Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 6

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Fast ein ganzes Leben später

Den Bewohnern im Pflegeheim in Hamburgs-Schnelsen stieg an diesem ungemütlichen Tag im November die Kälte in die Glieder und ließ jeden unwillkürlich schaudern. Auch mir fröstelte. Seit dem Wochenende tobte das Tief William über Norddeutschland und bescherte nasskaltes Herbstwetter mit Sturm, Regen und morgendlichen Nebelschwaden, die über die Wiesen und Felder krochen, aber auch in Straßen und Höfen gespenstische Atmosphäre verbreiteten. Die Temperaturen bewegten sich zwischen vier und sieben Grad, fühlten sich aber eher wie ein eiskalter Hauch an, der an sibirische Winter erinnerte.

Dabei waren die ersten Tage im November noch mild und mit einzelnen Sonnenstrahlen freundlich und fast frühlingshaft gewesen. An diesem 15. November aber war es draußen besonders grässlich. Der Nebel hing bleiern in der Luft und schien Mensch und Landschaft in einen grauen Schleier zu hüllen. Ich saß in dem braunen Cordsessel am Fenster meiner kleinen, düsteren Wohnung, die gerade mal die Größe eines durchschnittlichen Hotelzimmers hatte. Neben mir ragte die Eichenvitrine wuchtig in den Raum. Von meiner Wohnzimmereinrichtung aus der Beethovenstraße hatte ich nur ein paar wenige Möbelstücke mitnehmen können, für mehr reichte der Platz in meinem neuen Heim nicht. Außer dem Sessel und der Vitrine waren das kleine Zweisitzersofa und die Kommode vom alten Inventar geblieben. Die Kommode passte nur knapp in die Nische zwischen Schrank und Regal, die ich beide von meiner Vorgängerin übernommen hatte.

Auf dem Regal stand der Fernseher. Vor dem Sofa gab es einen kleinen Tisch, der mit TV-Zeitschriften und Kreuzworträtseln überladen war. Zwei Kugelschreiber lagen auf dem Boden. Ich würde die Schwester bitten, diese aufzuheben, wenn sie wieder einmal vorbeikäme. Ich konnte mich selbst nicht mehr bücken, mein Rücken war steif und schmerzte. Meine ursprüngliche Körpergröße war in den letzten Jahren um mindestens zehn Zentimeter geschrumpft, weil meine Wirbelsäule um die Brustwirbel herum so stark gekrümmt war, dass ich nur mit viel Mühe nach oben schauen konnte. Überhaupt konnte ich mich kaum noch bewegen. Morgens wurde ich vom Hauspersonal geweckt, aus dem Bett gehoben und angezogen. Abends das gleiche in umgekehrter Reihenfolge. Fast den ganzen Tag saß ich in meinem Sessel, dessen Cordstoff an der Sitzfläche und der Armlehne schon die Spuren der Zeit trug. Bald würde der Stoff durchgewetzt sein und die Schaumstoffpolsterung würde hervorquellen.

Von dem Platz im Sessel aus konnte ich fernsehen oder aus dem Fenster schauen. Nur zu den Mahlzeiten machte ich mich auf den Weg in den Speiseraum, der eine Etage tiefer und einen Gang weiter links lag. An schlechten Tagen brauchte ich eine halbe Stunde, um von meinem Zimmer aus mit dem Gehwagen dort anzukommen. Aber die Zeit hatte ich.

Der Überfluss an Zeit machte mir an einigen Tagen schwer zu schaffen. Die Tage zogen sich endlos hin. Ich saß nur da, vertrieb mir Stunde für Stunde und wartete insgeheim sehnsüchtig darauf, dass jemand mich anrief. Vielleicht mein Enkelkind, meine Tochter oder mein Sohn. Aber meistens rief keiner an. Alle hatten zu tun, waren beschäftigt oder hatten andere Dinge im Kopf.

Ich hatte viel Zeit, meinen Gedanken nachzugehen. Erinnerungen kamen und gingen. Plötzlich schoben sich Szenen aus meinem Leben in mein Gedächtnis.

Erschienen vor meinem inneren Auge, klar und deutlich, als wären sie gerade erst geschehen.

So sah ich mich plötzlich in diesen Saal wieder. Nur wenig Gäste hatten sich versammelt. Es war sehr still. Doch ich fühlte ein Knistern in der Luft. Oder war es das Knistern meines steifen Unterocks?

Auch dieser Tag war besonders kalt. Ich fror in meinem Kleid. Aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen. Es war mein Tag, mein ganz besonderer Tag, der einer der wichtigsten in meinem Leben sein sollte. Ich hob den Kopf und sprach mit leiser Stimme: „Ja, ich will. In guten, wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod uns scheidet.“ Meine Stimme war leise, fast zaghaft.

Diese Szene war mehr als sechzig Jahre her und ging mir an diesem ungemütlichen und stürmischen Herbsttag durch den Kopf, als wäre es nur ein paar Tage her. Ich wusste nicht, warum, aber das süße Versprechen längst vergangener Tage klang in meinem Kopf wider, waberte hin und her. Der Satz wiederholte sich, ließ sich nicht aufhalten. Fetzen klangen nach, Worte hallten wider. Gesichter tauchten dazu auf. Undeutliche, verschwommene Züge, dann wieder kurze klare Fragmente.

Warum musste ich gerade jetzt daran denken, an den Moment vor vielen, vielen Jahren, als das Versprechen ausgesprochen wurde, ohne zu wissen, wie lange es Gültigkeit haben würde. Es stimmte mich wehmütig und passte genau zum Wetter, das eine immer größere Bedeutung für mein Wohl-befinden einnahm, je älter ich wurde.

Ich blickte in den grauen Innenhof. Ein älterer Herr mit Gehstock quälte sich über die Waschbetonplatten voran. Den Kragen seines Mantels hatte er hochgeschlagen, den Schal fest um den Hals gebunden. Unter seiner wollenen Mütze war sein Gesicht nicht zu erkennen. Er schlich leicht vorgebeugt mit schleppenden Schritten quer über die Anlage. Später am Vormittag wurde eine Frau in einem Rollstuhl vom Hauptgebäude zum Nebeneingang ihres Wohnblocks durch den Hof geschoben. Auch sie war warm eingehüllt in einen dicken Mantel mit Mütze und Decke über den Knien.

Der heutige Tag war frostig und ungemütlich. Die kriechende Kälte ließ sich nicht abschütteln. Sie fraß sich in den Körper hinein, sodass keiner freiwillig nach draußen ging.

Auch die Bäume waren kahl, trugen keine Blätter mehr. Der Wind hatte schon vor einigen Tagen die übrig gebliebenen fort geweht und damit den letzten Farbtupfer verschwinden lassen. Ein dumpfer Grauton umhüllte das Gesamtbild. Der November zeigte sich in seiner ganzen Trostlosigkeit und in einer Tristesse, die kaum zu überbieten war.

Im Altenpflegeheim im Kettlerweg in Hamburg-Schnelsen blieb es an diesem Tag ungewöhnlich still. Ich hörte keine Geräusche vom Fernseher von nebenan, wie es sonst oft der Fall war. Meine Nachbarin, die 97jährige Frau Petersen, stellte den Apparat oft so laut, dass ich die Volksmusik oder die Quizshows direkt von der benachbarten Wohnung, die genauso winzig und düster war wie meine, bei mir mitverfolgen konnte, obwohl ich selbst auch nicht mehr gut hörte.

Auch vom Flur drangen kaum Geräusche zu mir herein. Drinnen und draußen war es ruhig. Kein Wind, kein Sturm, kein Regen. Die Äste bewegten sich nicht, die Landschaft wirkte wie eingefroren. Alles erschien kalt und leblos. Im Innenhof trat eine Pflegerin aus einer Seitentür, drückte sich an die Hauswand, zog die Jacke noch enger um den grünen Kittel, der unter dem Jackensaum hervor lugte. Aus der Jackentasche holte sie eine Zigarettenschachtel, fischte eine Zigarette heraus und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Als sie einen tiefen Zug genommen hatte, blies sie den Rauch in die kühle Luft. Anders als ihr Atem, bildete die ausgeatmete Zigarettenluft eine waagerechte Linie und verfiel an ihrem Ende zu einer diffusen Wolke.

Kurz schloss die Pflegerin die Augen und lehnte sich mit den Rücken an die marode Wand, die deutliche Verwitterungsspuren zeigte. Der rote Backstein hatte einen sichtbar grünen Schatten vom Moosbefall und auch die Fensterrahmen daneben zeigten dunkle Verfärbungen und waren kaum noch als Weiß erkennbar. Die Farbe war mit der Zeit an einigen Stellen abgeblättert und an den anderen nach-gedunkelt. Das Altenheim war insgesamt in einem erbärmlichen Zustand. Man konnte deutlich sehen, dass an allen Ecken und Enden das Geld fehlte. Das Heim bot denjenigen eine letzte Bleibe, die nicht viel besaßen und mit einer kleinen Rente auskommen mussten. Ich brauchte nicht lange über eine Altenresidenz nachdenken. Natürlich wäre es schön gewesen, in einer gepflegten, schicken Wohnanlage meinen Altersruhesitz zu beziehen. Mit lächelnden Damen an der Rezeption, regelmäßigen Bridgeabenden, Opernausflügen und Literaturrunden. Vielleicht sogar einem Schwimmbad, zweimal in der Woche Tanz und einem Restaurant mit Speiseauswahl. All das gab es in der Hansestadt Hamburg und ich hatte von derartigen, luxuriösen Angeboten schon gehört, hatte Prospekte gesehen und mir Erzählungen vom angenehmen Lebensabend im exklusiven Ambiente angehört. Aber für mich kam das nicht in Frage. In keinerlei Hinsicht.

Das Heim im Kettlerweg war mein Los für meinen Lebensabend. Die Unterkunft war sozial gefördert, sonst hätte ich mir nicht einmal das leisten können. Im Speisesaal gab es Neonbeleuchtung, praktische Esstische mit Metallkanten und Holzstühle mit abgewetzten Sitzflächen. Das Essen schmeckte meist fade und nach Großküche. Aber ich wurde satt. Dafür musste ich dankbar sein. Ich aß sowieso nur wenig und hatte in den letzten Jahren stark an Gewicht verloren. Dabei war ich schon immer schlank gewesen und hatte als junge Frau eine sehr gute Figur, die meine Weiblichkeit dezent betonte. Ein altes Foto von mir auf der Kommode war ein Beweis dafür. Es zeigte mich, Hanna, mit meinem Mann Alwin, kurz nach unserer Hochzeit. Wir standen etwas steif unter einem Kastanienbaum. Alwin hatte einen Arm um meine Schulter gelegt, während ich versuchte, kerzengerade auszuharren, bis der Fotograf sein Foto geschossen hatte.

Meine Kinder hätten mir sicher bei der Finanzierung eines Altersheimes, das etwas mehr Komfort bot, unter die Arme greifen können und ihren Teil dazu beigetragen, dass ich eine etwas angenehmere Unterkunft bekommen hätte und bessere Pflege. Aber ich wollte ihnen auf keinen Fall auf der Tasche liegen. Das hatte ich mir mein Leben lang geschworen und zur Maxime gemacht. Ich wollte weder auf Almosen, noch auf Geschenke angewiesen sein.

„Ja, meine Kinder.“

Geistesabwesend schaute ich aus dem Fenster. Die rauchende Pflegerin war verschwunden. Mein Blick ging über das Beet, das im Sommer vom Hausmeister bepflanzt wurde. Jetzt sah man nur noch Laub, verklumpte Erde, die teilweise darunter hervorguckte und Reste von Unkraut. Mir liefen unwillkürlich ein paar Tränen herunter. Das passierte mir in letzter Zeit immer öfter. Ich wurde im Alter sentimental. Ich schloss die Augen. Die Erinnerungen kamen immer wieder, flackerten wie ein kleiner Lichtstrahl auf und verschwanden. Wie Nebelschwaden über dem Seeufer, die plötzlich den Blick freigaben, dann aber wieder die Umgebung in dichten Dunst tauchten.

Manchmal waren die Bilder aber auch ganz klar, verschwammen nicht und spielten Szenen, wie in einem Film ab. Es waren meist die selben Handlungen von dem Mann, der mir alles bedeutet hatte. Wie in einem Traum wollte ich nach ihm greifen, ihn festhalten, doch ich verlor ihn immer wieder. Und dann löste er sich auf.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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