mir die unglaubliche Geschichte, wie erst der Dingens die eine Tochter geheiratet und später seinen Freund mitgebracht hat. Tatsächlich hat der Gefallen an der jüngeren Schwester gefunden und mittlerweile auch in die Familie eingeheiratet. „Und mein Nachbar war ein Fußballverrückter. Der war Sportlehrer, das passte.“

Voller Stolz zeigt mir der alte Herr seine Bücher: einen Bildband von Schwaderbach mit Adresslisten, in denen auch sein Vater auftaucht; ein Buch über den Sport in Schwaderbach zwischen 1939 und 1945, in dem er erwähnt ist und kleine Artikel über den Ort in einem Monatsblättchen, das er über den Bund der Vertriebenen bezieht.

„Ich war erst wieder dort vor Kurzem“, sagt er. „Ich könnte Ihnen heute noch die Stellen zeigen, wo die Häuser waren. Die Gebäude in Grenznähe wurden Anfang der Fünfziger Jahre abgerissen. Aber die Infrastruktur war noch da. In den Folgejahren sind dort Bungalows hingebaut worden, da konnte man die Wasser- und Stromanschlüsse gleich wieder verwenden.“

„Haben Sie noch Verwandte in der Region?“, frage ich.

„Im Vogtland habe ich noch einen entfernten Verwandten. Aber auch in Schwaderbach hat bis vor Kurzem noch eine Verwandte gewohnt.“

„Wie kam das? Warum konnte die bleiben? War die mit einem Tschechen verheiratet?“

„Nein, bleiben durften damals einige unentbehrliche Leute, also Spezialisten, die in Falkenau in der Industrie arbeiteten. Das gab es schon. Aber die meisten sind dann irgendwann in den Westen ausgereist und mussten dafür sogar noch Unsummen auf den Tisch blättern. Wir dagegen kamen kostenlos weg“, sagt er sarkastisch.

„Sie verstehen mich?“, fragt er zum Abschied noch einmal. So, als wollte er sagen: Wir waren doch eigentlich gut, wir waren keine Asozialen, wir haben etwas aus der verkorksten Situation gemacht.

Kaum vermessen – schon vergessen

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