Читать книгу Ackerblut - Andre Rober - Страница 8
Obschon die Wolkendecke nur
Оглавлениеwinzige Lücken ließ, drang vom Vollmond genügend Helligkeit durch, so dass man sich ohne künstliches Licht über den Asphalt hätte bewegen können. Unter den dichtbelaubten Bäumen aber, welche die Merianstraße säumten, war es noch ein wenig dunkler als unter freiem Himmel. Ein Passant hätte das parkende Auto schon genauer in Augenschein nehmen müssen, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Gestalt hinter dem Steuer saß. Die Straßenbeleuchtung war schon vor etwa einer halben Stunde ausgegangen und Fußgänger hatten sich seit mindestens anderthalb Stunden nicht mehr gezeigt. Bei den wenigen Fahrzeugen, die seither aufgetaucht waren, hatte es sich allesamt um Kranken- und Rettungswagen gehandelt, die das etwa 100 Meter entfernte Sankt-Josefs-Krankenhaus angesteuert hatten. Trotzdem saß die Gestalt unbeweglich da und starrte wie unter Hypnose auf das Gebäude in der Albertstraße, wo aus einem der abgedunkelten Fenster immer noch ein Lichtschein ins Freie fiel. Vor dem Institut der Rechtsmedizin, das man von dem Standort aus gerade noch einsehen konnte, parkte nur ein Wagen, ein zitronengelber Fiat Panda. Ungeduld zählte sicher nicht zu den Schwächen des wartenden Mannes, trotzdem sah er zum wiederholten Mal auf die Leuchtziffern seiner Rolex. Drei Minuten nach zwei Uhr. Das Licht, das die Anwesenheit eines Institutsmitarbeiters anzeigte, war alles andere als positiv zu bewerten. Wenn die Person nicht anderweitige Fälle aufarbeitete, beschäftigte sie sich wohl mit dem einzigen Leichnam, welcher der Rechtsmedizin seinen Informanten zu Folge am heutigen Tag geliefert worden war. Jener Leichnam, von dem er gehofft hatte, dass er ohne Obduktion zu einem der Bestattungsunternehmen gebracht werden würde. An einen Ort, an dem sein Vorhaben unendlich einfacher gewesen wäre, als jetzt. In Gedanken tüftelte er bereits einen präzisen Plan aus, wie er vorgehen würde, wenn der Mitarbeiter das Institut verlassen hatte.
Michelle Schneider schlug das Laken am Kopfende des Seziertisches zurück, trat ans Fußende und deckte auch dort den Leichnam ab. Das Tuch faltete sie noch zweimal und legte es auf den Beistellwagen zu ihrer Linken. Sie klopfte auf die Außentaschen ihres weißen Laborkittels, brachte ihr Diktiergerät zum Vorschein und drückte den Aufnahmeschalter.
»Aktenzeichen 07/BK-02. Es ist 23:17 Uhr. Beginn der äußerlichen Beschau. Der Tote ist männlich, weiß. Haarfarbe dunkelblond. Geschätzte Größe etwa ein Meter siebzig, geschätztes Gewicht etwa siebzig Kilogramm. Normale Statur.«
Sie hielt den Apparat an. Sorgfältig strich sie mit ihren latexbehandschuhten Fingern durch die Haare und untersuchte die Kopfhaut. Dann sah sie in Nasenlöcher, Mund- und Rachenraum. Langsam arbeitete sie sich über Brustkorb, Arme, Genitalien und Beine bis hinunter zu den Füßen. Schließlich nahm sie das Diktiergerät wieder zur Hand.
»An Gesicht, Front und Armen keinerlei auffällige Verletzung erkennbar. Bei den Okklusionsmalen am Brustkorb handelt es sich um typische Folgen der Reanimationsversuche. Genaueres nach Röntgen und MRT. Erste Anzeichen für das Einsetzen des Rigor Mortis korrelieren mit vermutetem Todeszeitpunkt. Mund, Atem- und Verdauungswege, soweit von außen zu beurteilen, scheinen frei. Hier Genaueres nach Sektion. Es folgt die äußerliche Untersuchung der Rückseite.«
Sie steckte das Diktiergerät in die Tasche und zog den Leichnam ganz an den Rand des Seziertisches. Dankbar dafür, dass die Leichenstarre gerade erst begann einzusetzen, legte sie den rechten Arm unter den Rumpf, winkelte ein Bein und den andern Arm an und hebelte den Toten auf den Bauch. Dann richtete sie die Gliedmaßen wieder aus und setzte ihre Untersuchung fort. Im Analbereich nahm sie eine Leuchtlupe zu Hilfe, fotografierte ihre Entdeckung und beendete die Untersuchung an den Fußsohlen des Toten. Sie griff wieder zu dem Aufnahmegerät.
»Das Rektum weist leichte, circa zwei Tage alte Analfissuren auf, die auf einvernehmlichen, homosexuellen Geschlechtsverkehr schließen lassen. Des Weiteren typische Liegemale an Schultern und Gesäß, postmortal. Ansonsten ist die Rückseite des Leichnams ohne Auffälligkeiten. Es folgt die röntgentechnische Untersuchung.«
Sie legte das Diktiergerät achtlos hinter die Sonnenblende auf die Fensterbank, stellte einen Rollwagen ans Ende des Obduktionstisches, entriegelte die Bahre und schob sie mitsamt dem Leichnam darauf. Nun löste sie mit dem Fuß die Bremse und zirkelte mit dem Edelstahlwagen um den feststehenden Obduktionstisch. Die Doppeltür am Ende des Raumes öffnete sich automatisch und sie bugsierte den Rollwagen mit Herbert Meyers Leichnam hinaus auf den Gang. Es waren nur fünfzehn Meter bis zum Röntgenraum, doch angesichts der Dunkelheit und der flackernden Neonröhre an der Decke fröstelte sie unwillkürlich. Die Arbeit an den Toten hatte sie zwar abgehärtet, aber diese Szenerie erinnerte sie doch allzu sehr an diverse Horrorfilme, als dass sie vollkommen unberührt die Leiche den Flur hätte entlangschieben können. Entsprechend froh war sie, als sie das grelle Licht im Röntgenraum einschalten und den Rollwagen rückwärtsgehend hinter sich durch die Tür ziehen konnte. Hier drin war die unheimliche Atmosphäre sofort verschwunden. Routiniert platzierte sie Herbert Meyers Körper unter dem Röntgenapparat und machte erst Aufnahmen seiner Füße und Unterschenkel, dann von Oberschenkel, Abdomen, Brustkorb mit Armen und schließlich vom Kopf. Gerade diese Nacht war sie dankbar, dass die Rechtsmedizin mit Szintillatorröntgengeräten ausgestattet war. Denn so konnte sie die digitalen Bilder sofort auf einem Computermonitor unter die Lupe nehmen und musste sie nicht erst lange entwickeln. Ein Prozess, den sie zwar beherrschte, der aber ihren Aufenthalt in der heutigen Nacht nochmals deutlich verlängert hätte. An den altmodischen Lichtkästen für die analogen Bilder wäre es außerdem nicht möglich gewesen, einzelne Bereiche zu vergrößern oder mittels Kontrastkurven die Qualität und Interpretierbarkeit zu verbessern. Seufzend ließ sie sich im Regieraum neben dem Röntgenzimmer auf einen Drehstuhl fallen und rollte an das Computerterminal. Zuerst die Bilder der unteren Extremitäten. Nichts Auffälliges. Dann die Bilder des Abdomens. Ebenfalls nichts. Bei den Aufnahmen der Arme konnte sie einen gut ausgeheilten Bruch der linken Elle erkennen, der schon einige Jahre zurückliegen musste. Auf dem Foto des Brustkorbs waren wie vermutet einige Rippen in der Nähe des Sternums gebrochen, was auf sehr engagierte Reanimationsversuche schließen ließ. Aber die Lage der Rippen verriet Michelle, dass sie weder Herz noch Lunge verletzt haben konnten und diese Verletzung definitiv nicht zum Tode geführt hatten. Im Gegenteil, hätte nicht irgendein anderer Umstand den Erfolg der Reanimation vereitelt, hätte sie, was Ausführung und Kraft anging, durchaus Meyers Leben retten können.
Gespannt klickte sie die Aufnahme des Schädels an. Da eine Hirnblutung schon am Nachmittag in Erwägung gezogen worden war, lenkte der dunkle Fleck, der sich ziemlich zentral im inneren des Schädels befand, sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. So wie es aussah, musste eine Arterie in der Region des Stammhirns geplatzt sein. Der zunehmende Druck auf die Formatio Reticularis hatte sicher schnell zu Atem- und allgemeinen Lähmungen geführt und schließlich den Tod Meyers verursacht. Angesichts der Ausdehnung des Fleckes musste es recht schnell gegangen sein. Ein Zusammenhang zwischen der Hirnblutung und dem Einsatz des Wasserwerfers würde sehr schwer zu beweisen, aber genauso schwer zu widerlegen sein. Immerhin war die Todesursache praktisch sicher geklärt. Die genaueren Umstände, zum Beispiel das Vorhandensein eines Aneurismas, konnte nur eine Sektion des Hirns enthüllen. Dafür war es aber diese Nacht definitiv zu spät. Mit einem lauten Gähnen lehnte sie sich zurück und blickte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Kurz nach halb zwei. Bis sie den Leichnam in ein Kühlfach verfrachtet, die Systeme heruntergefahren und ihr Zeug zusammengepackt hätte, würde es zwei Uhr morgens sein, die Autopsie musste also warten. Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Als sie aus dem Bild herauszoomte, um die Datei zu archivieren und zu schließen, blieb ihr Blick an einer winzigen Stelle im Innenohr hängen, die deutlich weißer war als die Knochen des Schädels und des Ohres. Ein Bildfehler, dachte sie, denn so hell zeigten sich auf Röntgenbildern normalerweise nur Strukturen aus Metall, Implantate etwa oder auch Projektile. Für beides war die betreffende Stelle viel zu klein und ein reiner Zufall, dass sie sie bemerkt hatte. Beim Vergleich mit den Ohrknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel schätzte Michelle die Größe des Objektes auf bestenfalls einen viertel Millimeter. Stirnrunzelnd griff sie zur Maus und zoomte auf die ominöse Stelle.
Enttäuscht lehnte sich Michelle Schneider in dem Bürostuhl zurück. Die Auflösung des digitalen Röntgenbildes gab einfach nicht genug her, um Form und Struktur des winzigen Fremdkörpers - und als solchen stufte sie den weißen Fleck mittlerweile ein – genauer zu spezifizieren. Sie kaute auf dem Ende eines Bleistiftes, der hinter der Tastatur gelegen hatte, und dachte angestrengt nach. Ein CT, nur von der Ohrregion, würde ihr erstens ein dreidimensionales Abbild verschaffen und auch die Auflösung nochmals um einiges heraufsetzen. Wieder blickte sie auf die Uhr an der Wand. Auch wenn ihre Neugier geweckt war, ihr Wissensdurst quälend nagte, sie war einfach zu müde!
Schluss, sagte sie halblaut zu sich selbst. Besprich das morgen mit Dr. Schwarz.
Sie legte den Bleistift weg, druckte die Bilder aus und versah sie mit einer Büroklammer. Dann drückte sie den Standby-Button an dem Computermonitor, schaltete das Licht aus und ging zu der Leiche im Röntgenraum. Sie deckte Herbert Meyer zu und klemmte die Bilder unter dessen Ellenbogen. Als sie den Rollwagen auf den Gang schob, das Licht im Raum ausschaltete und auf dem Flur wieder dem flackernden Licht ausgesetzt war, überkam sie von neuem das flaue Gefühl. Ohne sich umzudrehen steuerte sie den Kühlraum mit den Leichenfächern an. Dort angekommen, wählte sie ein Fach, an dem noch kein Zettel an der chromblitzenden Tür steckte, nahm die Röntgenbilder an sich und schob den Toten in die dunkle, gähnende Leere. Als der Stahlhebel das Fach verriegelt hatte, ging sie zu der Anrichte, nahm einen Namenszettel und schrieb gut leserlich Herbert Meyer darauf. Diesen steckte sie in den Einschub an dem Kühlfach. Sie zog sich die Latexhandschuhe aus, warf sie in den Mülleimer und wusch sich die Hände. Zu guter Letzt löschte sie das Licht und begab sich zu den Aufzügen, um in ihrem Büro ihre Tasche, Handy und Autoschlüssel zu holen. Sie sehnte sich nun wirklich nach ihrem Bett!
Jetzt wurde der Mann in dem Auto vor der Rechtsmedizin doch ein wenig unruhig. Wollte er seine Aufgabe wie gewohnt perfekt erledigen, wurde die Zeit allmählich knapp. Denn sein Job war Präzisionsarbeit, aufwändig, zeitintensiv. Und er hasste halbe Sachen. Zumal jeder noch so kleine Fehler das Potential barg, sich zu ernst zu nehmenden Problemen zu entwickeln. Doch just in dem Moment, als er abermals auf die Uhr sehen wollte, flammte hinter den Fenstern des Treppenhauses im zweiten Stock das Licht auf. Kurz darauf war auch im Fenster, das er bereits zuvor als das Büro des Institutsmitarbeiters identifiziert hatte, das Licht wieder an. Schemenhaft konnte er eine Gestalt erkennen, die in dem Raum umherlief. Dann ging das Licht aus. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Eingangstür und eine Frau mit langen dunklen Haaren steuerte auf den gelben Fiat Panda zu. Sie setzte sich hinter das Steuer, die Bremslichter leuchteten auf, kurz darauf auch die Rückfahrleuchten. Der Panda parkte aus und bog vor ihm in die Merianstraße Richtung Norden. Der Mann ging auf Nummer sicher. Er griff nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahltaste. Nach nur zwei kurzen Sätzen beendete er das Gespräch, ohne eine Antwort des Anderen abzuwarten, steckte das Handy ein, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Er ging quer über die menschenleere Kreuzung und zog sich im Laufen Einmalhandschuhe an. Am Eingang zur Rechtsmedizin angekommen studierte er die Zutrittskontrolle. Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er förderte ein Lederetui aus seiner Jackentasche zutage und wählte eine Karte von der Größe einer EC-Karte aus. Diese zog er einmal langsam durch den Schlitz der elektronischen Zugangskontrolle. Danach schob er die Karte in einen kleinen Apparat im Taschenrechnerformat und beobachtete das Spiel der auf der Front rot blinkenden LEDs. Eine nach der anderen wechselte die Farbe, bis die ganze Reihe grün leuchtete. Das Gerät verschwand wieder in seiner Innentasche, die Karte zog er abermals durch den Schlitz der Zutrittskontrolle. Als ein leises Summen die Entriegelung des Schlosses anzeigte, stieß er die Glastür auf und trat in das Dunkel des Raumes.