Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 12
ОглавлениеSchule und Krankenpflege daheim
Die Schule schlug mich für das Lyzeum vor. Ich musste eine Aufnahmeprüfung ablegen, die ich jedoch ohne Probleme bestand. Das machte mich sehr stolz. Meine Freundin Hildegard und meine andere Freundin Inge hatten nicht so viel Glück, beiden fiel die Prüfung erheblich schwerer und weder Hildegard noch Inge schafften es. Das war schade, denn so konnten wir nicht mehr gemeinsam zur Schule gehen. Meine Vorfreude auf die neue Schule minderte das jedoch nur wenig. Ich wollte unbedingt auf das Lyzeum.
Die Zeit in der neuen Schule begann für mich aufregend. Es gab so viele neue Lehrer, natürlich ganz viele neue Schüler. Gleich zu Anfang lernte ich Emmi kennen. Mit ihr verbrachte ich meine Pausen und wir trafen uns auch ab und zu am Nachmittag. Zu den anderen Mitschülerinnen hatte ich wenig Kontakt.
Aber die Vielzahl der neue Fächer machte mir große Freude. Ich versuchte mich von Anfang an gut zu organisieren, so dass ich immer genau Bescheid wusste, was ich zu lernen hatte und sogar schon, was als nächstes dran kam. Ich nahm mir fest vor, einen guten Abschluss zu machen und war in meinem Eifer kaum zu bremsen.
Wäre da nicht der Unfall meines Vaters dazwischen gekommen.
Wenige Monate, nachdem ich die Schule gewechselt hatte, brach bei meinem Vater in der Arbeitsstelle ein Feuer aus. Mein Vater saß über seinen Unterlagen und merkte erst nach einer Weile, was sich in den unteren Geschossen ereignete. Die Buchhaltung, in der er tätig war, befand sich im obersten Stockwerk des großen Hauses. Der Feueralarm funktionierte nicht. Die unteren Etagen waren bereits evakuiert. Durch den Lärm aufmerksam geworden, trat er aus seinem Büro und bemerkte die vielen Stimmen im Gang und den Rauch aus dem Treppenhaus.
Doch als gewissenhafter Mann verstaute mein Vater erst die Bücher im Geldschrank, bevor er sich auf den Weg nach draußen machte. Das Feuer breitete sich schnell aus und fraß sich in Windeseile durch das Gebäude. Erst als er die Sirenen der vielen Feuerwehrwagen hörte, war ihm das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Er beeilte sich, ins Treppenhaus zu gelangen. Zwei Stockwerke tiefer kamen ihm Feuerwehrleute mit Gasmasken entgegen. Mein Vater bekam in den dicken Rauchschwaden nur schwer Luft. Er presste sich ein Taschentuch vor den Mund und musste husten. Er hatte insgesamt fünf Etagen zu überwinden. Schnell hastete er die Treppe hinunter, schaffte die Stufen mit letzten Kräften, schwer atmend und keuchend. Kurz vor dem Ausgang aus dem Gebäude kippte er um.
Mit einer schweren Rauchvergiftung wurde er ins Krankenhaus gebracht, wo man seinen Kreislauf stabilisierte und ihn mit Sauerstoff und Flüssigkeit versorgte.
Meine Mutter und wir Kinder waren in großer Sorge, als wir die Nachricht aus der Klinik bekamen. Sofort eilte meine Mutter zu ihm. Sein Zustand war zunächst kritisch. Doch nach drei Tagen ging es aufwärts und er erholte sich von Tag zu Tag langsam, aber stetig. Schließlich ging es ihm so gut, dass er wieder nach Hause konnte. Doch kurz darauf brach er erneut zusammen.
Kurz nach dem Frühstück kippte mein Vater zu Hause plötzlich um. Er war schon die Tage vorher wieder ein wenig schwach geworden. Drei Wochen waren seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus vergangen. Er hatte sich noch vom Tisch in den Flur geschleppt und wollte sich am Türrahmen festhalten, da versagten ihm die Beine und er stürzte mit einem lauten Knall zu Boden. Beim Sturz zog er sich eine Platzwunde am Kopf zu.
Die Ärzte behandelten seine Verletzung am Kopf und eine kleine Wunde am Ellenbogen. Weitaus schlimmer war allerdings sein Allgemeinzustand. Er war schwach, ihm war schwindelig und seine Blutwerte waren schlecht. Die Ärzte veranlassten eine Menge Untersuchungen. Nach gründlichen Begutachtungen und einigen Tests kamen sie zu dem Ergebnis, dass er unter einer „perniziösen Anämie“ leide, die man auch Morbus Biermer nannte. Das war eine Form von Blutarmut, die auf den Mangel an Vitamin B 12 zurück geht. Typische Beschwerden seien Müdigkeit und Kollapsneigung, bestätigte uns der Arzt. Aber die Untersuchungen der Ärzte zeigten auch, dass Vater außerdem ein Lungenödem hatte. Die Wassereinlagerungen in der Lunge führten zu einer Schwächung und zu stetiger Atemnot die oft mit schlimmem Husten und schaumigem Auswurf endete.
Ob die Bildung des Lungenödems eine Folge der Rauchvergiftung war, konnten die Ärzte nicht genau sagen, vermuteten aber einen Zusammenhang. Auch blieb unklar, welche Erkrankung ausschlaggebend für seinen Zusammenbruch war.
Auf jeden Fall blieb mein Vater noch eine Weile in der Klinik. Als er schließlich nach Hause kam, war er immer noch kränklich und nicht vollständig genesen. Das sollte auch so bleiben, denn die Anämie und das Lungenödem machten ihm von da an dauerhaft zu schaffen, so dass er von diesem Tag an arbeitsunfähig war. Für unsere Familie hatte das erhebliche Auswirkungen, die auch unser ganzes Familienleben nachhaltig veränderten.
Das erste Jahr war besonders schwierig. Eine Krankenschwester kam regelmäßig zu uns. Täglich bekam mein Vater Spritzen und viele Medikamente. Zweimal wöchentlich kam der Arzt, um nach ihm zu sehen. Ein paar Mal im Jahr benötigte er außerdem eine Blutübertragung. Zum Glück hatte ein Mitbewohner in unserem Haus die gleiche Blutgruppe und erklärte sich bereit, die Blutspenden zu leisten.
Trotz regelmäßiger Therapie und Pflege war mein Vater zittrig und schwach und musste an einigen Tagen sogar gefüttert werden. Den Auftrag sollte ich übernehmen.
Meist nahm mein Vater die Mahlzeiten im Bett zu sich, weil er nicht die Kraft fand aufzustehen, den Morgenrock überzustreifen und an den Tisch zu kommen. Also ging ich mit einem Tablett zu ihm ins Schlafzimmer. Dort roch es nach Krankheit, abgestandener Luft und oft nach Urin. Manchmal stand unterm Bett noch die volle Bettpfanne, die mein Vater immer häufiger nutzte.
Wenn ich mit dem Essen zu ihm kam, deutete er mit einer schwachen Handbewegung unters Bett, um mir zu Verstehen zu geben, dass ich die Pfanne noch auszuleeren hatte. Wenn ich die volle Schüssel hinaus trug, war meine größte Sorge, ich könnt etwas von der Flüssigkeit, die oft einen öligen Film auf der Oberfläche trug, verschütten. Ich wollte auf keinen Fall, dass etwas der Ausscheidungen auf den Boden tropfte und schon gar nicht mir auf die Füße lief oder über die Hand schwappte. Mich ekelte der Topf und ich hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor mir, vermied es dabei, den Geruch einzuatmen und hielt die Luft so gut es ging an.
Immer wieder hatte mein Vater Wünsche, die er uns auftrug.
Mein Bruder allerdings brauchte kaum einen Handschlag tun. Ihm teilte mein Vater zwar gelegentlich mit, was er haben wollte oder was man für ihn tun könnte, doch Gerd übertrug das geschickt an meine Mutter oder mich.
Eines Tages verlangte mein Vater von mir, dass ich ihn rasieren sollte. Mit dem Rasiermesser. Mir schauderte bei dem Gedanken daran. Schon beim Füttern durfte ich nicht an seine Zähne kommen, da das sehr schmerzhaft für ihn war. Und nun sollte ich ihn also rasieren.
„Das kann ich nicht“, sagte ich ihm.
Er brüllte mich mit einer Energie an, die für seinen Krankheitszustand mehr als erstaunlich war.
„Doch, das kannst Du! Und ob du das kannst. Immer sagst Du, ´das kann ich nicht´. Das will ich nicht mehr hören. Jetzt stelle Dich nicht so an und fang an.“
Ich wich erschrocken zurück, doch nicht weit genug. Er drückte mir das Rasiermesser in die Hand und ich hatte keine andere Wahl. Ich pinselte ihm zuerst das Gesicht ein, so wie ich es schon mal bei ihm im Badezimmer gesehen hatte. Das war einfach. Meine Handbewegungen wurden durch meinen plötzlich aufkeimenden Optimismus ruhiger. Ich atmete ein paar Mal tief durch, tauchte den Rasierpinsel erneut ins Wasser und strich weiter über das blasse und eingefallene Gesicht, das mit Stoppeln übersät war.
Doch dann tropfte Seifenwasser auf das Kopfkissen. Ich konnte seinen kritischen Blick genau sehen und wartete luftanhaltend ab. Doch er sagte nichts. Als ich mit dem Einpinseln fertig war, nahm ich mit inzwischen wieder zittrigen Fingern das Rasiermesser in die Hand und näherte mich seinem Gesicht. Seine Haut war auch unter der Seife weiß und wirkte ganz dünn. Er sah durch seine Krankheit alt und gebrechlich aus. Sein Atem roch säuerlich und von seinem Körper strömte muffiger Schweißgeruch aus. Meine Unsicherheit war mit einer Heftigkeit zurückgekehrt, die mich erschreckte. Eigentlich hätte ich wieder und wieder tief durchatmen müssen, stattdessen hielt ich den Atem an.
Ich wandte meinen Blick von seinem Gesicht ab und betrachtete das Rasiermesser. Plötzlich merkte ich, wie Wut in mir hochstieg. Warum musste ausgerechnet ich, als junges Mädchen, meinen Vater rasieren? Ich konnte das nicht, hatte das zuvor noch nie gemacht. Ich würde ihn bestimmt verletzten. Nicht auszudenken, was wäre, wenn das geschah.
„Los jetzt, mach schon“, hörte ich wie aus weiter Ferne seine Stimme.
Ich setzt das Rasiermesser mit der Klinge auf der Mitte der Wange an und strich in Richtung Kinn. Das Messer schabte langsam über die Bartstoppeln. Ich stoppte in meiner Bewegung.
„Du musst stärker drücken, so wird das nichts“, sagte er barsch und hustete. Wieder hielt ich inne bis sich der Husten gelegt hatte und er den schleimigen Auswurf in eine Schüssel neben dem Bett spuckte. Mir wurde übel.
Dann setzte ich erneut an und drückte das Messer etwas stärker an das Gesicht meines Vaters, in der Hoffnung, die Haut würde nicht nachgeben.
„Ich darf ihn auf keinen Fall schneiden“, fuhr es mir durch den Kopf. Langsam glitt ich mit der Klinge über die Haut. Genau da passierte es. Ich sah mit Entsetzen den Tropfen Blut, ich hatte das Messer wohl zu steil angesetzt.
„Au!“, schnaubte er kurz auf.
Schnell zog ich die scharfe Klinge weg. Mein Vater drücke sich ein Tuch auf die kleine Wunde.
„Hätte ich mir gleich denken können, dass das nichts wird. Hol Deine Mutter, los!“
Ich legte das Rasiermesser zitternd auf den Tisch und sah, wie ein Blutstropfen von der Rasierklinge auf das Holz des Nachtschränkchens tropfte und einen dunkelroten Fleck hinterließ. Eilig verschwand ich.
In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig, ich hatte einen Traum. Ich saß mit dem Rasiermesser auf der Bettkante meines Vaters. Weil der Geruch so unangenehm war, hatte ich mir ein Tuch vor die Nase gebunden. Ich beugte mich nach vorne und schaute das Rasiermesser in meiner Hand an. Es war voll mit Blut. Das Blut tropfte von der Klinge, lief den Griff herunter über meine Hand. Ich schaute verzweifelt meine verschmierten Hände an, das Blut wurde immer mehr, wollte nicht aufhören. Ich atmete immer schneller, war verzweifelt. Mir stand der Schweiß auf der Stirn, doch ich konnte ihn nicht abwischen, weil ich sonst mein ganzes Gesicht mit den blut-ver-schmierten Händen eingerieben hätte. Dann fiel mir auf, dass mein Vater gar nicht schimpfte, ich schaute auf das Bett und da lag er mit offenen und leblosen Augen. Sein Gesicht war kreuz und quer über die Wangen aufgeritzt und alles war rot.
Keuchend erwachte ich. Meine Atmung kam stockend und flach und mein Nachthemd war schweißnass. Ich schaute erschrocken meine Hände an, um nachzuprüfen, ob an ihnen Blut zu sehen war. Erst als ich realisiert hatte, dass ich weder rote Finger, noch ein Rasiermesser in Hand hatte und alles nur ein Traum war, begann ich, mich etwas zu beruhigen. Aufrecht setzte ich mich im Bett hin, atmete ein und aus. Einschlafen wollte ich nicht wieder. Ich fürchtete, wenn ich die Augen schließen würde, kämen die Bilder zurück.
Im ersten Jahr der Krankheit meines Vaters zahlte seine Firma das Gehalt mit geringen Abzügen weiter. Im folgenden Jahr blieb jedoch das Geld aus. Es gab lediglich eine kleine Entschädigung, weil es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt hatte. Aber von diesen paar Reichsmark, die mein Vater jeden Monat bekam, konnten wir nicht überleben. Dadurch, dass meine Mutter meinen Vater pflegen musste, konnte sie auch nur geringfügig arbeiten. Meiner Mutter blieb schließlich nichts anderes übrig, als an die Wohlfahrt heranzutreten.
Inzwischen versuchte mein Vater seine Schmerzen mit Rotwein zu betäuben. Meiner Mutter wollte er weiß machen, dass der Wein gut sei, um wieder auf die Beine zu kommen. Der Wein würde ihn stärken und bei Blutarmut helfen, behauptete er. Das Gegenteil war wohl eher der Fall. Aber er bestand zunächst auf sein Glas am Tag. Er, der früher kaum mal etwas getrunken hatte und über trinkende Mitmenschen gerne den Kopf schüttelte.
Es dauerte nicht lange, da wurden aus einem Glas mehrere Gläser. Der Rotweinkonsum reduzierte das Haushaltsgeld meiner Mutter beträchtlich. In-zwischen musste sie beim Kaufmann anschreiben lassen. Als dieser nach einigen Wochen sein Geld forderte, zahlte sie mit den letzten Reichsmark aus der Haushaltskasse und ließ stattdessen beim Bäcker und Milchmann anschreiben. So verschoben sich unsere Schulden von Geschäft zu Geschäft. Schließ-ich standen wir auch beim Schuster und im Kurzwarenladen in der Kreide. Als mein Vater Wind davon bekam, war er wütend, schüttelte den Kopf und schnaubte meine Mutter an: „Wenn ich nicht aufpasse, klappt hier gar nichts mehr. Ich dachte, Du könntest haushalten.“
Dabei ging es gar nicht ums Wirtschaften, sondern vielmehr darum, dass einfach kein Geld vorhanden war. Schon gar nicht für kostspielige Rotwein-wünsche.
Als Tante Frida von den finanziellen Schwierigkeiten unserer Familie erfuhr, half sie aus und gab uns etwas Geld. Das war eine sehr unangenehme Angelegenheit für meine Eltern, sie gaben sich große Mühe, dass mein Bruder und ich davon nichts erfuhren. Aber natürlich bekamen wir die Diskussion der beiden Schwestern mit. Sie standen bei uns in der Küche, die Tür war zwar geschlossen, aber die gedämpften Stimmen waren trotzdem zu hören. Meine Mutter wollte das Geld erst nicht annehmen, aber Tante Frida konnte sie schließlich überzeugen. So konnten wir zunächst die Schulden bei den umliegenden Geschäften bezahlen und es blieb sogar noch etwas übrig.
Meinem Vater ging es von Monat zu Monat immer schlechter. Aus dem Bett kam er kaum noch hoch. Meine Mutter war längst nachts auf die kleine Couch in der Wohnstube umgezogen. Für uns alle war die Situation zu Hause unerträglich.
Eines Tages ging meine Mutter zu einer Art Hellseherin, die sie von einer Nachbarin empfohlen bekommen hatte. Sie wollte gerne wissen, wie sie meinem Vater helfen und seinen Krankheitszustand verbessern könnte.
„Ich kann nur etwas über ihren Mann sagen, wenn ich etwas persönliches von ihm habe. Ich muss Kontakt zu ihm aufnehmen können, wenn er selbst schon nicht kommen kann“, sagte die merkwürdige Dame, die in einer kleinen, dunklen Erdgeschosswohnung lebte.
Die Wände waren mit alten Stoffen verhängt. Vermutlich, damit man die Schimmelflecken nicht sah, denn nach modriger Luft roch es in der düsteren Behausung an jeder Ecke. Meine Mutter hatte vermutet, eine Frau mit vielen Ringen an den Fingern, nach hinten gebundenen Haaren und einem Tuch auf dem Kopf vorzufinden. Aber entgegen ihrer Vorstellungen saß eine kleine Frau mit grauem, kurzem Haar vor ihr. Ihre Haut war faltig, aber um die Mundwinkel huschte ein Lächeln, das der Umgebung die Trostlosigkeit nahm. Noch bevor meine Mutter sich am Küchentisch gegenüber der Hellseherin auf einem wackeligen Holzschemel niederlassen konnte, winkte diese jedoch ab und schickte meine Mutter wieder fort.
„Kommen Sie noch mal wieder und bringen Sie beim nächsten Mal einen Zettel mit dem Namen Ihres Mannes, handschriftlich von ihm selbst verfasst, mit. Das dürfte genügen.“
Zwei Tage später ging meine Mutter mit dem Zettel erneut zu dieser merkwürdigen Frau. Dieses Mal durfte sie am Tisch Platz nehmen. Als meine Mutter der Hellseherin den handschriftlich notierten Namen meines Vaters aushändigte, las diese den Namen immer wieder laut vor, erst aufmerksam, dann mit besorgtem Blick. Schließlich hob sie den Kopf, schaute meiner Mutter direkt in die Augen und sagte ernst: „Gehen Sie schnell nach Hause. Ich kann ihrem Mann nicht mehr helfen.“
Das Lächeln um ihre Mundwinkel war verschwunden. Meine Mutter war verwirrt. Sie hatte sich diesen Termin ganz anders vorgestellt. Doch sie erhob sich, zahlte, dankte und machte sich sofort auf den Heimweg.
In der Zwischenzeit passte ich auf meinen Vater auf. Ich saß neben seinem Bett. Plötzlich drang ein merkwürdiges Geräusch aus seiner Kehle, als ob er ganz tief atmen wollen. Doch nur ein krächzendes Pfeifen war zu hören. Er schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, krallte seine Hände in die Bettdecke. Dann fing er an zu zittern und rollte seltsam mit den Augen, so dass für einen kurzen Moment nur noch das weiße des Augapfels zu sehen war. Dann japste er, bekam keine Luft und ich bekam es mit der Angst. Ich lief aus dem Zimmer, danach aus der Haustür und wollte schnell zu unserer Nachbarin. Ein Windzug ging durch das Treppenhaus und in unsere Wohnung hinein. Durch den Luftzug knallte die Schlafzimmertür in unserer Wohnung mit einem lauten Knall zu. Ich fuhr zusammen. Hinter der Tür rang mein Vater um sein Leben. Schnell klopfte ich bei Frau Peters.
„Mein Vater, mein Vater“, stammelte ich, „kommen Sie schnell, es geht ihm nicht gut, können Sie mit zu uns rüberkommen?“
Ich tippelte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.
„Ich glaube, er stirbt“, fügte ich leise hinzu. Und da merkte ich, dass es genau das war, was ich vermutete.
Frau Peters eilte zu uns herüber. Mein Vater lag in seinem Bett. Er war ganz weiß im Gesicht. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Aber er atmete. Schwer hob und senkte sich seine Brust. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und schaute zu ihm hinüber. Er drehte den Kopf ganz leicht in meine Richtung. Da begegneten sich unsere Blicke. Seine Augen waren kalt und starr. In seinen Augen sah ich Verachtung und Kälte. Mich schauderte. Ich wusste in dem Moment, dass er mich nie lieben würde, dass er mich nie gemocht hatte. Ich war ihm unwichtig oder sogar lästig. Als ich das begriff, ertappte ich mich bei dem Gedanken, was wohl gewesen wäre, wenn er gestorben wäre.
Ich begriff plötzlich, dass ich über seinen Tod nicht traurig wäre. Mein Vater hatte nie ein gutes Wort für mich übrig, geschweige denn, dass er je Liebe für mich empfunden hatte. Zumindest hatte er mich das zu keiner Zeit spüren lassen.
Mich durchzuckte der Gedanke, dass ich für meinen Vater nur noch Hass empfand. Hass und Verachtung. Das ließ mich erschrecken und ich versuchte schnell alle aufkommenden Gedanken zu verdrängen.
Als meine Mutter nach Hause kam, riefen wir sofort den Arzt. Ich musste dem Arzt erzählen, was vorgefallen war. Er sagte, meinem Vater gehe es nicht gut, aber der plötzliche Luftzug habe ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Er wäre sonst erstickt. Der Arzt untersuchte meinen Vater noch einmal gründlich und sagte meiner Mutter dann, dass man nach neuesten Erkenntnissen mit dieser Krankheit maximal noch zwei Jahre zu leben habe.
Als ich in meinem Zimmer im Bett lag, dachte ich an die Aussage des Mediziners. Ich schämte mich ein wenig, aber mein vorherrschender Gedanke war, dass zwei Jahre schnell vergehen würden.
Doch es sollte anders kommen.
Ich war voll und ganz in die Pflege meines Vater eingebunden. Nicht nur am Nachmittag und Abend musste ich einspringen, auch an einigen Tagen vormittags, wenn meine Mutter Arbeit hatte. Sie verdiente für uns etwas zusätzliches Geld in einer Nähstube ganz in der Nähe. Sie hatte diese Arbeit aufgenommen, damit sie nicht noch einmal auf ihre Schwester angewiesen war. Weitere finanzielle Unterstützung wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Dadurch fehlte ich in der Schule häufig im Unterricht und versäumte sogar einige Arbeiten und verpasste damit den Anschluss an den Unterrichtsstoff, obwohl Emmi versuchte, mich auf dem Laufenden zu halten. Ich hatte allerdings wenig Zeit bei ihr vorbei zu gehen und mich nach dem Unterrichtsstoff zu erkundigen. Manchmal kam Emmi zu uns und erzählte mir, was in der Schule stattgefunden hatte. Mir war es immer etwas unangenehm, sie zu uns hinein zu bitten, da mein Vater jederzeit aus seinem Schlafzimmer rufen konnte und ich dann mit der gefüllten Bettpfanne an Emmi vorbeigehen müsste.
Ein Fehlen in der Schule hätte mir bei meinem Fleiß und Ehrgeiz eigentlich unangenehm sein müssen. Doch ich war wie erstarrt und ging mit einer dumpfen Gleichgültigkeit meinen Pflichten nach. Wahrscheinlich traute ich mich selbst nicht, darüber nachzudenken, weil mich das nur wütend gemacht hätte und ich dann jemanden die Schuld hätte zuweisen müssen.
Meine Lehrer waren die schulische Nachlässigkeit von mir als fleißige und gewissenhafte Schülerin nicht gewohnt und wunderten sich sehr über mein verändertes Verhalten. Eines Tages ließen sie meine Mutter zu einem Gespräch in die Schule kommen.
„Ihre Tochter ist eine so gute Schülerin. Sie hat alle Voraussetzungen, ihre Abitur zu machen“, sagte der Direktor, der ebenfalls beim Gespräch dabei war.
Auf sein Nachfragen, warum ich soviel Fehlzeiten in der Schule hätte, erklärte meine Mutter, wie die Situation bei uns zu Hause war und dass ich als zusätzliche Hilfe im Haushalt dringend benötigt wurde. In Absprache mit dem Schuldirektor schlug mein Klassenlehrer vor, ich solle die Klasse doch einfach wiederholen.
Doch meine Eltern hatten längst einen anderen Plan für mich. Sie machten mir den Vorschlag, ich sollte das Lyzeum wieder verlassen. Wobei es eigentlich kein Vorschlag war, sondern vielmehr eine dringende Bitte, der ich nachzugehen hatte. Und brav wie ich war, muckte ich nicht auf, sondern tat, was mir angeraten wurde.
Die Entscheidung meiner Eltern war eng mit der Befürchtung verknüpft, dass meine Mutter bald alleine mit uns beiden Kindern dastehen würde. Dann wäre es wichtig, dass ich einen guten Abschluss in der Volksschule machte, bald eine Arbeit fände und auch Geld verdienen könnte. Natürlich war das der vernünftigere Weg. Schließlich hatten wir so schon kaum Geld. Ich musste das einsehen, auch wenn ich gerne meinen gymnasialen Abschluss gemacht hätte. Also ging ich wieder auf die Volksschule zurück. Ich verbat mir, darüber traurig zu sein und versuchte es als Schicksal zu begreifen.
Die Lehrer an der Volksschule freuten sich, mich als Schülerin wieder in ihrer Klasse zu haben und die meisten Klassenkameraden empfingen mich ebenfalls freundlich. Alles in allem konnte ich mich nicht beklagen. Nur meine beste Freundin Hildegard war jetzt leider nicht mehr meine beste Freundin, weil sie inzwischen eine andere beste Freundin hatte, Inge. Ich akzeptierte auch das. Mir blieb sowieso keine Zeit, mich mit Freundinnen zu treffen oder etwas in meiner Freizeit zu unternehmen. Ich hatte einfach keine freie Zeit.
Zum letzten Schuljahr wurde unsere Klasse in der Oberaltenallee aufgelöst. Der größte Teil der Schülerinnen kam in die Schule in der Elsastraße. Darunter war auch ich. Dort lernte ich Lissi Grönhagen kennen. Wir mochten uns sofort und das Gute war, sie wohnte nur zwei Minuten von mir entfernt. Wir trafen uns so oft wie möglich. Manchmal auch nur sehr kurz, tauschten ein paar Neuigkeiten aus und verabschiedeten uns wieder. Endlich hatte ich wieder die Chance, eine Freundin zu haben, und vor allem jemanden in meinem Alter. Sie an meiner Seite zu haben, fühlte sich gut an. Hin und wieder war ich auch bei ihrer Familie zu Besuch. Ich mochte ihre Eltern. Sie waren nicht so streng wie meine. Bei ihnen zu Hause herrschte eine entspannte und gelassene Atmosphäre, die ich von meinem Zuhause nicht kannte. Ich fühlte mich bei ihnen wohl. Nur Lissis Mutter war manchmal etwas merkwürdig. Ich sollte sie noch näher kennenlernen, was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnte.
Lissi hatte auch noch einen Bruder, Alwin. Er war zwei Jahr älter als sie. Meistens war er nicht zu Hause. Ich sah ihn allenfalls kurz in der Küche oder an der Haustür, wenn er die Wohnung verließ. Nur einmal setzte er sich zu uns ins Zimmer und lernte mit uns. Er hatte viel Geduld mit uns Mädchen und versuchte uns sehr bemüht, etwas in Mathematik zu erklären, was ich allerdings selbst schon längst verstanden hatte. Ich tat aber so, als bräuchte ich noch weitere Hilfe. Nach einer Weile musste ich kichern, als er erneut ansetzte und zum dritten Mal mühsam versuchte mir das Gleiche noch mal zu vermitteln. Mein Lachen vernehmend schaute er etwas verdutzt und schüttelte nur den Kopf. Wahrscheinlich dachte er: „Die dummen Mädchen…!“
Mir aber gefiel Alwin, ich mochte ihn.
Zusammen mit meiner neuen Freundin verging das letzte Schuljahr wie im Flug. Ende März begannen die Prüfungen und nach dem Schulabschluss sollte für uns der Ernst des Lebens beginnen. Wir waren mit der Schule fertig und mussten uns eine Arbeit suchen.