Читать книгу Ackerblut - Andre Rober - Страница 5
Es war der Wasserwerfer, dessen
ОглавлениеEinsatz die Stimmung bei der Demonstration eskalieren ließ. Anfangs wurden die Teilnehmer von dem kalten Strahl nur in die Flucht geschlagen. Jetzt war die Wasserfontäne, die gezielt auf die Personen gerichtet wurde, welche sich den Polizeihundertschaften näherten, so hart und konzentriert, dass die Menschen förmlich weggespült wurden. Kleidung zerriss, mit aufgeschlagenen Knien und gebrochenen Rippen traten die Getroffenen den Rückzug an. Manch einer konnte nur noch durch den Matsch kriechen, um zurück in den Schutz der skandierenden Menge zu gelangen. Der Uniformierte in der ersten Reihe, dem die Demonstranten mehrfach sehr nahegekommen waren, blickte skeptisch auf den gepanzerten Wasserwerfer. Immer wieder lösten sich einige Menschen aus dem Pulk, deren Versuch, sich den Einsatzkräften zu nähern, sofort mit einem Schwall Wasser abgestraft wurde.
Warum musste die Situation derart entgleiten? fragte sich der Polizist. Die Demonstration bot zwar einiges an Konfliktpotential, war bis zu diesem Zeitpunkt aber friedlich verlaufen. Und das Anliegen der aufgebrachten Menge war durchaus hehr.
Gegen die Sammlung privater Daten!
Stopp dem Zugriff der Geheimdienste!
Keine totale Überwachung!
Recht auf Anonymität!
Das Volk wird verkauft!
Mein Privatleben gehört mir!
Die Plakate und Banner waren mannigfaltig und zielten al-le auf dasselbe Thema ab: die zunehmende Überwachung der Kommunikation und des öffentlichen Raumes sowie die Speicherung der Daten seitens der Behörden. Entfacht worden war die Diskussion, als die EU-Länder als Reaktion auf die Anschläge auf die Züge in Madrid weitgehende Maßnahmen angekündigt hatten. Neben der Vorratsdatenspeicherung, dem Ausbau der öffentlichen Überwachung und des verbesserten Informationsaustausches zwischen den Geheimdiensten, war es auch die Neuausrichtung des Joint Situation Center kurz JSC, die den Unmut der Kritiker hervorrief. Der Polizist war gut informiert. Allzu gerne wäre er auf der anderen Seite der sich immer mehr verhärtenden Fronten, denn auch seiner Meinung nach war die Konzentration und Vernetzung von privaten Daten eine sehr diffuse, jedoch ernstzunehmende Bedrohung der freien Gesellschaft. Insofern konnte er nicht verstehen, warum in dieser Härte gegen die Demonstranten vorgegangen wurde. Jenseits der schlammigen Wiese waren auch Mütter mit Kinderwagen, Jugendliche, ältere Menschen, ein Querschnitt aus allen Bevölkerungsgruppen, die mit ihrer Anwesenheit und ihrer Stimme der Sorge um eine Zukunft in Freiheit und ohne staatliche Kontrolle Ausdruck verleihen wollten.
Anke Werth konnte sich inmitten der skandierenden Menge kaum bewegen. Das Gedränge war so dicht, dass sie keine Chance hatte, darüber zu bestimmen, wohin sie ihre Schritte lenkte. Immer wenn die Masse versuchte, den kalten, harten Wasserfontänen auszuweichen, wurde sie mitgerissen; mal in die eine, mal in die andere Richtung. Anfangs, als der Kontakt zu den anderen Demonstranten noch eher locker war und sie, einer Art Schwarmintelligenz folgend, selber aktiv in Deckung gegangen war, fand sie das Ganze noch ein wenig belustigend. Ineinander gehakt vermittelten die gemeinsame Bewegung und die Sprechchöre eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl im Kampf gegen einen überlegenen Gegner. Aber jetzt, da sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper hatte, missfiel ihr die Situation zusehends. Nur zwei Meter neben ihr konnte sie beobachten, wie eine junge Frau mit einem bunten Kopftuch über ihrem Rastafari scheinbar lautlos schrie und mit den Armen versuchte, sich an den Schultern der sie Umgebenden nach oben zu drücken. Auf ihrem geröteten Gesicht machte sich zusehends Angst, ja fast Panik breit, während sie, genau wie Anke, in dem Getümmel umhergewirbelt wurde. In der Masse wurde die missliche Lage der jungen Frau offenkundig nicht wahrgenommen, nur Anke schien ihr Schicksal nicht gleichgültig zu sein. Ihre Blicke trafen sich. Für Anke war klar: Sie würde sich nicht ohne dieses Mädchen aus dem Gerangel zurückziehen. Unter dem Einsatz ihrer Ellenbogen und mit lautem Schreien arbeitete sie sich das kurze Stück nach vorne. Sie nutzte die erste Chance und griff nach dem Ärmel der ihr unbekannten Frau, die mittlerweile wieder mit beiden Füßen auf dem Boden stand.
»Halt dich fest«, rief sie und versuchte mit ihrem linken Arm eine kleine Lücke offenzuhalten, die sich für einen Moment gebildet hatte. Noch bevor der Wollpullover, in dessen dicke Fasern Anke ihre Finger krallte, der Belastung nachgab, schaffte es der Teenager ihrerseits, Ankes Handgelenk zu fassen. Sofort zog Anke sie zu sich und machte bereits einen Schritt rückwärts, prallte jedoch mit dem Rücken gegen eine Mauer von Demonstranten. Unfassbar! Es gab immer noch jede Menge Menschen, die weiter in die entgegengesetzte Richtung drückten, um an die Front der Auseinandersetzung zu gelangen. Bilder von der Love Parade in Duisburg kamen Anke in den Sinn. Auch in ihr stieg nun Panik auf. Immerhin konnte sie die junge Frau, die um Luft rang und einen Arm auf ihre offensichtlich schmerzende Brust drückte, an der Schulter fassen. Kaum fühlte sie Ankes Umarmung, knickten ihr die Knie ein und sie drohte, zu Boden zu sinken.
»Wir müssen hier raus«, schrie Anke dem Mädchen ins Ohr. Ein dankbarer Blick und eine merklich erhöhte Körperspannung gaben ihr zu erkennen, dass die junge Frau sich nicht aufgegeben hatte. Gemeinsam stemmten sie sich gegen die nachrückenden Demonstranten und Anke tat alles, um die Reihen zu durchbrechen ohne den Kontakt zu ihrem Schützling zu verlieren.
Nach etwa zehn Minuten hatten sie sich durch das Ärgste hindurchgewühlt. Es befanden sich immer noch sehr viele Menschen um sie herum, jedoch mussten sie sich nicht mehr mit den Ellenbogen den Weg bahnen, sondern konnten meist schon mit einem festen Blick die Reihen öffnen und sich gegen den Strom fortbewegen. Erst als sie nur noch vereinzelt auf jemanden trafen, schlugen sie den Weg zum Rand des Feldes an. An einem tiefen Wassergraben sanken sie schließlich Arm in Arm zu Boden. Die junge Frau weinte bitterlich und musste zwischendurch heftig husten. Anke strich ihr über die Rastalocken und sprach beruhigend auf sie ein.
»Ist ja gut, es ist vorbei! Du hast es geschafft!«
Das Mädchen nickte, hob den Kopf und lehnte ihn an Ankes Schulter. Bis auf die verquollenen Augen war sie sichtlich entspannter, die angestrengte Röte war einer der Erschöpfung geschuldeten Blässe gewichen. Anke betrachtete das hübsche Gesicht des Teenagers. Sie war bestenfalls siebzehn Jahre alt, hätte somit Ankes Tochter sein können. Mit ein wenig Stolz über ihre erfolgreiche Rettungsaktion lächelte sie verhalten, während sie weiter Augen, Nase und Mund des Mädchens studierte. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und musste ebenfalls lächeln.
»Glaubst du, du bist verletzt? Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«, fragte Anke.
Mit einem Kopfschütteln richtete sich die junge Frau auf und setzte sich auf ihre Fersen.
»Ich bin okay«, sagte sie und tastete ihre linke Seite und die Brust ab.
»Ein paar blaue Flecke, fürchte ich, aber mehr nicht.«
Sie lehnte sich ein wenig zurück und sah sich um.
Anke beobachtete sie, wie sie erst die tobende Menschenmenge betrachtete, dann das freie Feld in Augenschein nahm und schließlich mit müden Augen in den Wassergraben starrte. Zuerst schien es Anke nur ein Blick ins Leere zu sein, doch dann bemerkte sie eine Veränderung im Ausdruck ihres Gegenübers. Ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln, dann wurde ihr Blick fester, so, als ob etwas ihr Interesse erregt hatte, sie aber noch nicht in der Lage war, zu erkennen um was es sich dabei handelte. Neugierig verfolgte Anke die Nuancen im Mienenspiel des Mädchens, dessen Augen nun eindeutig etwas fixierten. Als die Ungläubigkeit aus dem Gesicht gewichen war und sich zunehmend Entsetzen breitmachte, spürte Anke, dass der Teenager ihre Hand förmlich zerquetschte. Sie folgte dem Blick hin zu einer Stelle, die sich um die fünfundzwanzig Meter entfernt im Wasser des etwa anderthalb Meter tiefen Grabens befand. Erst konnte sie nicht erkennen, was die junge Frau derart erregte. Doch dann erkannte sie die Sohlen zweier Stiefel, die in ihre Richtung zeigten. Anke legte die Hand auf den Mund! Was sie zuerst für einen Ast gehalten hatte, in dem sich eine Tüte oder ein Stück Stoff verfangen hatte, identifizierte sie nun als einen Arm, der seltsam abgewinkelt an der Böschung aus dem Wasser herausragte. Nun war es eindeutig: Im Wasser lag, mit dem Gesicht nach unten, ein menschlicher Körper!
»Thomas?« Helen Dörr, Gröbers Sekretärin und die gute Seele der Abteilung, steckte den Kopf in den Besprechungsraum, wo immer noch Bierman, Polocek und Berner beisammensaßen und Sarah einen Einblick in die polizeiliche Arbeit in der Breisgaumetropole gaben. Natürlich war auch der ein oder andere Tipp zur Wohnsituation, zu Gastronomie oder Freizeitaktivitäten zur Sprache gekommen. Gerade hatte sich Nico Berner Sarah als ihr persönlicher Begleiter für das städtische Nachtleben angeboten, als das Klopfen Berner fürs Erste vor der Peinlichkeit einer höflichen aber sehr bestimmten Abfuhr bewahrte.
»Ja, Helen, was gibt’s?« Bierman unterbrach Berners Redefluss mit einer rüden Geste seiner rechten Hand.
»Wir haben einen Todesfall bei der Großdemo am Flugplatz.« Helen betrat das Besprechungszimmer.
»Nachdem die Situation eskaliert war und die Menge mit Wasserwerfern aufgelöst wurde, fand sich in einem der Abwassergräben eine männliche Leiche. Jetzt werden natürlich die Rufe laut, die Einsatzpolizei hätte den Tod verschuldet. Ziemlich aufgeheizte Stimmung da draußen.«
Nico Berner verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Helen fuhr fort.
»Das Einsatzteam der Schutzpolizei, das die Demo betreut hat, kommt aus Stuttgart, so dass nichts dagegenspricht, wenn wir die ersten Ermittlungen durchführen. Gröber möchte, dass du«, sie wandte sich an Bierman, »Frau Hansen mitnimmst und ihr zwei alles in die Wege leitet.«
Bierman stand auf.
»Okay.«
Er richtete seinen Blick auf Sarah.
»Sind Sie bereit? Fehlt noch was in Ihrer Ausrüstung?«
Sarah erhob sich ebenfalls.
»Meine Waffe habe ich noch nicht, die bekomme ich morgen. Ich muss noch auf dem Schießstand den sicheren Umgang demonstrieren und die erforderlichen Schießergebnisse erreichen. Ansonsten bin ich vorbereitet.«
Sie schob ihren Stuhl an seinen Platz.
»Aber ich glaube nicht, dass ich sie jetzt brauchen werde, oder?«
Bierman schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht.«
Er packte seine Unterlagen zusammen und steckte sie in eine speckige Ledertasche.
»Und Sie müssen hier nochmal den Umgang mit der Schusswaffe unter Beweis stellen, obwohl Sie schon in Schleswig-Holstein bei der Polizei waren? Seltsam.«
»So wollen es wohl die Vorschriften. Außerdem hatte ich in Schleswig-Holstein die Sig Sauer P225 und hier wird seit kurzem die Heckler und Koch P2000 ausgegeben.«
Bierman zuckte mit den Schultern.
»Habe mir auch sofort eine H&K geben lassen, auch wenn die alten P5 weiterbenutzt werden sollten.«
Er steuerte die Tür an. Sarah folgte ihm aus dem Raum, den er, ohne sich von den anderen zu verabschieden, verließ.