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Obschon die Wolkendecke nur

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winzige Lücken ließ, drang vom Vollmond genügend Helligkeit durch, so dass man sich ohne künstliches Licht über den Asphalt hätte bewegen können. Unter den dichtbelaubten Bäumen aber, welche die Merianstraße säumten, war es noch ein wenig dunkler als unter freiem Himmel. Ein Pas­sant hätte das parkende Auto schon genauer in Augen­schein nehmen müssen, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Gestalt hinter dem Steuer saß. Die Straßenbe­leuchtung war schon vor etwa einer halben Stunde ausge­gangen und Fußgänger hatten sich seit mindestens andert­halb Stunden nicht mehr gezeigt. Bei den wenigen Fahr­zeugen, die seither aufgetaucht waren, hatte es sich alle­samt um Kranken- und Rettungswagen gehan­delt, die das etwa 100 Meter entfernte Sankt-Josefs-Kranken­haus angesteuert hatten. Trotzdem saß die Gestalt unbe­weglich da und starrte wie unter Hypnose auf das Gebäude in der Albert­straße, wo aus einem der abgedunkelten Fenster immer noch ein Lichtschein ins Freie fiel. Vor dem Institut der Rechts­medizin, das man von dem Standort aus gerade noch einsehen konnte, parkte nur ein Wagen, ein zitro­nengelber Fiat Panda. Ungeduld zählte sicher nicht zu den Schwächen des wartenden Mannes, trotzdem sah er zum wie­der­holten Mal auf die Leuchtziffern seiner Rolex. Drei Minuten nach zwei Uhr. Das Licht, das die Anwesenheit eines Instituts­mitarbeiters anzeigte, war alles andere als positiv zu be­werten. Wenn die Person nicht anderwei­tige Fälle auf­arbei­tete, beschäftigte sie sich wohl mit dem einzigen Leich­nam, welcher der Rechtsmedizin seinen Informanten zu Folge am heuti­gen Tag geliefert worden war. Jener Leichnam, von dem er gehofft hatte, dass er ohne Obduktion zu einem der Be­stat­tungsunternehmen gebracht werden würde. An einen Ort, an dem sein Vor­haben unendlich einfacher gewesen wäre, als jetzt. In Ge­danken tüftelte er bereits einen präzisen Plan aus, wie er vor­gehen würde, wenn der Mitarbeiter das Institut ver­lassen hatte.

Michelle Schneider schlug das Laken am Kopfende des Seziertisches zurück, trat ans Fußende und deckte auch dort den Leichnam ab. Das Tuch faltete sie noch zweimal und leg­te es auf den Beistellwagen zu ihrer Linken. Sie klopfte auf die Außentaschen ihres weißen Laborkittels, brachte ihr Diktiergerät zum Vorschein und drückte den Aufnahme­schalter.

»Aktenzeichen 07/BK-02. Es ist 23:17 Uhr. Beginn der äu­ßer­lichen Beschau. Der Tote ist männlich, weiß. Haarfarbe dunkelblond. Geschätzte Größe etwa ein Meter siebzig, ge­schätztes Gewicht etwa siebzig Kilogramm. Normale Sta­tur.«

Sie hielt den Apparat an. Sorgfältig strich sie mit ihren la­texbehandschuhten Fingern durch die Haare und unter­such­te die Kopfhaut. Dann sah sie in Nasenlöcher, Mund- und Rachenraum. Langsam arbeitete sie sich über Brust­korb, Arme, Genitalien und Beine bis hinunter zu den Füßen. Schließlich nahm sie das Diktiergerät wieder zur Hand.

»An Gesicht, Front und Armen keinerlei auffällige Verlet­zung erkennbar. Bei den Okklusionsmalen am Brustkorb handelt es sich um typische Folgen der Reanimations­versuche. Genaueres nach Röntgen und MRT. Erste Anzei­chen für das Einsetzen des Rigor Mortis korrelieren mit ver­mutetem Todeszeitpunkt. Mund, Atem- und Verdauungs­we­ge, soweit von außen zu beurteilen, scheinen frei. Hier Ge­naueres nach Sektion. Es folgt die äußerliche Unter­su­chung der Rückseite.«

Sie steckte das Diktiergerät in die Tasche und zog den Leichnam ganz an den Rand des Seziertisches. Dankbar da­für, dass die Leichenstarre gerade erst begann ein­zuset­zen, legte sie den rechten Arm unter den Rumpf, win­kel­te ein Bein und den andern Arm an und hebelte den Toten auf den Bauch. Dann richtete sie die Gliedmaßen wieder aus und setzte ihre Untersuchung fort. Im Anal­bereich nahm sie eine Leuchtlupe zu Hilfe, fotografierte ihre Entdeckung und beendete die Untersuchung an den Fuß­sohlen des Toten. Sie griff wieder zu dem Aufnahme­gerät.

»Das Rektum weist leichte, circa zwei Tage alte Anal­fis­suren auf, die auf einvernehmlichen, homosexuellen Ge­schlechts­verkehr schließen lassen. Des Weiteren typische Lie­­ge­male an Schultern und Gesäß, postmortal. Ansonsten ist die Rück­seite des Leichnams ohne Auffälligkeiten. Es folgt die röntgen­technische Untersuchung.«

Sie legte das Diktiergerät achtlos hinter die Sonnenblende auf die Fensterbank, stellte einen Rollwagen ans Ende des Obduktionstisches, entriegelte die Bahre und schob sie mit­samt dem Leichnam darauf. Nun löste sie mit dem Fuß die Bremse und zirkelte mit dem Edelstahlwagen um den fest­stehenden Obduktionstisch. Die Doppeltür am Ende des Rau­mes öffnete sich automatisch und sie bugsierte den Roll­wagen mit Herbert Meyers Leichnam hinaus auf den Gang. Es waren nur fünfzehn Meter bis zum Rönt­genraum, doch angesichts der Dunkelheit und der flac­kernden Neon­röhre an der Decke fröstelte sie unwill­kürlich. Die Arbeit an den Toten hatte sie zwar abgehärtet, aber diese Szenerie erinnerte sie doch allzu sehr an diverse Horrorfilme, als dass sie vollkommen unberührt die Leiche den Flur hätte ent­lang­schieben können. Entsprechend froh war sie, als sie das grelle Licht im Röntgenraum einschalten und den Roll­wagen rückwärtsgehend hinter sich durch die Tür ziehen konnte. Hier drin war die unheimliche Atmosphäre sofort verschwunden. Routiniert platzierte sie Herbert Meyers Kör­per unter dem Röntgenapparat und machte erst Auf­nah­­men seiner Füße und Unterschenkel, dann von Ober­schen­kel, Ab­do­men, Brustkorb mit Armen und schließlich vom Kopf. Gerade diese Nacht war sie dankbar, dass die Rechts­me­dizin mit Szintillatorrönt­gengeräten ausgestattet war. Denn so konnte sie die digitalen Bilder sofort auf einem Compu­termonitor unter die Lupe nehmen und musste sie nicht erst lange entwickeln. Ein Prozess, den sie zwar be­herrschte, der aber ihren Aufenthalt in der heutigen Nacht nochmals deut­lich verlängert hätte. An den altmodischen Lichtkästen für die analogen Bilder wäre es außerdem nicht möglich ge­wesen, einzelne Bereiche zu vergrößern oder mit­tels Kon­trast­kurven die Qualität und Interpretierbarkeit zu verbes­sern. Seufzend ließ sie sich im Regieraum neben dem Rönt­gen­zimmer auf einen Drehstuhl fallen und rollte an das Computerterminal. Zuerst die Bilder der unteren Ex­tre­mi­tä­ten. Nichts Auffälliges. Dann die Bilder des Abdo­mens. E­ben­falls nichts. Bei den Aufnahmen der Arme konn­te sie einen gut ausgeheilten Bruch der linken Elle erken­nen, der schon einige Jahre zurückliegen musste. Auf dem Foto des Brustkorbs waren wie vermutet einige Rippen in der Nähe des Sternums gebrochen, was auf sehr engagierte Reanima­tions­versuche schließen ließ. Aber die Lage der Rippen verriet Michelle, dass sie weder Herz noch Lunge verletzt haben konnten und diese Verletzung definitiv nicht zum Tode geführt hatten. Im Gegenteil, hätte nicht irgend­ein anderer Umstand den Erfolg der Reanimation vereitelt, hätte sie, was Ausführung und Kraft anging, durchaus Mey­ers Leben retten können.

Gespannt klickte sie die Aufnahme des Schädels an. Da eine Hirnblutung schon am Nachmittag in Erwägung gezogen worden war, lenkte der dunkle Fleck, der sich ziemlich zentral im inner­en des Schädels befand, sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. So wie es aussah, musste eine Arterie in der Region des Stammhirns geplatzt sein. Der zunehmende Druck auf die Formatio Reticularis hatte sicher schnell zu Atem- und allgemeinen Lähmungen geführt und schließlich den Tod Meyers verursacht. Angesichts der Ausdehnung des Fle­ckes musste es recht schnell gegangen sein. Ein Zu­sam­menhang zwischen der Hirnblutung und dem Einsatz des Wasserwerfers würde sehr schwer zu beweisen, aber ge­nau­so schwer zu widerlegen sein. Immerhin war die Todes­ursache praktisch sicher geklärt. Die genaueren Um­stände, zum Beispiel das Vorhandensein eines Aneuris­mas, konnte nur eine Sektion des Hirns enthüllen. Dafür war es aber diese Nacht definitiv zu spät. Mit einem lauten Gähnen lehnte sie sich zurück und blickte auf die Uhr an der gegen­überliegenden Wand. Kurz nach halb zwei. Bis sie den Leichnam in ein Kühlfach verfrachtet, die Systeme her­unter­gefahren und ihr Zeug zusam­mengepackt hätte, wür­de es zwei Uhr morgens sein, die Autopsie musste also war­ten. Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Als sie aus dem Bild herauszoomte, um die Datei zu archivieren und zu schließen, blieb ihr Blick an einer winzigen Stelle im In­nen­­ohr hängen, die deutlich weißer war als die Knochen des Schä­dels und des Ohres. Ein Bildfehler, dachte sie, denn so hell zeigten sich auf Röntgenbildern normalerweise nur Struk­turen aus Metall, Implantate etwa oder auch Pro­jek­tile. Für beides war die betreffende Stelle viel zu klein und ein reiner Zufall, dass sie sie bemerkt hatte. Beim Vergleich mit den Ohrknöchel­chen Hammer, Amboss und Steigbügel schätzte Michelle die Größe des Objektes auf bestenfalls ei­nen viertel Milli­meter. Stirnrunzelnd griff sie zur Maus und zoomte auf die ominöse Stelle.

Enttäuscht lehnte sich Michelle Schneider in dem Büro­stuhl zurück. Die Auflösung des digitalen Röntgen­bildes gab einfach nicht genug her, um Form und Struktur des winzigen Fremdkörpers - und als solchen stufte sie den weißen Fleck mittlerweile ein – genauer zu spezifizieren. Sie kaute auf dem Ende eines Bleistiftes, der hinter der Tas­tatur gelegen hatte, und dachte angestrengt nach. Ein CT, nur von der Ohrregion, würde ihr erstens ein dreidi­mensionales Abbild verschaffen und auch die Auflösung noch­mals um einiges heraufsetzen. Wieder blickte sie auf die Uhr an der Wand. Auch wenn ihre Neugier geweckt war, ihr Wissensdurst quälend nagte, sie war einfach zu müde!

Schluss, sagte sie halblaut zu sich selbst. Besprich das morgen mit Dr. Schwarz.

Sie legte den Bleistift weg, druckte die Bilder aus und ver­sah sie mit einer Büroklammer. Dann drückte sie den Stand­by-Button an dem Computermonitor, schaltete das Licht aus und ging zu der Leiche im Röntgenraum. Sie deck­te Herbert Meyer zu und klemmte die Bilder unter des­sen Ellenbogen. Als sie den Rollwagen auf den Gang schob, das Licht im Raum ausschaltete und auf dem Flur wieder dem flackernden Licht ausgesetzt war, überkam sie von neuem das flaue Gefühl. Ohne sich umzudrehen steuerte sie den Kühlraum mit den Leichenfächern an. Dort ange­kommen, wählte sie ein Fach, an dem noch kein Zettel an der chromblitzenden Tür steckte, nahm die Röntge­nbilder an sich und schob den Toten in die dunkle, gähnende Leere. Als der Stahlhebel das Fach verriegelt hatte, ging sie zu der Anrichte, nahm einen Namenszettel und schrieb gut leserlich Herbert Meyer darauf. Diesen steckte sie in den Ein­schub an dem Kühlfach. Sie zog sich die Latexhand­schuhe aus, warf sie in den Mülleimer und wusch sich die Hände. Zu guter Letzt löschte sie das Licht und begab sich zu den Aufzügen, um in ihrem Büro ihre Tasche, Handy und Autoschlüssel zu holen. Sie sehnte sich nun wirklich nach ihrem Bett!

Jetzt wurde der Mann in dem Auto vor der Rechtsmedizin doch ein wenig unruhig. Wollte er seine Aufgabe wie ge­wohnt perfekt erledigen, wurde die Zeit allmählich knapp. Denn sein Job war Präzisionsarbeit, aufwändig, zeitinten­siv. Und er hasste halbe Sachen. Zumal jeder noch so kleine Fehler das Potential barg, sich zu ernst zu nehmenden Pro­blemen zu entwickeln. Doch just in dem Moment, als er abermals auf die Uhr sehen wollte, flammte hinter den Fenstern des Treppenhauses im zweiten Stock das Licht auf. Kurz darauf war auch im Fenster, das er bereits zuvor als das Büro des Institutsmitarbeiters identifiziert hatte, das Licht wieder an. Schemenhaft konnte er eine Gestalt erken­nen, die in dem Raum umherlief. Dann ging das Licht aus. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Eingangstür und eine Frau mit langen dunklen Haaren steuerte auf den gelben Fiat Panda zu. Sie setzte sich hinter das Steuer, die Bremslichter leuchteten auf, kurz darauf auch die Rück­fahrleuchten. Der Panda parkte aus und bog vor ihm in die Merianstraße Richtung Norden. Der Mann ging auf Num­mer sicher. Er griff nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahltaste. Nach nur zwei kurzen Sätzen beendete er das Gespräch, ohne eine Antwort des Anderen abzu­warten, steckte das Handy ein, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Er ging quer über die menschenleere Kreu­zung und zog sich im Laufen Einmal­handschuhe an. Am Eingang zur Rechtsmedizin angekom­men studierte er die Zutritts­kontrolle. Ein müdes Lächeln huschte über sein Ge­sicht. Er förderte ein Lederetui aus sei­ner Jackentasche zu­tage und wählte eine Karte von der Größe einer EC-Karte aus. Diese zog er einmal langsam durch den Schlitz der elek­tronischen Zugangskontrolle. Da­nach schob er die Kar­te in einen kleinen Apparat im Taschenrechnerformat und beobachtete das Spiel der auf der Front rot blinkenden LEDs. Eine nach der anderen wech­selte die Farbe, bis die ganze Reihe grün leuchtete. Das Gerät verschwand wieder in seiner Innen­tasche, die Karte zog er abermals durch den Schlitz der Zutrittskontrolle. Als ein leises Summen die Entriegelung des Schlosses anzeigte, stieß er die Glastür auf und trat in das Dunkel des Raumes.

Ackerblut

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