Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 7
ОглавлениеDas Leben beginnt
Nach der vierten Presswehe war ich auf der Welt. Meine Mutter gab mir den Namen Hanna Elisabeth. Eingewickelt in ein frisches Tuch nahm sie mich am 20. Januar 1916 glücklich und erschöpft in ihre Arme. Auch Frau Peters war stolz. Sie schob, wie eine Siegerin nach einem gewonnenen Kampf, die gekrempelten Ärmel des Kittels noch ein bisschen höher. Ihre Wangen waren rot und unter dem Kopftuch schauten zerzauste Haarsträhnen hervor, die sie sich flüchtig mit den Handrücken aus den Augen schob, während sie meine Mutter und mich anlächelte. Ihr Gesichtsausdruck verriet, was sie dachte: „So, das hätten wir geschafft.“
Noch viele Jahre später erzählte meine Mutter gerne, wie leicht die Geburt gewesen war, ein Kinderspiel. Die Schmerzen waren längst vergessen.
„Bei solchen Geburten kann ich noch zehn weitere Kinder bekommen,“ hat sie damals oft zu meinem Vater gesagt. Doch dazu kam es nicht.
Nach dem Krieg kehrte mein Vater heim. Den Feldzug hatte er ohne schlimme Verwundungen überstanden. Das grenzte fast an ein Wunder. Viele seiner Freunde und Kameraden waren bei den Gefechten und Angriffen schwer verletzt worden oder gestorben. Im Familien- und Freundeskreis gab es unzählige Tragödien. Junge Familien, die plötzlich keinen Vater mehr hatten, Ehefrauen, die viel zu früh junge Witwen wurden und Kinder, die als Halbwaisen groß werden mussten. Meine Mutter war unendlich erleichtert, als er zurückkam. An dem Tag, als er heimkehrte und sie ihn nach bangen Monaten wieder sah, schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte laut und hemmungslos.
Kurz davor, ich war bereits zwei Jahre alt, hatte meine Mutter erfahren, dass ihr Bruder nicht aus dem Krieg zurückkehren würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch noch kein Lebenszeichen von meinem Vater erhalten und war sehr in Sorge. Nach der Todesnachricht ihres Bruders weinte meine Mutter nicht. Doch die Trauer saß tief, das war deutlich zu spüren. Mehrere Tage sprach sie kaum ein Wort. Das war ihre Art, mit dem Verlust ihres Bruders und der Sorge um den eigenen Mann umzugehen.
Ihr Bruder Karl war an der Westfront bei einen der letzten Offensivangriffe, der „Operation Michael“, gestorben. Die „Operation Michael“, auch als Kaiserschlacht bekannt, wurde einen Tag nach meinem zweiten Geburtstag von der obersten Heeresleitung Hindenburg beschlossen.
Karls Kamerad Hermann berichtete von grauenhaften Zuständen an der Front. Mehrere Tage habe er selbst schwer verwundet im Schützengraben gelegen, ein Bein angeschossen, die fleischige Wunde stark blutend. Diese hatte sich unter den schlechten hygienischen Zuständen schnell infiziert. Immer wieder verlor er das Bewusstsein. Als er in dem dreckigen Erdloch wieder zu sich kam, spürte er, wie Tiere sich an ihm zu schaffen machten. Es waren Ratten. Sie waren überall, auf der Suche nach Essbarem.
Hermann hatte Karl als letzter gesehen. Verlaust, mit notdürftiger Uniform bekleidet. Schmutzig und stinkend lag er im schlammigen Bombenkrater, in den er geschleudert worden war, nachdem ihn eine Granate an der linken Schulter getroffen hatte.
„Es sei ihm zu wünschen, dass er sofort tot war“, sagte Hermann später mit aschfahlem Gesicht. Die Erlebnisse des Krieges sollten noch lange bei ihm und seinen Kameraden nachwirken. Viele kamen ihr Leben lang nicht über die Erinnerungen an die schrecklichen Szenen der Schlacht und die schlimmsten Stunden ihres Lebens hinweg. Einige nahmen sich das Leben oder ertranken ihre Erinnerungen im Alkohol. Andere wurden wahnsinnig oder vegetierten dahin, blickten teilnahmslos ins Leere, wurden sonderbar oder aggressiv. Hunderttausend Soldaten fielen zusammen mit Karl allein an der Westfront. Die wenigsten wurden auf Soldatenfriedhöfen begraben, viele von Ihnen lagen unentdeckt in den Kraterlandschaften. So auch Karl.
Aber mein Vater lebte und meine Mutter war erleichtert und glücklich.
Während des Krieges musste meine Mutter dafür sorgen, dass sie und ich über die Runden kamen. Ihr blieb keine andere Wahl, sie musste arbeiten gehen und das schon unmittelbar nach meiner Geburt. Durch einen glücklichen Zufall fand sie schnell eine Anstellung in einer Großnäherei, die auch für die Armee Aufträge annahm. Mich brachte sie zunächst in einer Krippe der Kirche unter. Dort konnte ich aber nur kurze Zeit bleiben. Später fand sie eine private Betreuung für mich und so landete ich, mit gerade mal elf Monaten, bei dem Ehepaar Hansen, die eine Gastwirtschaft im Hamburger Stadtteil Fuhlsbüttel besaßen. Hier brachte sie mich morgens früh hin und holte mich abends wieder ab.
Im Gasthof Kupferkrug wurde ich von den Angestellten und Gästen sehr verwöhnt. Ich war die meiste Zeit mit in der Wirtschaft, da Herr und Frau Hansen beide dort arbeiten. Nur wenn ich mittags schlief, legten sie mich in eine Kammer, in der ein altes Kinderbett von ihrer Tochter stand. Die Tochter war inzwischen vierundzwanzig und längst verheiratet und aus dem Hause. Die Hansens konnten sich nur wenig Personal leisten. Die Wirtschaft lief aufgrund der schlechten Zeiten schleppend und so blieb nicht viel zum Leben. Über den Zusatzverdienst als Babysitter waren sie äußerst dankbar.
Die nach vielen Entlassungen übrig gebliebene Belegschaft der Wirtschaft mochte mich.
„Ist die Kleine nicht süß?“ hieß es immer wieder. Die dicke Lore nahm mich auf den Arm, wiegte mich hin und her und sang mir Kinderlieder vor. Immer wieder wurde mir vom Koch oder der Bedienung etwas zum Essen oder zum Trinken gegeben. Als ich laufen konnte, boten mir viele Gäste an, bei Ihnen Platz zu nehmen und dann bekam ich auch von ihnen eine Kleinigkeit. Frau Hansen musste aufpassen, dass ich auch nur das aß, was für mein Alter angemessen war. Als ich einige Jahre älter war und längst nicht mehr unter der Obhut der Hansens, ging ich immer noch gerne in Gastwirtschaften, stets in der Annahme, dort bekäme ich etwas Leckeres. Meinen Vater ärgerte das sehr. Jedes Mal wenn er mich dabei erwischte, schimpfte er und manchmal bekam ich eine Ohrfeige. Ich erinnere mich noch, ich war wohl sechs Jahre alt, da bin ich beim Spaziergang ins Landhaus Wagner hineinspaziert. Die Wirtin winkte mir lustig vom Tresen und ich fühlte mich willkommen. Als sie gerade fragen wollte, ob ich meine Eltern suche, kam mein Vater hinter mir her gestürmt, griff mit seinem Arm um meinen Bauch, hob mich wie einen Kartoffelsack hoch und eilte mit mir hinaus. Draußen setzte er mich unsanft auf den Boden und gab mir eine Ohrfeige.
„Da hast Du nichts drin zu suchen!“, mahnte er mit erhobenem Finger. „Was denkst Du Dir nur, einfach in eine Wirtschaft zu spazieren und zu betteln wie arme Leute?“
Meine Wange brannte und ich weinte. Doch ich lernte nicht dazu und beging diesen Fehler immer wieder. Gasthäuser hatten eine magische Anziehungskraft auf mich und ich war zu klein, um die Reaktion meines Vaters verstehen zu können.