Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 10

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Dunkle Momente

Mein Vater war im Hansa Drogenhaus als Hauptbuchhalter beschäftigt. Das Drogenhaus war eine Einkaufsvereinigung Deutscher Drogisten. Er hatte mit den Abrechnungen der Drogeriewaren zu tun, die für kleine Drogeriemärkte und andere Läden geordert wurden. Als Verantwortlicher der Rech-nungen und Zahlungen arbeitete mein Vater sehr gewissenhaft und nahm seine verantwortungsvolle Tätigkeit ernst und genau. Pünktlichkeit gehörte zu seinen wichtigsten Regeln. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals zu spät gekommen wäre oder einen Termin vergessen hätte. Gleiche Eigenschaften erwartete er auch von seiner Frau und seinen Kindern. Wehe, wenn wir nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kamen. Nicht auszudenken, was mein Vater unternommen hätte, wenn ich mal verspätet zur Schule gekommen und womöglich eine Klassenarbeit verpasst hätte. Schon das verspätete Erscheinen zum Essen erboste ihn.

Außer seiner Lebensregel Pünktlichkeit dominierten in Vaters Alltag Ordnung und Strenge. Er kleidete sich stets korrekt, hatte eine aufrechte Körperhaltung und akkurat gekämmte Haare. Mit einem Kamm zog der sich den Scheitel rechts, knapp über dem Ohr nach hinten. Die oberen Haare wurden mit Pomade sorgfältig über die Mitte des Kopfes gestrichen. Später auch über die Stellen, die schon etwas kahl waren. Meist sah man Vater mit eher starrem, reglosem Gesichtsausdruck, die Mundwinkel immer leicht nach unten gezogen. Humor hatte er keinen. Lächeln kam selten vor.

Meine Mutter war da etwas anders, zwar auch sehr ernst und manchmal streng, aber mit uns Kindern machte sie manchmal Späße. Natürlich nur, wenn mein Vater es nicht mitbekam.

Ich erinnere mich noch an eine Luftballonfigur, die meine Mutter gebastelt hatte. Sie sollte einen Schutzmann darstellen. Meine Mutter malte den Luftballon an und setzte ihm eine aus Papier gebastelte Polizistenmütze auf. Dann spielten meine Mutter, mein Bruder und ich damit. Wir ließen den Schutzmann an der Fensterscheibe tanzen. Da wir im ersten Stock wohnten, konnte man von der Straße aus die Figur gut sehen, uns jedoch nicht, da wir uns unter dem Fensterbrett versteckten. Ein paar Menschen blieben stehen und sahen sich das Spiel an. Nach einer Weile kam ein Polizist vorbei. Auch er blieb stehen und schaute zu unserem Fenster hoch. Da holte meine Mutter eine Nadel aus ihrem Nähkasten und stach in den Luftballonschutzmann, der sofort mit einem lauten Knall zusammenfiel. Wir bogen uns vor Lachen. Leider konnten wir nicht sehen, wie die Leute auf der Straße reagierten, da wir uns nicht blicken lassen wollten. Aber wir lachten alle drei aus ganzem Herzen. Meine Mutter blieb an diesem Nachmittag so ausgelassen und fröhlich, dass ich mir wünschte, es könnte immer so sein. Aber es sollte leider eine Ausnahme bleiben.

Eines Abends beim Essen musste ich an unseren platzenden Luftballonschutzmann denken und fing an zu kichern.

„Was ist denn hier so komisch?“, wollte mein Vater wissen. Ich konnte nicht antworten und musste immer weiter lachen. Mir liefen die Tränen herunter und ich konnte mich kaum beruhigen.

„Hanna, Du hörst sofort damit auf“, herrschte er mich an.

Aber ich konnte nicht aufhören. Ich musste immer weiter lachen, obwohl mir längst klar war, dass das sicher keine gute Idee war. Wie recht ich hatte. Mein Vater wurde sehr wütend. Er dachte wohl, ich würde über ihn lachen. Als er das dritte Mal fragte, warum ich so lachte und keine Antwort bekam, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es laut knallte und die Teller klirrten.

„Jetzt reicht es mir aber.“

Dann schickte er mich aus dem Zimmer.

„Das Essen ist für Dich beendet“, schnaubte er mir hinterher.

Draußen im Flur musste ich weiter lachen. Ich hatte einen richtigen Anfall und konnte nicht aufhören. Da schoss mein Vater mit energischen Schritten hinter mir her. Seine Schritte wurden hinter mir immer schneller. Gleich hatte er mich erreicht und ich bekam es mit der Angst. Er packte mich am Arm, riss mich herum und verpasste mir eins hinter die Ohren. Seit diesem Tag habe ich nie wieder vor meinem Vater gelacht.

Mein Bruder lachte manchmal sogar mit meinem Vater zusammen. Irgendwie schaffte ich es, den Stich, den das in mir auslöste, in Gleichgültigkeit umzuwandeln. Was ich jedoch nie als gleichgültig abtun konnte, waren die Besuche meines Bruders bei meinem Vater im Büro. Tatsächlich nahm Vater ihn am Wochenende, wenn er noch etwas zu erledigen hatte, gelegentlich mit in die Stadt zu seiner Arbeitsstelle. Ich selbst war nie dort gewesen und hätte zu gerne gewusst, wie es dort aussah, was auf seinem Arbeitstisch stand und ob ihm eine nette Sekretärin Kaffee kochte. Gerd erzählte mir meistens begeistert von seinen Erlebnissen. Er durfte am großen Schreibtisch sitzen, mit Vaters Füller schreiben oder auf Briefpapier Bilder malen. Dann bekam er auch noch einen Briefumschlag und brachte meiner Mutter sein Kunstwerk mit, eingetütet wie mit der richtigen Post. Und dann bekam er manchmal doch tatsächlich Bonbons.

„Papa hat mir eine ganze Tüte gegeben“, sagte Gerd, als sie einmal nach Hause kamen. Ich schaute ihn erwartungsvoll an und wollte meinen Geschwisteranteil abbekommen.

„Hab´ alle schon aufgegessen!“ Dabei machte er ein schmatzendes Geräusch und leckte sich über die Lippen. Wütend zog ich ihn am Ärmel, aber meine Mutter ging dazwischen. Sie versprach mir, am Montag für mich auch ein paar Bonbons zu kaufen. Ich freute mich. Aber dann kam etwas dazwischen und meine Mutter vergaß die Süßigkeiten.

In der Schule wurde ich ausgesucht, bei einem Schulfest Gedichte vorzutragen. Ich machte mich sofort daran, die Gedichte zu lernen. Einige davon sogar auf Plattdeutsch.

Ich las mir die Strophen laut vor und sprach sie immer wieder nach, bis ich sie auswendig konnte.

Kükerükü, de rode Hahn

Trekkt sien Stefels un Sporen an.

Wo wie wollt du Rieden?

Van hier na Lammerdieden.

As hee na Lammerdieden kwam,

Do satt de Koh bi ´t für un spunn,

Dat Kalf lagg in de Weeg un sung,

De Katt de wusk de Schöttels,

De Hund de kemm de Botter,

De Fleddermuus, de fegte ´t Hus,

De Swalfkes drogen dat Feegsel herut,

Mit hör vergolden Flügels,

Sind dat nett dicke Lögens?….

„Du sollst vernünftiges Hochdeutsch lernen“, fuhr mein Vater mich an, als ich gedichtaufsagend durch den Flur ging.

„Plattdeutsch möchte ich in diesem Hause nicht hören!“

Damit war das Verbot ausgesprochen und ich hatte den Mund zu halten. Ich wusste nicht so recht warum, aber ich musste mich an seine Anweisung halten. Von da an übte ich nur noch leise. Ich hatte Angst, er könne mich hören, wütend werden und mich womöglich wieder schlagen.

Als ich Vater eines Tages vor der Zimmertür hörte, als ich gerade flüsternd meine Strophen aufsagte, war ich mir sicher, er würde gleich in mein Zimmer stürmen und mich versohlen. Er tat es nicht. Wahrscheinlich hatte er mich nicht gehört. Doch meine Angst blieb.

Meist übte ich nur noch in der Schule. Allerdings hatte ich ein Problem. Wie sollte ich auf der Bühne meine Gedichte vortragen, wenn meine Eltern im Publikum saßen? Was würde mein Vater sagen, wenn ich plötzlich vor allen Leuten Plattdeutsch sprach? Dass mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war. Ich musste etwas unternehmen.

Mir war es peinlich, meiner Lehrerin Fräulein Spechtling gegenüber zuzugeben, dass ich zu Hause Ärger bekam, wenn ich Plattdeutsch sprach. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Die Aufführung rückte näher und meine Sorge wurde größer. Also ging ich zu Fräulein Spechtling und sagte ihr, was mich bedrückte. Ich bat sie, jemand anderen für das Aufsagen beim Schulfest zu finden.

„Hanna, das ist aber schade. Du kannst das so gut. Du bist die Beste aus der Klasse. Keiner kann sich die Gedichte so gut merken, wie Du. Und Du hast so eine schöne Stimme.“

Das machte mich stolz. Trotzdem flehte ich sie an: „Bitte, ich kann die Gedichte wirklich nicht aufsagen, mein Vater kann sehr wütend werden.“

Da hatte Fräulein Spechtling eine Idee.

„Wie wäre es, wenn du die plattdeutschen Gedichte nur in der Klasse vorträgst und bei der Vorführung alle Gedichte in Hochdeutsch übernimmst. Ich frage Eva, ob sie auf der Bühne für Dich in platt aushelfen kann. Wir wollen doch alle, dass Du dabei bist.“

Ich strahlte. „Wir wollen doch alle, dass Du dabei bist…“, dieser Satz klang mir noch lange in den Ohren und ließ mich innerlich lächeln.

Bei der Aufführung trug ich mein schönstes Kleid und hatte meine Haare zu einem geflochtenen Zopf nach hinten gebunden. Ich war aufgeregt. Aber ich hatte so fleißig geübt, dass ich alle fünf Gedichte ohne einen Fehler aufsagen konnte. Ich stand auf der Bühne in der großen Aula und sprach so laut und deutlich, wie ich nur konnte, so wie es Fräulein Spechtling mir immer wieder geraten hatte.

Nach dem ersten Gedicht wich meine Nervosität. Mein Blick ging in die Richtung, in der meine Eltern saßen. Meine Mutter lächelte, mein Vater schaute nicht zur Bühne, sein Kopf war zur Seite abgewandt. Ich konnte von der Bühne aus nicht feststellen, wohin seine Aufmerksamkeit ging. Ich musste mich wieder auf meine Gedichte konzentrieren und richtete meinen Blick nach vorne, so dass ich in die Zuschauermenge vor mir sah. Aber mir geisterte ein Satz im Kopf herum: Warum guckt er nicht zu mir? Was schien ihm in diesem Moment wichtiger, als seine kleine Tochter, die vor so vielen Menschen die auswendig gelernten Gedichte vortrug.

Ich durfte meine Gedanken nicht zu sehr schweifen lassen, ich musste mich auf meine Texte konzentrieren und durfte mich auf keinen Fall aus der Ruhe bringen lassen.

Als ich mit dem Vortragen fertig war atmete ich erleichtert auf. Die Zuschauer applaudierten. Ich lächelte verlegen und machte einen Knicks. Wieder ging mein Blick in Richtung meiner Eltern. Meine Mutter klatschte, mein Vater sprach leise mit meinem Bruder und applaudierte geistesabwesend. Nur ganz kurz streifte sein Blick die Bühne und mich.

Nach mir ging Eva nach vorne.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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