Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 5

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Ins Leben

Beim Kochen eines Rübeneintopfes in der Küche ihrer bescheidenen Wohnung, sank Ella-Marie Mauchert plötzlich in die Knie. Ein Schmerz durchzog ihren Unterleib. Es begann mit einem Stechen, schwoll weiter an, alle Muskeln verkrampften sich. Von außen nach innen verhärtete sich ihr Bauch zu einer festen runden Kugel. Ihre Atmung stockte, ihr blieb die Luft weg. Dann beschleunigte sich plötzlich ihr Herzschlag. Sie hielt sich mit beiden Händen am Küchentisch fest. Ihre Finger krallten sich in die abgenutzte Holzoberfläche.

Die Wehen hatten eingesetzt. Sie versuchte zu atmen, japste nach Luft und krümmte ihren Oberkörper. Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn. Dann war es vorbei. So schnell der Schmerz begann, verschwand er wieder, zumindest für zehn Minuten. Dann setzte er erneut ein. Sie hielt sich erneut an der Kante des Tisches fest, versuchte ruhig zu bleiben, ein- und auszuatmen. Die Schmerzwelle zog vorbei, schneller als beim ersten Mal.

Ella-Marie stellte den Herd aus, rührte das Essen noch einmal um und setzte sich auf den Küchenstuhl. Sie wartete ab und war sich sicher, dass gleich eine nächste Wehe einsetzen würde. Nichts passierte. Nach einer Viertelstunde erhob sie sich. Der Wäschekorb stand im Flur an der Tür. Die Wäsche hing noch auf dem Dachboden zum Trocknen.

„Die hole ich noch schnell runter“, dachte sie, stand auf, ging zur Tür und bückte sich zum Wäschekorb hinunter. Als sie sich aufrichtete, hielt sie kurz inne. Ihr dicker Bauch wölbte sich unter ihrer Schürze hervor. Sie strich über die Rundung, als wolle sie den Stoff glatt streichen.

Mit behäbigen Schritten ging sie die Treppen hinauf. Stufe für Stufe, langsam, gleichmäßig atmend. Oben ließ sie den Korb auf den Fußboden gleiten und begann Hemden, Socken und Bettwäsche abzuhängen. Als sie sich zum letzten Laken an der Leine reckte, spürte sie einen dumpfen Stich im Unterleib. Gleich darauf merkte sie, wie sich ein warmer Schwall zwischen ihren Beinen ergoss. Sie blickte erschrocken nach unten. Die Flüssigkeit lief ihr die Beine hinunter und unter dem Rock hervor. Langsam kroch das milchige Fruchtwasser über den Dielenboden, breitete sich um ihre Füße herum aus. Eilig nahm Ella-Marie die Wäsche, raffte den Rock und machte sich auf den Rückweg in ihre Wohnung, eine nasse Spur hinter sich herziehend. Bereits im Treppenhaus überkam sie die nächste Wehe. Heftiger und länger als die vorherigen beiden. Ella-Marie musste sich am Treppengeländer festhalten. Ihre Beine zitterten, Schweiß trat ihr, trotz der Kälte im Hausflur, auf die Stirn. Als die Welle des Schmerzes vorüber war, ging sie weiter. Noch langsamer als auf dem Weg hinauf, schlich sie nun behutsam die Treppe hinunter. Noch nicht ganz im ersten Stock angekommen, kam bereits die nächste Wehe. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Bauch. Er war fest, wie Stein.

„Ich muss atmen“, dachte Ella-Marie.

„Einatmen, ausatmen“, diese beiden Anweisungen sagte sie sich mantraähnlich im Geiste immer wieder auf. Nach dem siebten Ausatmen ließ die Kontraktion nach.

Mühsam schleppte sie sich zur Haustür, ließ den Korb fallen und umfasste mit beiden Händen den Türrahmen. Schon wieder setzte der Krampf im Unterleib ein. Sie fühlte, wie sich ein festes Band um ihren Leib zog und sich immer stärker zusammenschnürte. Ihr Bauch wurde erneut steinhart, alle Muskeln ihres Körpers schienen sich zusammen-zuziehen. Das Fruchtwasser klebte an ihren Beinen. Sie griff nach dem Türknauf und fühlte eine Spur von Panik aufkommen.

Ihr Mann Robert war nicht zu Hause und auch sonst nicht erreichbar. Er würde auch morgen und übermorgen nicht nach Hause kommen. Als Soldat musste er seinem Land dienen. Es war Krieg.

Robert Mauchert war irgendwo mit seiner Kompanie in Richtung Frankreich unterwegs, verbachte Wochen und Monate im Schützengraben. Ella-Marie erhielt nur wenig Post und wenn ihr Mann ihr schrieb, dann nur ein paar kurze Sätze. Sie wusste nicht, wie es ihm erging, was er durchmachte, welchen Gefahren er wirklich ausgesetzt war. Sie wusste auch nicht, wie groß seine Angst jeden Tag war, wenn ein neues Feuergefecht einsetzte. Und sie wusste auch nicht, ob er sie vermisste wie sie ihn. Sie hoffte es, aber wenige Post, die sie von ihm erhielt, gab ihr keine Gewissheit.

Robert war weit weg und konnte seiner Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht zur Seite stehen. Ella-Marie blieb nichts anderes übrig, als bei der Nachbarin zu klopfen und um Hilfe zu bitten.

Doch das war gar nicht mehr nötig. Ihre Nachbarin Frau Peters hatte schon das Poltern gehört, als Ella-Marie den Wäschekorb fallengelassen hatte. Sie war bereits an der Tür, um nachzusehen, was passiert war. Ella-Marie stand gekrümmt vor ihrer Wohnungstür und hielt sich den Bauch, als könne er jeden Moment vom Körper fallen. Frau Peters begriff die Situation sofort. Für den Weg ins Krankenhaus war es längst zu spät. Auch eine Droschke würde nicht so schnell kommen. Die Wehen folgten schnell und heftig aufeinander. Mit Unterstützung der Nachbarin gelangte Ella-Marie auf ihr Bett. Frau Peters holte eiligst ein paar Handtücher und Bettlaken und setzte in der Küche Wasser im Kessel auf. Mit hoch-geschobenem Rock lag Ella-Marie auf der Matratze und atmete schwer. Plötzlich begann sie zu hecheln, dann immer lauter zu stöhnen und zu schreien. Schon nach wenigen Minuten guckte das Köpfchen heraus. Auch Frau Peters standen die Schweißperlen auf der Stirn, doch sie meisterte die Geburtshilfe, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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