Читать книгу Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität - Andrea Krahl-Rhinow - Страница 14

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Im Zeltlager

Mein nächster Urlaub fand schon ein Jahr später statt. Mit einem Teil der Jugendgruppe ging es eine Woche ins Zeltlager an die Ostsee. Unsere Reisegruppe bestand aus drei Mädchen, fünf Jungen und unserem Gruppenführer Friedel Bohnsack. Wir Mädchen hatten ein eigenes Zelt nur für uns. Allerdings schafften wir es nicht, das Zelt alleine aufzubauen. Nach zwei Stunden stand das Gerüst immer noch nicht. Friedel war kurz verschwunden und wir quälten uns mit dem Zeltstangen und der Plane bis alles wieder zusammenfiel und wir uns vor Lachen bogen. Wir hatten großen Spaß, aber immer noch kein Dach über dem Kopf.

Die Jungs hatten uns aus der Ferne beobachtet.

„Typisch Mädchen“, riefen sie und zwei von ihnen kamen uns zur Hilfe.

„Na, sollen wir das mal übernehmen?“, sagte Hans und trat dicht an unsere Zeltplane heran, gefolgt von Werner.

Lässig, mit den Händen in der Hosentasche standen Werner und Hans vor uns. Sie hatten wohl nur darauf gewartet, endlich zur Tat schreiten zu können. Das Zelt der Jungs war längst aufgebaut, obwohl es viel größer war.

„Aber gerne doch“, sagte Gerda keck.

„Obwohl wir das natürlich auch alleine schaffen“, fügte ich hinzu, ohne es selber zu glauben.

„Ja, das haben wir ja gesehen“, konnte sich Hans nicht verkneifen.

Mit ein paar flinken Handbewegungen richteten die Jungs das Gerüst auf und befestigten den Stoff darüber. Keine Viertelstunde später waren sie fertig.

Werner legte sich ordentlich ins Zeug, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, so dass seine Muskeln gut sichtbar waren und zwinkerte meiner Freundin Gerda mehrmals zwischendurch zu. Gerda schien das zu gefallen. Sie blickte immer wieder zu ihm hinüber, kicherte etwas zu laut und benahm sich plötzlich ganz affektiert und nach meinem Geschmack wie eine blöde Gans. Werner teilte meine Ansicht keineswegs.

Während eines Nachtspazierganges kamen sich die beiden näher. Es war trotz des Mondscheins und ein paar sichtbarer Sterne erstaunlich dunkel. Das mochte an dem leicht verschleierten Himmel liegen, der sich wie ein dünner Vorhang vor die Himmelskörper geschoben hatte.

Wir waren am Wasser unterwegs. Ich sah die Umrisse von Gerda und die von Werner. Er hatte ihre Hand genommen und sie spazierten weit ab vom Rest der Gruppe am Strand entlang. Ich ertappte mich, dass ich immer wieder zu ihnen schauen musste. Ich war neugierig. Ob sie sich wohl küssen würden?

Und es ging noch etwas anderes in mir vor. In mir blitzte das Verlangen auf, auch jemanden zu haben, jemandem so nahe zu sein. Ich wollte selbst schwärmen und umschwärmt werden. Einen kurzen Moment war das Gefühl so groß und beherrschend, doch dann verflüchtigte es sich wieder.

Plötzlich schauten alle gebannt nach oben in den Himmel, der inzwischen viel klarer wirkte, als noch eine Stunde zuvor. Auch ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute hoch. Es war kaum zu glauben, da waren Sternschnuppen. Es waren viele, so viele hatte ich noch nie auf einmal gesehen. Überhaupt hatte ich bisher nur einmal in meinem Leben eine Sternschnuppe gesehen. Das war bei Tante Frida. Damals hatte ich vergessen, mir etwas zu wünschen. Jetzt setzte ich mich in den Sand und formulierte in Gedanken meinen Wunsch: Ich wollte mir von meinem Vater das Leben nicht schwer machen lassen. Wie ich so in den Himmel schaute, wusste ich, dass ich nur ganz fest an meine Wünsche glauben musste, damit sie in Erfüllung gingen.

„Hast Du dir etwas gewünscht?“, fragte mich Rudolf, einer aus unserer Gruppe. Ich schaute den hochgewachsenen Jungen an, den ich zwar schon ein paar Mal wahrgenommen hatte, dem ich aber bisher nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er stand vor mir, etwas unbeholfen, seine Arme schlackerten am Körper, er wußte nicht wohin mit seinen Händen. Sein Pony hing ihm wild ins Gesicht, seine Haut war pickelig, aber das konnte ich in dem Moment im Dunkeln zum Glück nicht so genau sehen. Er setzte neben mich in den Sand. Ich tat es ihm nach, lehnte mich etwas zurück und schaute ebenfalls nach oben in den Himmel. Wir beide schwiegen. Dann fragte er mich noch einmal: „Hast du dir etwas gewünscht?“

Er rückte etwas näher an mich heran, doch ich schaute weiter geradeaus und tat so, als würde ich seine Nähe nicht spüren.

„Ja, ich habe mir etwas gewünscht.“

„Verrätst Du, was?“

„Nein, sonst geht es nicht in Erfüllung!“

Viel mehr redeten wir an diesem Abend nicht, aber wir saßen noch eine Weile beisammen.

Am nächsten Tag machten wir Mädchen mit unserem Gruppenführer Friedel einen Tagesausflug nach Neustadt. Gerda wollte eigentlich nicht mit und lieber bei Werner bleiben. Aber Friedel bestand darauf, dass wir Mädchen alle gemeinsam etwas unternahmen. Die Jungs wollten in der Zwischenzeit beim Bauern helfen und uns durch ihre Arbeit etwas zum Essen beschaffen.

Nach Neustadt gingen wir natürlich zu Fuß. Das war eine Wanderung von drei Stunden hin und drei Stunden zurück. Auf dem Hinweg gingen wir eine ganze Strecke am Strand entlang. Wir sammelten Steine und Muscheln. Friedel erzählte uns viele Dinge über das Meer, die Vegetation und andere Fundstücke, die uns begegneten. Gerda und Elisabeth waren ganz begeistert von ihm und hörten interessiert zu. Gerda schien sogar ihren Werner zwischenzeitlich vergessen zu haben. Ich schüttelte innerlich den Kopf, als ich sah, wie sie nun unseren Gruppenführer anhimmelte. Sowohl Gerda, als auch Elisabeth hingen geradezu an seinen Lippen. Friedel schien das zu genießen. Mich ließ das Getue völlig kalt. Ich interessierte mich vielmehr mehr für meine Schätze, die ich unterwegs fand. Wunderschöne und farbig schimmernde Muscheln, aber auch Steine, die rund, vom Wasser abgeschliffen waren. Sie lagen geschmeidig in den Händen und glitten durch die Finger. Andere hatten außergewöhnliche Farben, glitzerten in der Sonne oder waren durchzogen von Marmorierungen. Ich bewahrte alle Fundstücke in einem Taschentuch auf, das ich an den Ecken zu einem Beutel zusammen hielt.

Als ich Friedel mit den beiden Mädchen am Wasser sah, er hochgewachsen, schlank und immer wieder neue Dinge erklärend, die Mädchen bewundernd zu ihm hochblickend, musste ich insgeheim an Rudolf denken, der mir gestern auf die Pelle gerückt war. Wir hatten noch eine Weile am Strand gesessen. Die anderen waren schon nicht mehr zu sehen gewesen. Ich hatte das Gefühl, Rudolf wartete auf etwas. Vielleicht wartete er darauf, dass ich mich zu ihm drehen würde und mich in seine Arme fallen ließ. Da konnte er lange warten. Ich wollte nicht irgendeinen, ich wollte, wenn schon, den Richtigen.

Als wir aus Neustadt zurück zu unserem Zeltlager kamen, empfingen uns die Jungen mit besorgten Gesichtern. Wir hatten gehofft, die Jungen würden uns mit einer warmen Suppe empfangen, aber es kochte nicht einmal Wasser auf unserem Kocher.

„Ihr guckt ja wie sieben Tage Regenwetter, was ist passiert?“, fragte Elisabeth sofort.

Wie so oft drängte sich auch Gerda gleich nach vorne und baute sich vor Hans, Günter und Werner auf.

„Wir haben alle nach dem Marsch einen ordentlichen Hunger. Wir dachten ihr bereitet schon alles vor uns serviert uns ein köstliches Mahl“. Während Gerda sprach, stellte sie sich gekonnt in Pose, um die volle Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Hatten wir ja auch vor“, entgegnete Werner trocken, ohne jedoch auf Gerdas kokette Gesten einzugehen.

„Hier“, rief Ulrich, der hinter mir stand, „das gibt es heute zu Essen!“

Er hielt ein Paket Kekse in die Luft. Als ich mich zu ihm umdrehte, warf er mir das Päckchen zu.

Ich schaute auf die Packung. „Das soll reichen? Hattet ihr keine Lust zu kochen?“

„Lust schon, aber das Wasser ist verseucht.“

Wir schauten erstaunt.

„Welches Wasser?“, fragte Friedel, der gerade erst eintraf, weil er noch Holz im Wäldchen geholt hatte.

„Das Wasser, das wir auch heute morgen für den Kaffee und gestern zum Kochen der Suppe genommen haben.“

Mir wurde übel. Sofort grummelte es bei mir im Magen und ich hatte das Gefühl, ich müsse gleich auf die Toilette.

Die Jungs erklärten uns dann ausführlich, dass das Wasser, das so romantisch den Abhang herunter gerieselt war, das verdreckte Abwasser vom Bauernhof war. Von wegen Quelle. Der Bauer hatte sie aufgeklärt, als sie bei ihm aushalfen.

Wir hatten das Wasser arglos zur Essenszubereitung verwendet. Bei genauerer Prüfung hätten wir auch den etwas strengen Geruch feststellen können.

Sofort befürchteten wir, dass wir alle krank werden würden. Neben den Keksen gab es am Abend noch ein paar Mohrrüben und Äpfel. Keiner von uns hatte Lust zum Bauern zu laufen und um frisches Wasser zu bitten.

Schon in der Nacht klagten die ersten von uns über Bauchschmerzen. Am nächsten Morgen erwischte es Rudolf so stark, dass er sich vor Krämpfen nur noch krümmte. Er war ganz blass im Gesicht, konnte sich kaum auf den Beinen halten und musste sich immer wieder übergeben. An diesem Tag hatte er andere Sorgen, als um mich herum zu schleichen. Ich musste zugeben, er tat mir leid.

Friedel beschloss sofort, nachdem er Rudolf in seinem Zustand gesehen hatte, dass wir die Zelte abbauen sollten.

„Lasst uns lieber gleich abreisen, bevor noch mehr von uns krank werden. Hauptsache, wir kommen heil nach Hause.“

Somit war der Urlaub beendet. Und tatsächlich bekamen noch drei aus unserer Gruppe Magenkrämpfe und Durchfall. Ich hatte Glück, mich erwischte es nicht. Aber Gerda. Sie litt ganz besonders auf der Rückfahrt. Werner war ihr keine große Hilfe. Gerda saß im Zug auf der Holzbank mit Taschentuch vor dem Mund und kreidebleichem Gesicht und hoffte, schnell nach Hause ins Bett zu gelangen und zumindest unterwegs alles bei sich zu behalten.

Ich war traurig, dass die Reise ein so schnelles Ende fand. Jetzt musste ich nach Hause zurück, was für mich immer weniger ein Vergnügen war. Doch schon bald sollte es wieder auf Tour gehen.

Unsere nächste Reise folgte schon vier Monate später. Dieses Mal ging es in die Tschechoslowakei, ins Riesengebirge. Rudolf fragte mich sofort, ob ich denn auch wieder dabei sei. Ich überlegte nicht lange. Obwohl Rudolf nicht der Grund für meine Zusage war. Vielmehr reizte mich die Gesellschaft der Gruppe und natürlich das Reiseziel. Ich war noch nie im Ausland gewesen. Ein paar aus unserer Gruppe nahmen an Wettspielen in Trutnov teil, das war der ursprüngliche Grund für die Fahrt. Anschließend sollte es dann auf Wanderschaft gehen.

Unser Ziel war die Wiesenbaude, eine der ältesten Bauden im Riesengebirge. Von Friedrichsthal starteten wir über den Ziegenrücken stetig bergauf zur Baude. Die Riesenbaude lag auf einer Hochfläche auf 1400 Metern Höhe, unterhalb der Schneekoppe. Für Wanderer gab es dort oben nicht nur Verpflegung, sondern auch ausgestopfte Vögel zu bewundern und Veranstaltungen rund um Tier und Natur. Wir waren sehr beeindruckt von dieser hochgelegenen Gastwirtschaft. Sechs Jahre später brannte die Wiesenbaude im Krieg leider komplett nieder. Gerne wäre ich in späteren Jahren noch mal an diesen Ort zurückgekehrt.

Friedel hatte uns in der Wiesenbaude bereits angekündigt und als wir ankamen, wurden wir mit Gitarrenmusik empfangen.

Wir stimmten sofort in ein paar Lieder ein.

Der schweißtreibende und mühsame Aufstieg war schnell vergessen. Am Abend gab es ein köstliches Essen. Wir aßen gefüllte Knödel mit Kraut und die Jungs tranken echtes Pilsner, einige danach noch einen Sliwowitz, den guten Pflaumenschnaps aus Böhmen. Mit der Musik ging es nach dem Essen am Abend weiter. Im Gastraum stand ein sehr schönes, mit Gebirgsblumen bemaltes Klavier. Ich hatte es sofort bewundert, als wir die Stube betraten. Ein junger Mann aus einer anderen Wanderergruppe setzte sich an das Instrument. Er spielte ganz hervorragend, zunächst ein paar landestypische Lieder, dann ein bisschen Swing und später Volkslieder, die wir mitsingen konnten. Ein paar aus unserer Gruppe standen um das Klavier herum, wippten im Takt, andere rückten ein paar Tische und Stühle zur Seite und tanzten.

Rudolf wich den ganzen Abend mal wieder nicht von meiner Seite. Er bestand sogar darauf mich einzuladen. Da ich wie immer knapp bei Kasse war, willigte ich ein, was ich nicht hätte tun sollen. Denn mit der Zustimmung zur Einladung wuchs bei ihm die Zuversicht, das aus uns noch etwas werden könne.

Am nächsten Tag ging unsere Tour weiter. Wir wollten hoch auf die Schneekoppe wandern und dann auf der anderen Seite wieder hinunter bis nach Ober-Kleinaupa, auf niederschlesischer Seite.

Hinauf zum Gipfel waren es von der Wiesenbaude nur gute 200 Höhenmeter, aber der Weg war sehr beschwerlich, da ein strammer Wind blies, was für die Schneekoppe nicht ungewöhnlich war.

Ich band mir mein Kopftuch ganz fest und zog es tief ins Gesicht, so dass ich kaum rechts und links blicken konnte. Auf dem Weg gab es keinen Schutz, die Landschaft war kahl und zugig. Wir hatten die Waldgrenze längst erreicht. Den letzten Busch und verkrüppelten Baum hatten wir kurz hinter der Baude hinter uns gelassen. Von nun an gab es bis hoch zur Wetterwarte, die 1899 auf dem Gipfel als höchste Wetterstation nördlich der Donau errichtet wurde, nur noch Schotterwege, Geröll und harte Grassodenpfade.

Wir marschierten tapfer drauflos, unsere schweren Rucksäcke auf dem Rücken.

Oben angekommen, hatten wir tatsächlich einen fantastischen Blick. Bei Sonne und warmen Temperaturen wäre es sicher noch schöner gewesen, aber wir konnten nicht klagen. Schließlich lag die Jahresdurchschnittstemperatur dort oben bei knapp unter null Grad. Somit hatten wir großes Glück immerhin die acht Grad erreicht zu haben, wie uns ein Thermometer an der Wetterwarte die aktuelle Temperatur anzeigte. Die Station wurde ganzjährig von einem Wetterbeobachter bewohnt, der eine kleine Wohnung im Erdgeschoss des Gebäudes besaß. Im ersten Stock gab es noch ein Dienstzimmer und darüber befand sich das Observatorium. Zwar gefiel mir der Blick von oben auf Böhmen und Schlesien sehr, aber wohnen hätte ich dort oben nicht wollen.

Wir blieben nicht lange auf dem Gipfel, denn wir hatten noch eine gute Strecke vor uns.

„Ich schlage vor, wir teilen die Rucksäcke der Mädchen auf und übernehmen das Gepäck“, verkündete Friedel an die Jungs gewandt.

Ich hatte meinen Rucksack zwar schon hinauf getragen, doch war ich nicht böse darum, meine Schulter für eine Weile zu entlasten. Rudolf war sofort an meiner Seite.

„Gib nur her,“ sagte er und griff schon nach dem Riemen. Somit hatte er mein Päckchen auch noch zu tragen.

Wir waren noch eine ganze Weile unterwegs. Der Abstieg war mühsamer, als zunächst angenommen. Wir wurden aber mit schönen Waldwegen und Rast an einem Bächlein, in das wir unsere Füße strecken konnten, belohnt. Die Temperaturen wurden wieder angenehmer, je weiter wir talwärts liefen.

Da die Jungs ihr eigenes und unser Gepäck getragen hatten, waren sie vom Wandern mit der schweren Last so erschöpft, dass wir Mädchen uns bei der Ankunft in unserem Quartier in der Nähe von Ober-Kleinaupa sofort bereit erklärten, uns um das Essen zu kümmern. Dazu mussten wir in das nächste Dorf gehen. Wir machten uns auf. Friedel kam mit uns. Das Dorf bestand nur aus ein paar Häusern und Höfen. In einer kleinen Backstube auf einem Bauerngehöft, etwas abseits von den anderen Häusern, bekamen wir Brote, die wir in Tücher wickelten. Wir trugen sie den Berg hinauf zu unserer Unterkunft, einer alten Scheune, die etwas höher gelegen war. Doch auf dem engen Pfad mit den vielen Bäumen und herausragendem Wurzelwerk stolperte ich. Ich konnte mich gerade noch auffangen, um nicht der Länge nach auf dem Boden zu landen. Doch um das Gleichgewicht zu halten, ruderte ich mit den Armen und das Tuch ging auf und die beiden Brote, die ich trug, rollten heraus. Schnell lief ich hinterher. Die anderen folgten mir. Doch dabei löste sich auch Hildes Tuch und jetzt rollten schon vier Brote den Abhang hinunter. Eigentlich waren wir müde von den Strapazen des Tages, doch wir rannten den rollenden Broten hinterher und lachten laut und übermütig.

Nur Friedel nicht. Der blieb einfach stehen und war besorgt, dass wir nichts zu essen haben würden. Aber dem war nicht so. Wir rannten so schnell wie möglich und selbstverständlich holten wir nach einer Weile unsere davoneilenden Brotlaibe ein, da diese in Senken liegenblieben, oder an Baumstämmen oder Steinen gestoppt wurden. Sie waren etwas schmutzig geworden und der eine oder andere Grashalm klebte an der Kruste. Wir hatten später beim Essen jedoch den Eindruck, sie schmeckten dadurch noch besser.

Den ganzen Abend waren die rollenden Brote das Gesprächsthema Nummer eins. Rudolf schaute mich immer wieder an, als ich von unserem Erlebnis erzählte. Ich spürte seinen intensiven Blick ganz deutlich. Er schaute anders als die anderen. Seine Augen ließen nicht von mir ab. Um mich abzulenken und nicht rot zu werden, redete ich immer weiter.

Später am Abend, als sich die Gruppe auflöste und einige schon schlafen gingen, setzte er sich zu mir und es störte mich nicht. Im Gegenteil. Ich merkte, dass ich froh war, mit ihm gemeinsam noch mal über die Ereignisse des Tages zu lachen. Doch es blieb beim gemeinsamen Lachen. Mehr wollte ich nicht zulassen.

Leider war das unsere letzte gemeinsame Fahrt mit der Jugendgruppe. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Regierungsgewalt wurde damit der NSDAP übertragen. Alle Jugendgruppen, die nicht politisch ausgelegt waren, mussten aufgelöst werden. Somit fiel auch unsere Gruppe der neuen Regierung zum Opfer. Die Jungen konnten zur Hitler Jugend wechseln und wir Mädchen dem Bund Deutscher Mädchen beitreten. Das taten die meisten auch. Nur eine kleine Gruppe von uns, ein paar Jungs und neben mir noch ein paar Mädchen, hielten zusammen. Wir trafen uns weiterhin, ohne uns anderweitig zu organisieren. Rudolf war nicht dabei, er hatte sich für die Hitlerjugend entschieden.

„Warum kommt Ihr nicht auch mit?“ hatte er die anderen Jungs beim letzten Treffen gefragt.

„Weil wir bei Hitler nicht mitmachen wollen!“ sagte Harald entschieden und mit resolutem Unterton.

„Das ist doch Unsinn. Das ist genauso eine Jugendgruppe wie unsere“, beharrte Rudolf.

„Ja, und dann müssen wir marschieren und Hitlers Parolen grölen, nein, da machen wir nicht mit.“

Hans hatte sich entschieden zu Wort gemeldet.

Rudolfs Blick fiel auf mich.

„Hanna, was ist mit Dir? Willst Du nicht zum Bund Deutscher Mädchen?“, fragte er mich.

„Das ist eine tolle Gruppe, die sind eine großartige Gemeinschaft und Du kannst dem Führer dienen!“

„Ich möchte nicht dem Führer dienen. Ich möchte, dass unsere Gruppe zusammen bleibt“, antwortete ich etwas patzig.

„Ach, Du hast doch keine Ahnung. Du wirst schon sehen, was Du davon hast. Ich jedenfalls bin stolz, dabei zu sein.“

Sollte er doch stolz sein.

Auch meine Freundinnen Liselotte und Traudel entschieden sich für Hitler. Nur Gerda blieb mir treu.

Hanna lebt - Zwischen Krieg, Sehnsucht und Realität

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