Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 9
ОглавлениеKaffeeklatsch
Anfang der 20er Jahre gab es in Hamburg, besonders in unserem Stadtteil Barmbek, einem klassischen Arbeiterviertel von Hamburg, viele Krawalle. Die Inflation machte den Menschen zu schaffen. Die Geldentwertung hatte insbesondere für die Arbeiterschicht und die sogenannten „Normalverdiener“ verheerende Auswirkungen. Kleine Ersparnisse waren schnell aufgebraucht. Die Sicherheit, ein paar Notgroschen in der Tasche zu haben, gab es für viele nicht mehr. Im Februar 1920 hatte die Mark, gemessen am Dollar, nur noch vier Prozent des Vorkriegswertes. Die hohe Arbeitslosigkeit und der weitere rapide Absturz der Mark sorgten in den kommenden Jahren bei der Bevölkerung nicht nur für Unmut, sondern ließen Existenzängste aufkommen, ja sogar Panik entstehen. Seit August 1922 verlor die Mark beinahe täglich an Wert. Die Banken konnten den Zahlungsverkehr technisch kaum noch bewältigen. Die Reichsbank kam mit dem Druck der Geldnoten nicht mehr hinterher und Unternehmen konnten die fälligen Löhne nicht auszahlen. Zahlreiche Firmen gingen pleite.
Es war eine schlimme Zeit, und durch die wachsenden Aufstände der Bevölkerung bedrohlich und gefährlich. Mein Vater musste zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle ins Hansa Drogenhaus, das an der Sternschanze lag. Wir waren immer froh, wenn er heil abends wieder nach Hause kam. Wenn es dunkel war, wurde es in der Stadt besonders brenzlich. Von den Dächern wurde sogar geschossen, sodass wir uns nicht an den Fenstern sehen lassen durften. Wir zogen die Gardinen zu und machten in der Wohnung so wenig Licht wie möglich. In dieser Zeit blieb jeder lieber zu Hause und vermied es, auf die Straße zu gehen. Meine Eltern waren in großer Angst, dass uns etwas passieren könnte, versuchten aber, uns ihre Sorgen so gut es ging nicht spüren zu lassen. Wir Kinder kamen in dieser Zeit kaum nach draußen und blieben mehrere Wochen in unserer Wohnung verschanzt. Für uns alle gab es in dieser Zeit kaum Freizeitbeschäftigungen.
Als es wieder etwas ruhiger in der Stadt wurde, besuchten meine Eltern eines Tages eine Tanzschule. Das kam uns Kindern ganz ungewöhnlich vor. Freizeitvergnügen waren bei uns in der Familie bis dahin selten. In der Tanzschule lernten meine Eltern das Ehepaar Heinrich kennen. Die vier schienen sich gut zu verstehen, sodass die Heinrichs meine Eltern schon nach ein paar Wochen zu sich nach Hause einluden.
Meine Eltern, insbesondere mein Vater, hatten schon viel von meinem Bruder gesprochen, so dass die Heinrichs bei der Einladung zu meinen Eltern sagten: „Bringen Sie doch ihren Sohn mit, wir freuen uns.“
„Gerne,“ erwiderte mein Vater und erwähnte nicht mit einem Wort, dass er noch ein zweites Kind hatte. Als sie dann mich als Tochter auch noch zum verabredeten Nachmittagskaffee mitbrachten, machten Herr und Frau Heinrich große Augen.
„Wir wussten gar nicht, dass Sie auch eine Tochter haben“, sagten sie ganz überrascht, aber durchaus freundlich und lächelten mich an.
„Wie heißt du denn?“, fragte Frau Heinrich mich.
Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Mein Vater befahl mir: „Los Hanna, sage Herrn und Frau Heinrich guten Tag und mach einen Knicks.“
Ich tat, wie er es wünschte und nannte leise noch mal meinen Namen.
„Und wie alt bist Du?“, wollte Frau Heinrich wissen.
„Ich bin acht Jahre alt“, antwortete ich artig und schaute hoch, in ihr freundliches Gesicht.
Einzig und allein die Tatsache, dass Herr und Frau Heinrich im Laufe des Nachmittags sehr lieb und freundlich zu mir waren, ließen meine Kränkung, dass meine Eltern mich verschwiegen hatten, etwas verblassen.
„Möchtest Du noch ein Stück Kuchen, Hanna?“, fragte mich Frau Heinrich beim Kaffeetrinken und zwinkerte mir aufmunternd zu. Außerdem lobte sie mein artiges Verhalten und meine hübschen Zöpfe. Sie strich mir zum Abschied übers Haar.
„Hübsch siehst Du aus, wie ein kleines Engelchen!“
Als die Heinrichs ein paar Wochen später bei uns zu Besuch waren, boten sie mir an, ich könne sie am Samstagnachmittag mal alleine besuchen kommen. Meine Eltern stutzten verwundert, aber nach anfänglichem Zögern waren sie schließlich einverstanden. Ich freute mich sehr.
Da das Ehepaar Heinrich keine Kinder hatte, wurde ich von ihnen verwöhnt und zu weiteren Besuchen eingeladen. Ich bekam Kekse und heiße Milch, sie machten mit mir Spaziergänge und Frau Heinrich schenkte mir eine Puppe, die ich viele Jahre hütete wie einen Schatz. Aus dem einen Samstagsbesuch wurde ein regelmäßiges Treffen, das über ein paar Jahre anhielt. Noch viele Jahre später hatte ich diese Tage als einige der schönsten in meinem Leben in Erinnerung. Ich verglich diese Zeit für mich mit den Sonntagen bei Tante Frida, in der Zeit, als ich im Waisenhaus war.
Einige Zeit, nachdem meine Eltern die Heinrichs kennengelernt hatten, kam ich in die Schule. Schon bei der Einschulung war ich aufgeregt, aber voller freudiger Erwartungen und ich war mir sicher, dass mir die Schule gefallen würde. Und so war es auch. Ich ging wirklich gerne dort hin, was nicht alle meine Mitschüler von sich behaupten konnten. Für mich war unverständlich, dass einige meiner Klassenkameradinnen die Schule nicht mochten, sie sogar hassten.
Das Lernen machte mir großen Spaß. Und es fiel mir leicht. Die Lehrer lobten mich für meine schnelle Auffassungsgabe und für mein sorgfältiges Arbeiten. Endlich konnte ich glänzen.
„Hanna, Deine Eltern sind sicher sehr stolz auf Dich“, sagte meine Lehrerin Frau Pieper eines Tages zu mir. Ich schaute sie verwundert an. Was sie da vermutete, konnte ich nicht bestätigen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals irgendjemand aus meiner Familie stolz auf mich gewesen war. Obwohl ich auch zu Hause sehr fleißig war, erhielt ich von meinen Eltern keine erwähnenswerte Anerkennung. Weder mein Vater, noch meine Mutter schienen sich überhaupt für meine Schulnoten zu interessieren. Vielleicht mochte ich auch gerade deshalb die Schule so sehr. Dort beachtete man mich, dort wurde meine Leistung geschätzt.
Also lernte ich fleißig weiter. An einigen Tagen musste meine Mutter mich nach draußen auf die Straße zum Spielen schicken, damit ich nicht den ganzen Nachmittag am Tisch über meinen Büchern verbrachte.
War ich erst einmal draußen bei den anderen Kindern, merkte ich schnell, dass wir zusammen viel Spaß miteinander hatten und ich meine Schulhefte auch mal alleine lassen konnte.
Ich zog mit den Nachbarskindern um die Häuser. Sie waren ausgelassen, übermütig und ich ließ mich gerne von ihnen anstecken. Uns gehörte dann die Straße. Wir spielten auf der Fahrbahn und auf den Grünflächen. Gleich um die Ecke in unserer Straße gab es einen großen Platz, wo sich die Jungs und Mädchen der Gegend trafen. Eines Tages hatte mein Bruder unseren Schlagball aus Übermut in ein Siel gestopft und er plumpste in den Schacht. Er wollte ihn wieder herausholen, doch der Sieldeckel war sehr schwer. Er rief nach uns und wir liefen herbei, um ihm zu helfen. Mit viel Mühe und mit Hilfe eines dicken Stockes bekamen wir den Deckel nach einer Weile hoch. Da mein Bruder etwas dicklicher war - von seiner hageren Gebrechlichkeit nach der Geburt war nichts mehr zu sehen - sollte ich hinuntersteigen und den Ball herausfischen. Erst zierte ich mich, doch alle anderen riefen: „Los Hanna, das schaffst Du!“
Angetrieben von ihren Ermutigungen nahm ich all meinen Mut zusammen und stieg vorsichtig in den engen und dunklen Schacht. Stäbe, wie eine Leiter, waren am Rand des Schachts befestigt und ich konnte mich nach unten tasten. Mir war mulmig zumute. Ich hatte Angst, doch ich wollte das auf keinen Fall zeigen. Immer noch feuerten sie mich an und sprachen mir gut zu. Schließlich war ich komplett im Schacht verschwunden und konnte die Stimmen nur noch gedämpft wahrnehmen. Immer wieder hörte ich meinen Namen und aufmunternde Zurufe. Doch plötzlich änderte sich der Tonfall. Ich hörte die Jungs kichern und scherzen. Irgendjemand schien einen Witz gemacht zu haben. Mein Bruder lachte am lautesten.
Ich tastete mich noch etwas tiefer in den Schacht. Es roch modrig und die Wände waren glitschig. Vorsichtig berührte ich den Boden.
„Hoffentlich sind hier keine Ratten oder Mäuse“, dachte ich bei mir und bekam eine Gänsehaut. Langsam tastete ich mich vor. Dann verharrte ich still. Hatte ich die Jungs oben flüstern hören? Und lachten sie jetzt leise? Von dem anfänglichen Anfeuern zu meiner heldenhaften Rettungsaktion war nichts mehr zu hören. Plötzlich sah ich ihre Gesichter vor mir, wie sie mich anschauten mit verkniffenen Augen und fies dabei lachten.
Dann vernahm ich erschrocken, wie oben der Deckel über den Boden geschoben wurde. Es war ein ganz eindeutiges Geräusch, das Schaben des schweren Eisendeckels über die Pflastersteine. Sie wollten mich hier unten doch wohl nicht einsperren? In Panik griff ich mit schnellen Bewegungen über den Boden und war fast selber überrascht, dass ich tatsächlich den Ball zu fassen bekam. Ich berührte die runde Lederkugel mit den Fingern und schloss sie schnell in meine Handfläche. Der Ball fühlte sich feucht und glitschig an. Blitzschnell machte ich mich wieder auf den Weg an die Oberfläche. Tatsächlich hatten die Jungs den schweren Deckel schon ein Stückchen in Richtung Öffnung gewuchtet. Ich hörte, wie das schwere Eisen erneut über den Straßenbelag schabte. In Windeseile kletterte ich die letzten Leitersprossen des Schachtes hoch und erreichte die Öffnung. Ich stützte mich mit den Händen am Schachtrand ab und schob meine Beine über den Gullirand. Mein Herz klopfte wild. Die Jungs schoben den Deckel immer noch in meine Richtung und grinsten schadenfreudig übers ganze Gesicht. Die wenigen Mädchen, die sich mit uns zum Spielen getroffen hatten, standen weit abseits und schauten betreten weg. Schnell richtete ich mich auf, verlor aber das Gleichgewicht, kam ins Straucheln, fiel um und konnte mich mit den Händen gerade noch am Schachtrand halten, um nicht in die Öffnung zu fallen. In dem Moment hatte einer der Jungs dem Gullideckel einen heftigen Schub verpasst und bevor ich meine Hand in Sicherheit bringen konnte, schob sich der Deckel über die Öffnung. Meine Hand klemmte dazwischen. Ich war so mit mir beschäftigt, dass ich nicht gesehen hatte, wer den Gullideckel in Bewegung gesetzt hatte.
„Au!“, schrie ich vor Schmerzen auf.
Die Jungs liefen weg. Auch mein Bruder. Meine Hand lag unter dem schweren Eisen und ich spürte meine Finger kaum noch. Schmerz, Wut und Verzweiflung ließen mir die Tränen in die Augen schießen. Was sollte ich jetzt tun?
Doch nicht alle waren weggelaufen. Plötzlich war Heino da.
„Warte, ich helfe Dir“, sagte er und hebelte gemeinsam mit zwei anderen Jungs, die er schnell zu sich pfiff, behutsam den Eisendeckel mit einem Stock von meiner Hand herunter, so dass meine Finger wieder frei waren. Die Verletzung sah nicht gut aus. Vor allem der Mittelfinger und der Zeigefinger waren gequetscht und blutig. Ich hatte das Gefühl, dass alle Knochen gebrochen waren. Heino bot mir sein Taschentuch an, das ich mir zitternd um den Finger wickelte. Sprechen konnte ich nicht. Der Schreck saß tief. Weinend lief ich nach Hause.
„Was hast Du nur gemacht?“, fragte meine Mutter. Ich überlegte, ob ich ihr die Geschichte erzählen sollte. Doch da mischte sich mein Bruder schon ein, der bereits zu Hause angekommen war und ein unschuldiges Gesicht machte.
„Hanna hat einen großen Stein auf die Finger bekommen“, sagte er und schmiegte sich an Mutters Seite.
„Wer hat denn mit Steinen geworfen?“, wollte meine Mutter wissen.
„Die großen Jungs haben angefangen, die wollten uns aus dem Sandkasten vertreiben, aber wir wollten weiterspielen“, erklärte mein Bruder.
„Ich habe noch gesagt, Hanna soll aufpassen!“, ergänzte er.
Ich wollte protestieren, sah aber im gleichen Moment, wie meine Mutter sich mit einem liebevollen Blick meinem Bruder zuwandte und den Arm um ihn legte. Diese Geste ließ mich erstarren. Ich schaute zu Boden. Dann betrachtete ich meine Finger. Der Zeigefinger war bis zum zweiten Gelenk dunkelrot und die Haut aufgeschürft, die Wunde noch blutverschmiert, etwas Kruste hatte sich schon gebildet. Der Finger daneben war deutlich geschwollen und ebenfalls rot. Mir traten erneut Tränen in die Augen. Meine ganze Hand pochte und brannte.
„Warum lasst Ihr Euch auch auf einen Streit mit den Jungs ein. Hanna, Du musst doch als Ältere wissen, dass das Ärger gibt“, so die Reaktion meiner Mutter. Ich hätte Trost gebraucht, keine Vorwürfe.
„Und Dein Rock ist auch ganz schmutzig.“
Als wäre mein Rock jetzt wichtig. Ich schaute zu Gerd hinüber
„Du Miststück“, dachte ich bei mir, als ich sein unschuldiges Gesicht sah und genau wusste, dass er alles daran setzte die Situation für sich zu nutzen. Warum gelang ihm das nur immer wieder? Ich hatte in dieser Hinsicht kein gutes Händchen. Mir fehlten in diesen Situationen einfach die Worte. Nicht einmal zu meiner Verteidigung fiel mir etwas passendes ein. Dabei hätte ich doch einfach die Situation schildern können. Einfach erzählen, wie es sich ereignet hat. Aber nicht einmal dazu war ich fähig. Irgendwie beschlich mich mal wieder das Gefühl, ich hätte etwas falsch gemacht. Mein Selbstbewusstsein war so schwach ausgeprägt, dass ich sogar die Vorwürfe meiner Eltern insgeheim überdachte und mich fragte, ob ich mich falsch verhalten hatte.
Dabei trug mein Bruder einen großen Teil der Schuld. Hätte er nicht die anderen angestiftet oder sich mit ihnen verbündet, und hätte er mir geholfen oder wäre sogar selber in den Schacht gestiegen, wäre alles ganz anders gekommen.
Noch viele Jahre später konnte man die Spuren des Unfalls am Nagel meines Mittelfingers erkennen. Der Fingernagel hatte eine tief Kerbe und sah wie abgebrochen aus. Er ist nie vernünftig nachgewachsen. Was aber noch viel schlimmer war, seit dem Unfall konnte ich den Zeigefinger im ersten Gelenk nicht mehr beugen. Dieser Finger sah dadurch immer aus wie eine Kralle.
Ein paar Tage später erkundigte Heino sich nach mir und fragte meine Mutter, wie es mir ging. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie auch von dem Gullideckel und Heino berichtete ebenfalls, dass mein Bruder weggelaufen sei, als ich Hilfe benötigte. Meine Mutter muss sehr überrascht gewesen sein, als sie diese Version der Geschichte erfuhr.
Abends, als mein Vater nach Hause kam, sprach meine Mutter mit ihm. Mein Vater rief sofort meinen Bruder zu sich. Ich hörte hinter der Tür, wie mein Vater mit meinem Bruder schimpfte. Um nicht weiter zu lauschen, ging ich ins Kinderzimmer. Es freute mich, dass mein Bruder jetzt endlich eine Strafe bekam und meine Eltern die Wahrheit erfuhren.
Nach einer Weile hörte ich, wie die Wohnzimmertür sich öffnete. Mein Vater kam über den Flur auf mein Zimmer zu. Ich konnte seine Schritte hören. Jetzt würde er gleich hereinkommen und sich bei mir entschuldigen. Vielleicht erkundigte er sich noch nach meinem Finger und ich könnte ihm die verletzte Hand zeigen. Mein Nagel hatte sich schon fast abgelöst, doch die Wunde war immer noch geschwollen und rot.
Die Türklinke wurde nach unten gedrückt. Ich setzte mit auf der Bettkante aufrecht hin. Vielleicht würde mein Vater sich zu mir setzten und diesmal den Arm um mich legen, so wie er es bei Gerd gelegentlich tat. Er beugte sich dabei immer etwas steif herunter und legte seine Hand um die Schultern meines Bruders und zog ihn kurz an sich ran.
Mein Vater betrat das Zimmer und stand etwas steif einen Meter vom Türrahmen entfernt. Sein Gesichtsausdruck wirkte allerdings alles andere als mitfühlend.
„Tja Hanna, das hast Du jetzt davon. Deine Verletzung soll Dir eine Lehre sein. Kannst Du Dich als Mädchen nicht gefälligst so benehmen, wie andere auch. Mische Dich nicht in die Angelegenheiten der Jungs ein. Und ich möchte schon gar nicht, dass Du Dich als Mädchen so aufspielst! Du kannst froh sein, dass dein Bruder sofort losgelaufen ist, um Hilfe zu holen“, zischte er hervor und verließ den Raum, indem er die Tür mit Nachdruck hinter sich zuzog.
Ich warf mich auf meine Kissen und konnte die Ungerechtigkeit nicht fassen. Vor Erstaunen und Wut hatte ich wieder kein Wort herausgebracht. Ich war fassungslos, unendlich enttäuscht und wütend. In diesem Moment hasste ich meinen Vater. Und meinen Bruder ebenso. Beide spielten ein Spiel mit mir, das ich immer verlor, egal, was ich tat. Ich konnte mir Mühe geben, nett, fleißig und ehrlich sein. Aber alles wurde immer gegen mich ausgelegt oder die Tatsachen so verdreht, dass ich als Schuldige und Dumme daraus hervorging. Ich verstand die Welt nicht mehr und die Geschichte, die mein Bruder meinem Vater aufgetischt hatte schon gar nicht.
Mein Finger schmerzte immer mehr und ich konnte kaum noch etwas mit der Hand greifen. Als ich meine Mutter erneut darauf ansprach, ging sie schließlich mit mir zum Arzt. Doktor Wermke untersuchte den Finger und bat mich, ihn zu beugen. Es gelang mir nicht, stattdessen setzte ein stechender Schmerz ein. Nachdem der Arzt den Finger noch mal ausführlich betastet hatte stand fest, der Finger war gebrochen.
„Sie hätten früher zu mir kommen müssen, dann hätten wir den Finger besser richten können.“
Ich bekam einen dicken Verband.
„Sag deinem Vater besser nichts davon“, schlug meine Mutter vor. Aber wie sollte ich die verbundene Hand vor den Augen meines Vaters verbergen? Ich versuchte bei Tisch die Hand auf meinem Schoß zu lassen, aber das war keine gute Idee.
„Hände auf den Tisch“, schallte es sofort von seiner Seite. Ich tat, was er sagte.
Schon hatte er den Verband gesehen.
Meine Mutter erklärte ihm kurz, was der Arzt gesagt hatte. Anschließend bekam ich von meinem Vater die nächste Moralpredigt zu hören:
Ich solle der Familie nicht so viel Kummer machen…
Ich habe mich wie ein Mädchen zu benehmen…
Und ich sei viel zu zimperlich.