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Ferien bei den Großeltern

Meine Mutter hatte sich von Ihrer Krankheit nach der Geburt meines Bruders nicht wieder richtig erholt. Sie blieb geschwächt und anfällig. Um wieder etwas zu Kräften zu kommen, sollte sie zur Kur geschickt werden. Meine Eltern versuchten einen geeigneten Zeitpunkt zu finden und so wurde der Aufenthalt meiner Mutter in der Erholungsklinik in die Sommerferien gelegt. Mein Bruder kam zu Tante Frida, die inzwischen nicht mehr arbeitete, aber nur ein Kinde zu sich nehmen wollte. Ich sollte zu meinen Großeltern nach Westeregeln, südlich von Magdeburg. Das war für mich eine lange Reise. Mein Bruder hätte das nicht geschafft, somit war klar, dass ich die lange Reise antreten musste und er in Hamburg bleiben konnte.

Ich fuhr mit meinem kleinen, alten Köfferchen mit der Bahn. In Hannover musste ich umsteigen und von Magdeburg ging es mit einem Pferdefuhrwerk bis zum Haus meiner Großeltern. Vor Aufregung konnte ich am Abreisetag nichts essen. Geschlafen hatte ich in der Nacht kaum. Die Reise war für mich als Zwölfjährige ein großes Abenteuer.

Zuvor war ich mir nicht sicher, ob ich dem gewachsen war. Aber ich beschwerte mich nicht, keinen Augenblick. War ich doch froh, nicht ins Waisenhaus oder eine ähnliche Einrichtung zu müssen. Natürlich wäre ich auch gerne zu Tante Frida gegangen. Aber meine Eltern wollten nicht, dass sie zwei Kinder hüten musste. Und zu meinen Großeltern hätten sie meinen Bruder nicht schicken können.

Mein Großvater war ein ruhiger, alter Mann. Er redete nicht viel. Er saß viel in seinem großen Ohrensessel im Wohnzimmer und schaute nach draußen. Er hatte ein freundliches Gesicht. Gerne wäre ich auf seinen Schoß geklettert und hätte mir alte Geschichten von ihm angehört. Doch er wollte lieber seine Ruhe haben.

Meine Oma war eigentlich gar nicht meine Oma, sondern die Stiefmutter meiner Mutter. Ihre leibliche Mutter war an den Folgen einer Frühgeburt gestorben. Meine Mutter war damals ein Jahr, ihre Schwester Frida zwei Jahre und ihr Bruder Karl bereits sechs Jahre alt. Mein Großvater konnte die drei Kinder damals nicht alleine großziehen und so kam eine junge Frau aus dem Dorf, um ihm zu helfen. Die junge Frau hieß Lotte und war damals sechzehn Jahre alt. Nachdem sie einige Jahre im Hause ausgeholfen hatte, heiratete mein Großvater sie. Da die drei Kinder noch so klein waren und zumindest die Mädels sich an ihre leibliche Mutter kaum erinnerten, kam es ihnen gar nicht merkwürdig vor, dass Lotte die Mutterrolle übernahm. Lotte hatte bisher immer für sie gesorgt und auch oft im Gästezimmer übernachtet, wenn sie noch spät abends auf die Kinder aufpasste. Als Großvater Lotte heiratete ging sie abends nicht mehr nach Hause und schlief auch nicht mehr im Gästezimmer. Lotte zog zu meinem Großvater ins Schlafzimmer und das Gästezimmer wurde frei.

Als ich den Sommer bei meinen Großeltern verbrachte, oder besser gesagt bei meinem Großvater und Lotte, kam auch Lottes jüngster Bruder Viktor mit seiner Frau Helene zu Besuch. Sie brachten ihr Kind Herbert mit. Herbert sollte ebenfalls eine Weile in Westeregeln bleiben. Helene musste zu ihrer Mutter, die alt und krank war und selber alleine nicht mehr im Hause klar kam.

Ich fand den kleinen Herbert sehr süß. Er war auch sehr zutraulich zu mir. Doch ehe ich mich versah, orderte Tante Lotte an, dass ich Herbert ausfahren sollte. Beim ersten Mal machte es noch Spaß mit dem Kinderwagen durch die Straßen zu schieben. Einige Kinder aus dem Dorf schauten mir hinterher oder liefen ein Stück mit.

Doch von da an musste ich mich täglich um Herbert kümmern. Ich fuhr ihn nicht nur aus, ich brachte ihn ins Bett und fütterte ihn beim Essen.

Wenn ich mit Herbert unterwegs war und er in der Karre lag, war er ruhig. Aber wehe, man hielt an oder stellte ihn ruhig in eine Ecke. Dann machte er fürchterlichen Lärm und wollte auf dem Arm getragen werden. Somit blieb mir nichts anderes übrig als möglichst oft und weit mit ihm zu spazieren.

Lotte war über die Jahre recht dick geworden und hatte Probleme mit den Knien. Sie konnte nicht lange laufen, war schwerfällig und hatte Mühe, Herbert auf dem Arm zu tragen. Ich hatte gar keine Möglichkeit, den Kleinen an jemand anderen abzugeben. Schon gar nicht an meinen Großvater. Kinder genoss er lieber aus der Ferne und Babys waren schon gar nichts für ihn. Er knuffte Herbert zwar ab und zu mal kurz in den Bauch, doch dann entfernte er sich auch schnell wieder. Ihm war es gar nicht Recht, wenn Herbert länger in seiner Nähe war und womöglich noch bespaßt werden musste.

Da Herbert bei Lotte im Bett schlief, zog Großvater aus dem Schlafzimmer aus und quartierte sich im Gästezimmer ein. Ich bekam das alte Kinderzimmer. Ich konnte von Glück reden, dass Herbert nicht auch noch bei mir schlief.

So süß der kleine Herbert auch war, ich war schon nach einer Woche verärgert. Ich wollte meine Zeit so gerne anders verbringen, mich mit den Mädchen im Dorf treffen. Im Weiher schwimmen gehen oder auf der Wiese Äpfel klauen. Nach zwei Wochen, als ich mal wieder nach einem langen Spaziergang mit Herbert nach Hause kam, schrieb ich meiner Mutter eine Karte und beklagte mich fürchterlich, dass ich Kindermädchen spielen müsse und keine Zeit zum Spielen hätte. Weiter bat ich meine Mutter, sie möge mir Geld schicken, damit ich mir eine Fahrkarte nach Hause kaufen könne. Ich gab dem Briefträger die Karte und bat ihn, diese für mich fortzuschicken. Er nahm sie entgegen und versprach, meine Postmitteilung auf den Weg zu bringen. Da der Postbote allerdings der Sohn eines alten Schulfreundes von Lotte war, erfuhr meine Großmutter schnell, dass ich etwas verschickt hatte.

„Hanna, hast Du zufällig eine Karte geschrieben?“

„Nein, wieso?“ antwortete ich und war mir sicher, glaubwürdig zu klingen.

„Hast Du beim Briefträger nicht etwas abgegeben?“

„Ich weiß nicht, was Du meinst?“, versuchte ich es noch mal.

Aber meine Oma, wie ich sie längst nannte, blieb hartnäckig und brachte ihre Vermutung auf den Punkt: „Hanna, Du hast doch eine Postkarte an deine Mutter geschickt! Ich habe doch das Porto für Dich bezahlt. Was hast Du geschrieben?“ Sie klang dabei nicht streng, eher interessiert.

„Nichts“, log ich. Mir war die ganze Sache sehr peinlich. Meine Großmutter sollte nicht wissen, dass ich fort wollte.

Ich wich Ihrem Blick aus und fürs Erste beließ sie es dabei. Ich war erleichtert und glaubte das Thema für beendet erklären zu können. Aber ich war ein kleines Mädchen und hatte keine Ahnung, dass meine Großmutter die Nacht über wach lag und sich Gedanken machte, was mit mir los war.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und erblickte Lotte auf meiner Bettkante.

„Guten Morgen Hanna, nun sag mal, ist etwas passiert? Hast Du Kummer?“

Schlaftrunken hob ich den Kopf, noch zu müde, etwas zu sagen.

„Hanna, Lorenz, der Postbote, hat mir erzählt, dass Du an deine Mutter geschrieben hat.“

Jetzt musste ich reinen Tisch machen und erklärte ihr, dass ich abreisen wollte.

„Aber bist Du denn nicht gerne bei uns?“, fragte meine Großmutter mit besorgtem Gesicht.

„Doch, aber…“ stotterte ich verlegen. Doch dann gestand ich ihr, dass ich das Ausfahren des kleinen Herberts nicht mochte und viel lieber mit den anderen Kindern aus dem Dorf spielen wollte.

Großmutter war erst ein bisschen traurig, vor allem, weil ich die Karte an meine Mutter heimlich geschrieben hatte und natürlich weil ich von ihr weg wollte. Doch dann meinte sie, „Du hättest es mir doch sagen können.“

Sie drückte mich an sich.

„Hanna, Du wirst hier bleiben. Es tut mir leid. Ich werde mir etwas ausdenken und Du wirst sehen, es werden noch schöne Ferientage für Dich.“

Von dem Tag an brauchte ich nicht mehr Kindermädchen zu spielen und bekam sogar noch eine Freikarte für das Schwimmbad und meine Großmutter vergewisserte sich jeden Tag, ob ich auch Spaß hatte und glücklich war. Um Herbert kümmerte sich jetzt die Tochter einer Nachbarin aus der Straße, die abends in der Wirtschaft arbeitete und sich tagsüber ein paar Groschen dazu verdiente.

Ich verlebte die letzten Tage so, wie ich es mir zuvor vorgestellt hatte. Ich ging in das Freibad, traf mich mit den anderen Kindern, lief mit ihnen zum Eismann und verbrachte richtige Ferientage.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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