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Das Haus war nicht zu retten

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Bevor ich mich mit der nächsten Familie treffe, teste ich erst einmal ihren Laden. Sie betreibt ein Fleischergeschäft direkt am Markt.

Auf dem Marktplatz sind Tische und Stühle unter Sonnenschirmen aufgestellt. Und das Wichtigste: Es wird eine Mittagsversorgung angeboten, deftiges Essen zu soliden Preisen. Ich entscheide mich für etwas, was ich gar nicht kenne: Wellklops. Dabei stellt sich heraus, dass Wellklops nichts anderes ist als Hackfleischbällchen mit untergemischtem Gemüse. Bei herrlichen 26 Grad Celsius im Schatten genieße ich meine Mittagspause, also die Zeit, die ich mir selbst zwischen zwei Terminen frei gehalten habe.

Was mache ich eigentlich die letzten zwei Jahre? Ich reise herum wie ein Handelsvertreter, verkaufe aber nichts. Es ist eher so, dass ich den Leuten meine Vermessungsergebnisse aufdränge, damit diese unterschreiben und auch noch dafür zahlen müssen. Es handelt sich um staatliche Verfahren: Unvermessene Grundstücke, das Erbe preußischer Besatzung, darf es nicht mehr geben. Die Vermessung wird angeordnet und der Bürger darf zahlen. Basta!

Natürlich spielt das in den Gesprächen eine Rolle, keine Frage. Eine eigenartige Tätigkeit.

Die Familie jedenfalls bittet mich nach dem Essen in ein „Hinterstübchen“. Das ist der ausgebaute Dachboden einer alten Scheune. Er dient jetzt als Partyraum für Familien, die größere Feierlichkeiten haben, zu Hause jedoch zu wenig Platz. Die Fleischerei bietet diesen Platz und dazu noch die kulinarische Versorgung. Es ist eins von mehreren Standbeinen. Die Imbissversorgung gehört genauso dazu wie der Partyservice.

Ich habe es mit netten Leuten zu tun, die akzeptieren, etwas für die ungewollte Vermessung zahlen zu müssen. Ich bewundere ihr schönes altes Haus, das sie offenbar aufwändig saniert haben. „Das ist alles komplett neu“, sagt der Hausherr, „erst 1993 erbaut. Das alte Haus stand natürlich unter Denkmalsschutz, direkt am Markt gelegen und gegenüber vom historischen Rathaus.“ „Und wie haben Sie das geschafft?“, frage ich. „Es war nicht einfach“, sagt er. „Wir standen vor der Wahl, Sanierung des Hauses von Siebzehnhundertundundund oder Neubau. Etwas tun mussten wir wegen der neuen Auflagen nach der Wende für das Geschäft. Nachdem sich ein Architekt der Sache angenommen hatte, stand schnell fest, dass ein Neubau billiger sein würde. Jetzt kamen die Gutachter. Und die mussten etwas finden, damit wir eine Abrissgenehmigung bekommen.“ Augenzwinkernd raunt er mir zu: „Natürlich fanden sie alles Mögliche: Holzwürmer, Schwamm etc. Das Haus war nicht zu retten. Schließlich durften wir ganz neu bauen. Allerdings waren die Auflagen für den Neubau auch nicht zu verachten, denn die Vorderfront sollte dem historischen Vorbild in nichts nachstehen. Wir haben extra Sandsteinbögen für das Tor und die Schaufenster einbauen lassen, mussten auch wieder Gauben ins Dach aufnehmen. Aber es hat sich gelohnt. Hatten wir vorher einen riesigen ungenutzten Dachboden, so sind es heute drei komplett ausgebaute Etagen. Und von unseren vier Kindern sind noch zwei im Haus. Den Platz haben wir auch dringend gebraucht. Und wir haben kürzlich unseren Kredit und die Grundschuldeintragung im Grundbuch tilgen können. Jetzt gehört das Haus wirklich uns.“ Bei diesen Worten atmet die Frau zu meiner Rechten tief durch. Er sagt, es habe Zeiten gegeben, da hätten sie nicht mehr daran geglaubt, da sei gar nichts gelaufen im Geschäft. Sie hätten viele schlaflose Nächte gehabt in den letzten Jahren. „Und jetzt fahren wir zum ersten Mal vierzehn Tage in den Urlaub“, ergänzt die Frau. „Wir haben seit über zehn Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Was glauben Sie, wo unsere Angestellten überall waren in dieser Zeit, wir konnten uns das nicht leisten. Aber nun ist alles überstanden.“

Kaum vermessen – schon vergessen

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