Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 13

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Ausbildung

Ich kam bei der Firma Emil Heinemann in die Lehre. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre ich lieber in einen sozialen Beruf eingestiegen. Aber das Angebot konnte ich nicht ausschlagen. Ein Cousin meiner Mutter hatte gute Kontakte und mir den Ausbildungsplatz vermittelt. Rein formell musste ich noch eine Bewerbung schreiben und mich persönlich vorstellen, doch es war bereits klar, dass ich die Ausbildungsstelle, auch aufgrund meines guten Abschlusszeugnisses, kommen würde.

Die Firma Heinemann war ein Im- und Export-Unternehmen mit nur wenigen Angestellten. Es gab den Chef Herrn Heinemann, die Prokuristin Frau Schweige, den Buchalter Herrn Overbeck, eine Lageristin mit Namen Holm und mich. Die Firma war in einem kleinen Büro in der Nähe vom Hauptbahnhof in einem Hinterhof untergebracht.

Am ersten April 1932 war mein erster Tag. Man stellte mich kurz vor und dann wurde mir gesagt, was ich zu tun hatte.

„Zu ihren Aufgaben gehört das Ausfegen der Räume, Staubwischen und die Öfen heizen. Damit können Sie gleich mal ihren Tag beginnen“, wies mich Herr Overbeck ein.

Mit Im- und Export hatte das zunächst nicht viel zu tun. Aber ich wusste zu gehorchen.

Das Heizen war für mich das Unangenehmste. Ich war klein und zart und die Klappe vom Ofen wurde von oben nach unten geöffnet. Sie ging nur schwer auf, man brauchte viel Kraft dafür. Damit ich sehen konnte, ob das Feuer auch brannte, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und in den Ofen hineinsehen. Dabei schlugen mir die Flammen ins Gesicht, so dass meine Augenbrauen und Wimpern manchmal versengten. Doch ich klagte nicht und machte meine Arbeit gewissenhaft, wie ich es seit jeher gelernt hatte.

Für meine Ausbildung war ein Probemonat vereinbart. Als ich am zweiten Mai zur Arbeit kam – der erste Mai war ein Feiertag - blieb ich erst einmal unten an der Tür stehen. Der Buchhalter öffnete mir auf mein Klingeln und wunderte sich, dass ich nicht die Treppe heraufkam. Auf seine Frage worauf ich dort unten wartete, antwortete ich: „Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt noch kommen soll. Meine Probezeit ist vorbei.“

Da lachte er und schüttelte verwundert den Kopf.

„Natürlich sollen Sie bleiben. Der Probemonat ist doch nur eine Formsache.“

„Das wusste ich nicht“, erwiderte ich kleinlaut und senkte den Kopf. Also heizte ich weiter ein.

Im ersten Lehrjahr bekam ich monatlich zehn Reichsmark. Im zweiten Lehrjahr verdoppelte sich mein Einkommen bereits. Im dritten Lehrjahr waren es ganze 30 Reichsmark. Da mein Vater nach wie vor krank war, - die vom Arzt prognostizierten zwei jähre waren längst um - musste ich zunächst acht Mark, dann 17 und später 26 Mark zu Hause abgeben. Meine Eltern bezahlten davon eine Kraft, die immer dann zur Pflege meines Vaters zu uns ins Haus kam, wenn ich und meine Mutter gleichzeitig bei der Arbeit waren.

Für mich blieb von meinem Verdienst nicht viel übrig. Allein eine Monatskarte für die Straßenbahn kostete damals schon drei Reichsmark und fünfzig Pfennig. Eine Kinokarte war für eine Reichsmark zu haben und ein Fahrrad – mein größter Traum - kostete mindestens 80 Reichsmark. Davon schien ich noch weit entfernt zu sein. Aber ich hatte auch die Hoffnung, dass sich Fleiß auszahlen würde.

Da mein Vater bei der Angestellten-Krankenkasse Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie versichert war, wurde auch ich dort Mitglied. Von der Krankenkasse erhielt ich gleich nach meinem Beitritt Post.

„Wir freuen uns, dass Sie sich für unsere Krankenkasse entschieden haben….“

In dem Schreiben wurde mir auch mitgeteilt, dass es eine neue Jugendgruppe im Volksheim in der Marschnerstraße gab, zu der ich gerne kommen könne.

Ich erzählte meiner Mutter davon und auch mein Vater hörte das. Er war sofort begeistert.

„Da musst Du Dich unbedingt gleich erkundigen“, sagte er und hakte gleich noch mal nach: „Da gehst Du hin, das ist eine gute Sache. Und da lernst Du vernünftige Menschen kennen.“

„Ich kenne vernünftige Menschen“, dachte ich bei mir. Warum sollte ich die Einladung zu der Jugendgruppe annehmen? Nur, weil mein Vater das als richtig befand? Das schien mir absurd. Mein Vater, der nun schon seit fast zwei Jahren das Bett hütete, kaum ansprechbar war und den alltäglichen Abläufen der Familie kaum noch folgen konnte. Aber seltsamerweise ließ ihn das Thema Jugendgruppe nicht los. Da blühten neue Kräfte in ihm auf und schließlich drängte mich mein Vater so sehr, dass ich mich kaum zur Wehr setzten konnte. Auch mein Einwand, dass ich dort niemanden kennen würde, blieb unbeachtet. Ich musste gehen. Meine Mutter ließ sogar die Pflegekraft kommen, weil sie in die Nähstube musste. Sie hatte sich angewöhnt, öfter abends zu arbeiten, damit sie tagsüber zu Hause war.

Missmutig machte ich mich an einem Donnerstagabend auf den Weg in die Marschnerstraße. Als ich dort ankam, waren schon mehrere junge Mädchen versammelt. Die Führerin, Erna Bartsch, war einige Jahre älter als wir anderen. Sie begrüßte uns und machte uns miteinander bekannt. Die Atmosphäre war nett und freundlich und ich fühlte mich sofort wohl. Ich muss zugeben, dass mein Interesse an der Jugengruppe, entgegen meiner Erwartungen, schon gleich von Beginn an geweckt war. Das lag zum einen an der freundlichen Art von Erna, die es ganz unkompliziert schaffte, mich sofort in die Gruppe zu integrieren. Aber auch die anderen Teilnehmer waren herzlich und nett und nahmen mich wie selbst-verständlich auf. In dem Kreis der Gleichaltrigen willkommen zu sein, tat sehr gut.

Von dem Tag an ging ich regelmäßig zu den Treffen und freundete mich mit Liselotte und Traudel an. Zu meiner Freundin Lissi hatte ich leider nur noch wenig Kontakt, da sie von ihren Eltern zur Ausbildung nach Pinneberg geschickt wurde.

An einem unserer Heimabende war von einer Fahrt zur Sonnenwende nach Seevetal die Rede. Die Kosten für den Ausflug waren sehr gering und Liselotte, Traudel und ich entschlossen mitzufahren. Erstaunlicherweise hatten meine Eltern und vor allem mein Vater nichts dagegen.

Das war ein großartiges und neues Erlebnis. Wir sangen gemeinsam Lieder, marschierten dabei durch den Wald und am Abend wurde ein Lagerfeuer gemacht. Als es heruntergebrannt war, sprangen wir über die Feuerstelle und sangen und johlten. Anschließend übernachteten wir im Stroh. Wir lagen auf unseren Decken, redeten übermütig von unseren Erlebnissen und hörten dabei die Mäuse rascheln. An Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder schaute ich zu Liselotte hinüber, die neben mir lag und ebenfalls wach war. Abwechselnd täuschten wir vor zu schlafen und drückten unsere Augen fest zu. So lange, bis wir lachen mussten. Mit der Zeit steckten wir die anderen an, so dass schließlich keiner von der Gruppe mehr Schlaf fand. Müde aber glücklich fuhren wir am nächsten Tag wieder heim.

Neben den wöchentlichen Treffen gab es am Sonntag noch weitere Ausfahrten. Liselotte und Traudel meldeten sich fast immer an und waren mit dabei. Regelmäßig versuchten sie mich zu überreden. Doch ich hatte nicht so oft Zeit und konnte mir die Ausflüge auch nicht immer leisten, wenn sie auch nur ein paar Mark kosteten. Wenn die anderen dann von einer Ausfahrt zurückkehrten und in der nächsten Woche berichteten, versetzte es mir immer wieder einen Stich. Ich wäre so gerne dabei gewesen. Stattdessen musste ich den Sonntag mit meinen Eltern verbringen, oder besser gesagt, am Bett meines Vaters.

Ich beschloss, mir etwas Geld dazu zu verdienen und hatte eine Idee. Ich musste die Geschäftsbriefe der Firma jeden Tag zur Post bringen. Doch stattdessen trug ich sie am Abend selber aus und sparte das Porto. Zumindest die Briefe, die an Hamburger Adressaten gerichtet waren. Das Portogeld entnahm ich der Portokasse. Ich dachte mir, damit schade ich niemanden. Die Post gelangt zu ihrem Empfänger, sogar noch eher als mit der Post und ich verdiene mir ein kleines Extrageld, um die Ausfahrten bezahlen zu können. Meine Eltern wollte und konnte ich nicht um Geld bitten.

Natürlich fiel mein kleiner Schwindel irgendwann auf, doch Herr Heinemann war so nett und erlaubte mir, meine Postverteilung weiter fortzusetzen.

„Aber nicht, dass Sie mir noch nach Buxtehude rennen, nur weil ich ein Schreiben dorthin senden möchte!“, sagte er augenzwinkernd.

Nach ein paar Monaten wurde eine weitere Jugendgruppe eröffnet. Diesmal eine Gruppe nur für Jungs. Hin und wieder unternahmen wir gemeinsame Touren. Mit der Zeit weiteten wir unsere Aktivitäten aus und besuchten zusammen die Veranstaltungen, die im Hauptsitz der Krankenkasse in der Hansastraße stattfanden.

Eines Abends war der Schriftsteller Rudolf Kinau, der später vor allem durch die Sendereihe „Hör mal´n beten to“ im Norddeutschen Rundfunk, bekannt wurde, dort zu Gast. An diesem Abend lauschten wir den Gedichten des aus Finkenwerder stammenden Dichters.

Ich wollte pünktlich zu Hause sein. Doch die Lesung ging länger als erwartet. Als ich auf meinem Stuhl hin und her rückte und zu Liselotte sagte, ich müsse gehen, sagte sie: „Aber Hanna, es dauert nicht mehr lange, nur noch ein paar Minuten. Lass uns alle gemeinsam gehen.“

Das war sicher auch vernünftig, denn es war bereits spät, dunkel draußen und der Weg weit.

Natürlich dauerte die Veranstaltung noch etwas mehr als nur ein paar Minuten. Wir verließen deutlich verspätet den Saal. Auf dem Weg beeilte ich mich und versuchte das Tempo der Gruppe zu beschleunigen. Aber es half nichts. Ich verspätete mich um eine dreiviertel Stunde.

Eben hatte ich die Wohnungstür aufgeschlossen, erhielt ich auch schon eine Ohrfeige. Und zwar von meinem Vater persönlich. Er musste bereits hinter der Tür gestanden und auf mich gewartet haben. Mich wunderte, woher er die Kraft genommen hatte, aufzustehen, wo er doch sonst im Bett blieb und vor Schwäche kaum die Toilette aufsuchen konnte.

Aber jetzt stand er, wenn auch nicht kerzengerade sondern eher gebückt und sich am Türrahmen festhaltend und hatte die Minuten gezählt, bis ich heim kam. Ich erhielt außerdem eine Moralpredigt, dass ich pünktlich zu Hause zu sein habe, dass ich demnächst gar nicht mehr weggehen dürfe und dass die Jugendgruppe ein schlechter Umgang für mich sei.

Da wurde ich wütend. Bei seinen letzten Worte konnte ich mich nicht mehr halten, es sprudelte aus mir heraus.

„Du hast mich doch da hingeschickt!“, schrie ich aufgebracht und mein Zorn drückte von meiner Brust in den Hals herauf.

„Erst soll ich unbedingt dort hin gehen, dann wieder nicht. Dir kann ich es doch nie Recht machen!“

Mit diesen Worten ließ ich ihn einfach mit rotem Gesicht und hustend stehen.

In meinem Zimmer musste ich einige Male tief durchatmen, um meine Wut zu zügeln. Als sich meine Aufregung etwas gelegt hatte, schwor ich mir, auf keinen Ausflug mehr zu verzichten und mir den Spaß von meinem Vater nicht verderben zu lassen. Selbst wenn er mich jedes Mal schlagen würde, ich würde trotzdem gehen.

Somit ließen mich die Veranstaltungen der Jugendgruppe nicht mehr los. Ich nahm an allem teil, was möglich war und sog das Vergnügen in mich auf. Ich ging außer zu den Treffen zum Volkstanz, zu Lesungen und zu Turnabenden. Mit meiner Mutter musste ich zwar einige Diskussionen führen, da sie mich fest für meines Vaters Betreuung einplante, aber ich setzte mich schließlich durch. Ich war selbst überrascht, wie energisch ich plötzlich sein konnte. Sogar mein Bruder wurde für kleine Aufgaben eingespannt. Ich konnte es kaum glauben und musste insgeheim darüber lächeln.

Mit der Jugendgruppe nahmen wir auch an einem Wettbewerb teil, für den eine Scheinfirma gegründet werden musste. Wir sollten diese Firma aufbauen, führen und leiten und die Ergebnisse regelmäßig zusammentragen. Nach einem Jahr wurden die Resultate aller Teilnehmer ausgewertet und es gab für die Gewinner eine Auszeichnung.

Ich brauchte nicht lange zu überlegen, um mich auch in dieser Gruppe zu beteiligen. Ohne zu zögern übernahm ich die Buchhaltung. Diese Sparte machte mir Spaß und interessierte mich sehr, obwohl ich nie werden wollte wie mein Vater. Und er war schließlich Buchhalter, ernst und streng. Aber um ehrlich zu sein, listete ich gerne Zahlen auf, addierte, ordnete, berechnete und bilanzierte sie.

Außerdem schien ich Talent zu haben. In der Berufsschule hatte ich in Buchhaltung eine Eins.

Mein Lehrer Herr Hinrich rief mich im ersten Jahr zu sich. Er hatte Gefallen an mir gefunden und war begeistert von meinen Fähigkeiten. Als er mit mir sprechen wollte, dachte ich, er wolle mir etwas zu meiner Arbeit und meinen Noten sagen. Doch er wollte etwas ganz anderes von mir.

„Kommen Sie herein, Fräulein Mauchert!“, empfing er mich.

„Nehmen Sie Platz.“

Ich setzte mich ihm gegenüber an den großen Schreibtisch auf einen hölzernen Sessel mit breiten Armlehnen und einem dunkelroten Samtbezug als Polster und hielt meine Hände im Schoss gefaltet.

Herr Hinrich rückte seine Brille zurecht und beugte sich weit über die Schreibfläche zu mir vor und musterte mich eindringlich.

„Sind sie immer so blass, Hanna?“, fragte er mich und mir entging nicht, dass er mich plötzlich mit Vornamen ansprach.

„Bekommen Sie auch genug zu essen?“, fügte er besorgt hinzu.

Ich war völlig überrascht über die Frage und schaute ihn erstaunt an. Was wollte dieser Mann von mir? Unbehaglich rutschte ich auf dem Stuhl herum.

Aber ich war ihm noch eine Antwort schuldig. Also sagte ich kurz und knapp: „Ja.“

Ihm schien das nicht besonders glaubwürdig. Er stand von seinem Stuhl auf und ging langsam um den Tisch herum, bis er neben mir stehen blieb. Er war groß und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um zu ihm hinauf zu schauen. Dann legte er eine Hand auf meine Schulter. Ich blieb steif sitzen.

„Sie brauchen Nährstoffe, Hanna. Sie brauchen Energie zum Lernen.“ Ich brauchte also Nährstoffe, stellte ich im Geiste für mich fest und wunderte mich, warum ich diese ausgerechnet von meinem Lehrer bekommen sollte.

„Ich werde Ihnen jeden Tag einen Liter Milch spendieren, wenn Sie mir versprechen, weiter fleißig zu lernen“, sagte Herr Hinrich. Er stand so dicht bei mir, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte, eine Mischung aus Seife und Tabak. Aber da war noch etwas, das ich nicht sofort ausmachen konnte.

Er fragte, ob ich mit dieser Regelung einverstanden sei. Endlich nahm er seine Hand von meiner Schulter. Ich nickte und stand schnell auf, rückte den Stuhl an seinen Platz zurück und bedankte mich mit einem höflichen Knicks. Eilig verließ ich den Raum. Mir war unbehaglich zumute. Wahrscheinlich war ich in den letzten Minuten noch blasser geworden.

Aber von diesem Moment an bekam ich tatsächlich jeden Tag einen Liter Milch von Herrn Hinrich. Das war sicher sehr nett gemeint, doch nach ein paar Monaten war mir die Milch über, aber das konnte ich dem Lehrer schwer sagen. Die ganze Zeit überlegte ich, warum er nur mir das Milchangebot gemacht hatte und keinem anderen Schüler. Ich war nicht die einzige, die bleich aussah.

Mein Vater wollte gerne, dass ich während der Lehre noch eine Sprache erlernte. So musste ich mich zum Französischkurs anmelden. Es war mal wieder erstaunlich, mit wie viel Nachdruck mein Vater sich in mein Leben einmischte. Er, der mich so wenig beachtete und dem ich doch eher eine Last, als eine Freude war. In Anbetracht seiner Krankheit, die in der Zeit zwar nicht schlimmer, aber auch nicht besser wurde, war es ebenfalls unerklärlich. Ganz abgesehen von dem finanziellen Aufwand.

Der Französischkurs war gar nicht so schlecht, wie ich dachte. Mir machte die neue Sprache Freude und es war interessant, neben Englisch eine zweite Fremdsprache kennen zu lernen.

Allerdings war die Zeit zum Lernen durch meine vielen Abende in der Jugendgruppe sehr knapp. Ich kam mit den Vokabeln nur schwer hinterher. Mühsam stotterte ich mich durch den Kurs. Mein Vater wollte mich gleich darauf zum nächsten Kurs überreden, doch ich konnte ihm zum Glück mit dem Argument der hohen Kursgebühren glaubhaft machen, dass es besser sei, erst einmal auszusetzen, da ich mich auf meine Ausbildung konzentrieren wollte. Und siehe da, er gab nach.

Ich ahnte nicht, wie schnell ich wieder mit der französischen Sprache in Berührung kommen würde.

Kurz nach Beendigung meines Kurses übernahm mein Chef die Vertretung der Parfüm-Marke Guerlain. Von da an musste die Korrespondenz in Französisch verfasst werden und schon kamen meine wenigen Französischkenntnisse zum Einsatz. Bereits mit meinen geringen Wortschatz konnte ich in der Firma aushelfen. Dadurch war mein Ehrgeiz geweckt und ich erwarb mir weitere Sprachkenntnisse in Eigenregie.

Meine Ausfahrten in der Jugendgruppe machten nach wie vor viel Spaß und brachten auch Erholung. Doch ich wollte gerne mal richtig Urlaub machen, am liebsten alleine. So freute ich mich riesig, als mir die Heinrichs durch einen glücklichen Zufall eine Woche Urlaub in Tesperhude spendierten.

Finanziell ging es den Heinrichs viel besser als uns. Das lag sicher auch daran, dass sie keine Kinder hatten. Außerdem waren beide berufstätig. Der Kontakt zu meinen Eltern hatte sich seit mein Vater krank war zwar etwas reduziert, aber sie meldeten sich regelmäßig bei uns und erkundigten sich nach unserem Wohlergehen. Außerdem luden sie mich immer noch gelegentlich zu sich nach Hause ein. Meine Mutter war immer noch etwas verwundert über diese Einladungen. Konnte sie doch nicht nachvollziehen, was die Heinrichs an mir fanden. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, sie war eher etwas beleidigt, dass ich meist ohne sie zu ihnen eingeladen wurde und sie kaum noch. Dafür kam Frau Heinrich manchmal mit einem Stück Kuchen vorbei und besuchte meine Mutter. Bei dieser Gelegenheit kam auch die Einladung nach Tesperhude zustande.

Frau Heinrich sprach sehr diplomatisch mit meiner Mutter darüber, dass ich zu Hause und mit der Arbeit so viel zu tun hätte und doch dringend etwas Erholung benötigte.

„Hanna bräuchte doch vielleicht mal frische Luft und etwas Ruhe“, meinte sie.

„Frau Mauchert, was meinen Sie, wir könnten Hanna ein Zimmer an der Elbe reservieren und sie hätte mal ein paar Tage für sich!“

Es war keine Frage, eher eine Feststellung und ich hoffte sehr, dass meine Mutter nicht nein sagen würde.

Und tatsächlich, sie stimmte zu.

Tesperhude war ein kleiner Ort, direkt an der Elbe, hinter Geesthacht gelegen. Ich malte mir aus, was ich alles machen würde: Ausschlafen, Eis essen, an der Elbe spazieren gehen, aufs Wasser sehen und die Schiffe beobachten. Dabei würde ich überlegen, aus welchen Ländern die Frachter kamen, wie es dort aussehen mochte und was sie geladen haben würden. Meine Vorfreude auf den Urlaub wuchs von Tag zu Tag.

Eine Woche, bevor es losgehen sollte, begann ich, meinen Koffer zu packen. Ich suchte neben ein paar bequemen Hosen auch die zwei schönsten Kleider aus, die ich besaß.

Kurz vor meiner Abreise erkrankte unsere Lageristin Fräulein Holm. Da ich nun auch fort sein würde, gab es sofort Personalmangel. Mein Chef beriet sich mit Herrn Overbeck. Ich hatte große Bedenken, ob ich meine Reise überhaupt antreten könnte.

Erst hieß es tatsächlich, ich solle meinen Urlaub absagen, dann beschlossen die beiden Herren aber, dass ich fahren und mich nach zwei Tagen melden solle. Wenn Fräulein Holm immer noch krank sei, müsse man überlegen, ob ich dann früher aus dem Urlaub zurückkommen sollte.

Ich fuhr also erst einmal los, genoss das schöne Wetter, ging wie geplant an der Elbe spazieren und zog mich abends mit meinem Buch in mein kleines Pensionszimmer zurück. Ich fühlte mich herrlich. Ich war weit weg von meinen Eltern, ich hatte Zeit für mich, es war ruhig und ich konnte selbst bestimmen, was ich machen wollte. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich.

Nach zwei Tagen rief ich wie versprochen im Büro an. Ich hoffte, dass Fräulein Holm wieder gesund sein würde. Doch sie war immer noch krank. Keiner wusste, wann sie wieder arbeiten könne. Mein Chef bat mich, zurück zu kommen. Da konnte ich schlecht nein sagen. Also fuhr ich, gewissenhaft wie ich war, schweren Herzens zurück nach Hamburg.

Am Sonntag war ich in den Urlaub losgefahren, Dienstag zurück nach Hamburg und Mittwoch kam ich früh morgens wieder in der Firma an. Ich staunte nicht schlecht, als plötzlich die Fräulein Holm vor mir stand. Ich starrte sie mit großen Augen an.

Sie sah zwar noch etwas blass um die Nase herum aus, doch sie schien einsatzbereit zu sein. Nach einem kurzen Gespräch mit meinem Chef willigte er sofort ein, dass ich meinen Urlaub nun doch fortsetzen dürfte. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Kosten für die Bahnfahrt wollte er übernehmen und drückte mir sogar noch ein zusätzliches Urlaubsgeld in die Hand.

„Fräulein Mauchert, bleiben Sie ruhig bis Montag. Sie bekommen einen Tag länger frei.“

Ich bedankte mich bei meinem Chef und griff in meinem Büro sofort zum Telefon, um in Tesperhude anzurufen und in der Pension zu fragen, ob ich mein Zimmer wieder bekommen könne. Und ich hatte Glück. Eilig fuhr ich nach Haus, schnappte meinen Koffer, der noch gepackt im Flur stand und lief sofort weiter zum Bahnhof, um erneut in den Urlaub zu starten. Dieses Mal sollte nichts dazwischen kommen.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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