Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 8
ОглавлениеBruderherz
Als ich drei Jahre alt war, wurde mein Bruder Gerd geboren. Ich hatte mich sehr auf ein Geschwisterchen gefreut. Natürlich wusste ich nicht, was mich erwartete. Als ich meinen so heiß ersehnten Bruder sah, war die Enttäuschung entsprechend groß. Mit dem konnte ich nicht spielen, der war viel zu klein und zerbrechlich. Er hatte ein knallrotes Gesicht, schwarze, ölige Haare und einen dünnen, zerbrechlichen Körper. Er sah aus wie ein Vogel-junges, das aus dem Nest gefallen war, verklebte Flügel, schleimig, fragil, aber mit einem dicken Kopf. Er kam etwas früher als erwartet zur Welt. Dieses Mal verlief die Geburt für meine Mutter alles andere als leicht. Die Wehen setzten zu früh ein und sie kam ins Krankenhaus. Dort kämpfte sie viele Stunden mit starken Schmerzen, doch die Geburt wollte nicht richtig voranschreiten. Die Wehen kamen und gingen. Nach drei Tagen war meine Mutter mit den Kräften am Ende. Eigentlich sollte der Geburtstermin erst drei Wochen später sein. Sie bekam von der Hebamme am dritten Tag einen Becher mit einem fürchterlich schmeckendem Getränk, wie sie später erzählte und dann kam mein Bruder doch endlich auf die Welt. Es muss ein Zaubertrank gewesen sein. Mein Bruder war gesund und munter und mein Vater war sehr stolz auf seinen Sohn. Endlich hatte er den heiß ersehnten „Thronfolger“ bekommen, auf den er schon bei meiner Geburt gehofft hatte. Er lief freudestrahlend durch unser Haus und posaunte herum, dass er endlich einen männlichen Nachkommen habe. Man hätte meinen können, es sei sein erstes Kind. Fortan wurde mein Bruder umsorgt, getätschelt und mit Aufmerksamkeit überschüttet. Mir war das fremd.
Als mein Bruder kein halbes Jahr alt war, bekam meine Mutter Scharlach. Sie musste sofort ins Krankenhaus. Das hatte auch für den Rest der Familie Folgen. Meinen Bruder nahm sie mit ins Krankenhaus, da er noch so klein war und dort von Schwestern betreut werden konnte. Ich dagegen wurde ins Waisenhaus gebracht. Vorübergehend natürlich. Mein Vater hatte keine Zeit, sich um mich zu kümmern, er musste arbeiten. Also konnte er nicht für mich sorgen. Auch die Nachbarn hatten keine Zeit. Verwandtschaft, die hätte einspringen können, stand nicht zur Verfügung. Schließlich wurde ich mit meinem kleinen Köfferchen fortgeschickt.
Die Zeit im Waisenhaus war schrecklich. Die Räumlichkeiten waren ärmlich und karg, die Einrichtung schlicht. Aber das war nicht das Schlimmste. Keiner hatte für uns Kinder Zeit. Mir kamen die Tage ewig lang vor. Außerdem fror ich immerzu. Es zog durch die Fenster und nachts hätte ich mir eine dicke Decke gewünscht, noch lieber jemanden, an den mich ankuscheln konnte.
Immer sonntags gab es für mich dann doch einen kleinen Lichtblick, ich durfte zu meiner Tante Frida, der älteren Schwester meiner Mutter, und den Tag dort verbringen. Wenn ich zu ihr kam, trug ich immer noch meine Kleidung aus dem Waisenhaus: blaugestreifte Uniform und dicke schwarze Wollstrümpfe, die bis zum Knie hochgezogen wurden und an den Beinen kratzten.
„Du siehst aus wie ein kleiner süßer Sträfling“, sagte Tante Frida zu mir, hob mich hoch und dann nahm sie mich in den Arm und drückte mich.
„Aber ich bin nicht im Gefängnis, ich habe nichts getan“, erwiderte ich dann und musste jedes Mal lachen.
Ich kuschelte mich noch tiefer in ihre Arme, schloss die Augen und schmiegte meinen Kopf an ihre Schulter. Tante Frida roch nach Seife, das gefiel mir. Sie war so nett zu mir. In der Zeit hatte ich das Gefühl, sie war der einzige Mensch auf der Welt, der für mich da war. Ich wollte am liebsten bei ihr bleiben. Aber das war nicht möglich. Tante Frida musste die ganze Woche über in einer kleinen Fabrik in Stellingen arbeiten. Sie ging früh morgens aus dem Haus und kam erst abends wieder.
Dann kam Weihnachten und ich war immer noch im Waisenhaus. Ich hatte mir gewünscht, das Weihnachtsfest zu Hause verbringen zu dürfen, doch meine Mutter blieb noch im Krankenhaus und meinem Vater war es zu Hause mit mir zu anstrengend. Es schien ihm unmöglich, mir ein Weihnachtsfest zu bescheren, mit Essen, einem Tannenbaum, Kerzen und womöglich noch einem Geschenk. Ich wollte aber gar kein Geschenk, ich wollte einfach nur zu Hause sein. Oder zumindest bei Tante Frida. Doch ich blieb im Waisenhaus. Ich habe später oft darüber nachgedacht, warum Tante Frida mich Weihnachten nicht zu sich geholt hatte. Sie hatte keine eigenen Kinder. Ihr Mann, Onkel Eckhard, war schon älter. Vielleicht wollte er auch lieber alleine mit Tante Frieda Weihnachten feiern, ohne ein Kind, das Nähe suchte, Wärme und Zuneigung brauchte, immer Geschichten hören wollte oder auf Socken über den Flur rutschte. Vielleicht hatte mein Vater es auch einfach nicht erlaubt, dass sie mich Weihnachten einluden.
Ich fand es nie heraus.
Weihnachten im Waisenhaus war anders als ich erwartet hatte. Natürlich trugen wir unsere gestreifte Kleidung. Aber auf dem Tisch stand eine Kerze. Und wir bekamen Geschenke. Es gab für alle Kinder Spielsachen. Die Überraschung für mich war groß. Ich erinnere mich an Reifen, die wir im kalten Flur des Heimes von einem Ende zum anderen rollten. Wir bekamen Puppen, die wir im Arm halten konnten, Bälle, die durch die Zimmer sprangen. An diesen Festtagen hatten wir Kinder großen Spaß. Wir spielten, wir lachten und waren ausgelassen wie an keinem anderen Tag zuvor. Am Abend sangen wir gemeinsam Lieder und die Klänge erfüllten das Haus. An diesem Heiligen Abend ging ich seit vielen Tagen zum ersten Mal mit einem wohligen Gefühl ins Bett. Ich glaubte den anderen Kindern ging es ähnlich, denn wir waren die Feiertage über in einer besonderen Stimmung. Lachen erfüllte die Räume.
Doch kaum waren die Festtage vorbei, wurde unsere Freude jäh zerstört. Alle Spielsachen wurden wieder eingesammelt und auf dem Dachboden verstaut. Ich konnte es kaum glauben. Die Enttäuschung bei uns Kindern war riesengroß. Doch nicht bei allen Heimbewohnern. Einige Kinder, die schon Jahre dort wohnten und das Prozedere und die weihnachtlichen Spielsachen aus den letzten Jahren kannten, maßen dem Verlust nur eine kurzfristige Bedeutung bei. Sie kannten es nicht anders, hatten uns anderen aber kein Sterbenswörtchen davon erzählt. Ich weinte, konnte mich kaum beruhigen und sehnte mich noch mehr nach meinem Zuhause, als je zuvor.
Noch viele Jahre später, als ich selbst Mutter war und später Großmutter, hatte ich an Weihnachten immer das Bedürfnis nach einem glücklichen und erfüllten Fest. Die ganze Familie musste zusammen kommen, es sollte für jeden Geschenke geben und waren sie noch so klein, wichtig war, dass jeder seine Geschenke behalten durfte.
Vier Tage vor meinem vierten Geburtstag kam meine Mutter, für mich völlig unerwartet, ins Waisenhaus. Ich freute mich so sehr und fiel ihr stürmisch um den Hals.
„Vorsicht“, sagte sie und schob mich etwas unbeholfen von sich, „ich bin noch nicht ganz gesund und noch ganz schwach.“
Behutsam setzte sie mich wieder zurück auf den Boden und blickte mir in die Augen.
„Hanna, bald kannst Du nach Hause kommen.“
Ich schaute sie an und verstand nicht ganz, was sie mir sagen wollte. Ich wollte doch sofort mit ihr mitgehen.
„Ich will aber jetzt nach Hause!“, rief ich, für meine Verhältnisse ungewöhnlich laut.
„Jetzt! Jetzt! Jetzt“, klang es in meinem Kopf immer wieder.
Mein Mutter strich mir über den Kopf und ließ ihre Hand bei mir im Nacken ruhen. Gedankenverloren kraulte sie mir den Haaransatz, so dass sich Strähnen aus meinen Zöpfen lösten. Ich wünschte, sie würde damit nie aufhören.
„Ich darf Dich heute noch nicht mitnehmen. Der Arzt hat gesagt, ich soll mich noch schonen. In vier Tagen komme ich aber wieder und hole Dich heim, bis dahin kannst Du noch mit den anderen Kindern spielen.“
„Ich will aber nicht mit den anderen Kindern spielen, ich bleibe hier nicht, ich will mit Dir mit“, jetzt schrie ich regelrecht und klammerte mich an das Bein meiner Mutter.
Das angenehme Kraulen im Nacken war längst beendet. Meine Mutter schaute sich hilfesuchend um und schob mich dann unsanft von sich. Doch ich drängte mich wieder und wieder an sie heran. Ich weinte und schrie. Die Heimleiterin kam schließlich, zog mich fort und meine Mutter verschwand.
Die restlichen Tage im Heim kamen mir endlos vor. Einen Tag, bevor ich endlich abgeholt werden sollte, erkrankten auch im Waisenhaus zwei Kinder an Scharlach. Für das Heim bedeutete dies, dass keines der Kinder das Haus verlassen durfte. Wir alle standen unter Quarantäne. Auch ich. Diese Regel musste streng eingehalten werden, so wollte es die Heimordnung.
„Wer weiß, wer uns das eingeschleppt hat“, hörte ich eine Pflegerin sagen.
„Fehlt nur noch, das wir alle Scharlach bekommen“, erwiderte ihre Gesprächspartnerin.
„Wir sitzen doch sowieso schon mit den Kindern hier fest. Dann müssen wir uns gegenseitig pflegen. Raus können wir jedenfalls erst einmal nicht. Ich möchte wissen, wem wir das zu verdanken haben.“
Mir wurde ganz anders. Hatte meine Mutter die Krankheit etwa ins Waisenhaus gebracht? Plötzlich wurde mir übel. Schnell lief ich in mein Zimmer zurück. Kurz darauf musste ich mich übergeben. Die Aufregung war zu viel für mich. Den Abend verbrachte ich im Bett, man brachte mir eine warme Grützsuppe. Aber ich fühlte mich krank und wurde die Sorge nicht los, dass ich irgendwie schuld am Krankheitsausbruch war und jetzt zur Bestrafung auch noch Scharlach bekam.
Diese Befürchtung bestätigte sich nicht, aber ich konnte trotzdem nicht nach Hause. Es war eine Katastrophe. Das Schlimmste war, dass ich meinen Geburtstag im Waisenhaus feiern musste. Es gab keine Geschenke, es gab auch keinen Geburts-tagskuchen. Meine Mutter durfte nicht kommen, da sie sich erneut anstecken könnte. Das einzige, was an diesem Tag ungewöhnliches geschah, war, dass die Leiterin des Waisenhauses mir die Hand gab und mir zum Geburtstag gratulierte.
Anfang Februar, an einem trüben und kalten Tag, war es dann endlich soweit. Ich durfte heim. Meine Mutter holte mich ab, trug mein Köfferchen und wir kehrten dem Waisenhaus den Rücken.
Als wir zu Hause waren, hing ich den ganzen Tag am Rockzipfel meiner Mutter. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt. Keinen Raum konnte sie ohne mich betreten, keinen Handschlag ausführen, ohne mich an ihrer Seite zu haben. Ich folgte ihr durch den Flur in die Küche, von der Küche ins Wohnzimmer und ins Treppenhaus. Zunächst strich sie mir noch ein paar Mal liebevoll über das Haar. Aber nach einer Weile war sie sehr genervt. Ich erschwerte ihr jede Tätigkeit. Wenn sie meinen Bruder auf den Arm nahm, wurde ich noch anhänglicher.
Abends schimpfte mich mein Vater als ungezogen und rücksichtslos aus. Als er vor mir stand und mich maßregelte, hatte ich Angst, er würde mich schlagen. Unwillkürlich duckte ich mich und wollte mich unauffällig zur Seite drehen, um schnell verschwinden zu können. Doch er hatte bemerkt, dass ich entwischen wollte.
„Dein Verhalten…“, seine Stimme zitterte, doch mitten im Satz stockte er. Er sah, dass ich Angst bekam. Abrupt drehte er sich um und ging. In dem Moment fing mein Bruder in seinem Körbchen an zu schreien. Meine Mutter war sofort zur Stelle.
Meine Mutter brauchte immer noch viel Ruhe. Sie war nicht belastbar, schnell erschöpft und schwach. Sie sah sehr blass im Gesicht aus. Sie erinnerte mich an ein Mädchen im Waisenhaus. Sie war viel älter als ich, ganz dünn und hellhäutig. Ihre Haut im Gesicht wirkte fast durchsichtig. Manchmal kam sie mir wie ein Gespenst vor und ich machte einen großen Bogen um sie. Das taten die anderen auch. Sie hatte kaum Freunde. Oft musste sie tagelang im Bett liegen und sich ausruhen. Ich wusste nicht, was mit ihr los war, aber jetzt kam wieder die Erinnerung an das Mädchen.
„Sie ist eine Fee, aber sie ist sehr krank“, sagte die Heimleiterin eines Tages und ließ uns Kinder mit dieser Aussage einfach stehen.
Ich fragte mich, ob sie wirklich eine Fee war. Eine Fee darf sich immer etwas wünschen, dann hätte sie sich sicher gewünscht, dass sie wieder gesund werden würde.
Um meine Mutter zu unterstützen, bat ich sie, mir das Kochen beizubringen, damit ich das übernehmen könne, wenn sie wieder krank würde. So hoffte ich, nie wieder ins Waisenhaus zu müssen. Für die Arbeiten im Haushalt und vor allem fürs Kochen war ich natürlich noch viel zu klein.
„Das kannst Du nicht, Hanna“, sagte meine Mutter und schüttelte über meine Idee, den Haushalt zu übernehmen nur den Kopf.
„Aber ich will Dir helfen“, beharrte ich.
„Später, Hanna. Jetzt wasch Dir die Hände, damit wir essen können.“
In dem Haus, in dem wir wohnten, lebten noch andere Kinder. Die Nachbarin über uns, Frau Heil, hatte zwei Töchter, Anni, die so alt war wie ich, und Ilse, knapp zwei Jahre jünger. Unter uns im Erdgeschoss lebte die Familie Warneck. Der Sohn Heino war deutlich älter. Mir kam er immer wie ein Erwachsener vor, obwohl er das noch längst nicht sein konnte, er ging noch zur Schule und war noch nicht einmal im Stimmbruch. Heinos Schwester Irmgard war auch so alt wie ich, nur drei Tage jünger. Manchmal spielten wir zusammen. Jedoch betraten wir nie die Wohnung von ihnen, um Irmgards und Heinos Vater aus dem Weg zu gehen. Er trank oft zu viel und wurde dann sehr laut und manchmal auch gewalttätig. Von unserem Vater kannten wir das gar nicht. Er trank nur selten Alkohol. Höchstens mal ein Bier. Heino und Irmgard suchten gelegentlich Zuflucht bei uns, wenn ihr Vater wieder mal zu tief ins Glas geschaut hatte. Einmal kam Irmgard ganz aufgeregt zu uns und erzählte, dass ihr Vater Heino geschlagen hätte. Am nächsten Tag sahen wir Heino, er hatte seine Mütze tief in sein Gesicht gezogen, damit man die blauen Flecken nicht sah. Seine linke Gesichtshälfte war rot und unter dem Auge hatte sich ein großer Bluterguss gebildet. Das Auge war zugeschwollen. Er sah übel aus. Als ich sein Gesicht sah, erschrak ich. Heino sah aus, als hätte er im Boxring gestanden. Von diesem Moment an habe ich immer einen großen Bogen um seinen Vater gemacht und wenn ich durchs Treppenhaus lief und im Erdgeschoss allein durch die geschlossene Tür die Stimme von Herr Warneck hörte, beschleunigte ich meinen Schritt.
Später ist Heino weggezogen, gleich nachdem er die Schule beendet hatte. Er konnte es gar nicht abwarten, von seinen Eltern, insbesondere von seinem Vater, fortzukommen. Seine Mutter machte das sehr traurig. Sie wirkte von da an noch niedergeschlagener als sonst. Ich sah sie einmal im Treppenhaus weinen. Frau Heil stand bei ihr und hatte den Arm um Frau Warneck gelegt, um sie zu trösten.
„Das wird schon wieder…“, hörte ich unsere Nachbarin sagen. Frau Warneck konnte aber nichts erwidern, ihr Körper schüttelte sich vor Schluchzen. Mir war die Situation so unangenehm, dass ich schnell in unsere Wohnung verschwand.
Ich habe Heino danach nie wieder gesehen. Von Ilse hörte ich mal, dass sich Heino später in einem Sozialverband engagiert hat, der sich um Frauen kümmert, die von ihren Männern unter Alkoholeinfluss misshandelt wurden. Als sie mir das erzählte, begriff ich plötzlich, was in der Wohnung unter uns vorgefallen sein musste.