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Betroffenheitsindustrie

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Ein Katastrophenereignis jagt das nächste. Die Meldungen sind schrill. Die Bilder zeigen alles, ungeschminkt, ungeschönt, dramatisch. Es ist angesichts der Bilderschwemme und der sich überschlagenden Meldungen oft nicht ganz einfach, sich dem Geschehen zu entziehen. Außer man schaltet ab.

Ich habe mittlerweile das Empfinden, dass die Masse förmlich darauf wartet, bewusst und unbewusst, dass wieder ‚etwas‘ passiert, je näher, desto besser. Durch Sätze wie, ‚das ist erst der Anfang‘, ‚wer weiß, welche Lawinen da noch auf uns zukommen‘ etc. wird das kollektive Geschehen weiter befeuert.

Es ist diese für mich seltsam anmutende Mischung aus Katastrophenerwartung, geschürt durch tatsächlich stattfindende Ereignisse, durch die mediale Berichterstattung, durch kollektives Denken und Sprechen, durch Bilder, mit denen wir täglich konfrontiert werden.

So ergibt sich ein Amalgam, das den nächsten Terroranschlag, die nächste Flutkatastrophe, den nächsten Flugzeugabsturz, das nächste Erdbeben und das nächste ‚was auch immer‘ nahezu heraufbeschwört. Ein Großteil des Kollektivs ist in seiner Erwartung auf den nächsten Big Bang gebürstet. Und der muss größer als ‚9/11‘, als London, als Madrid, als Paris 2015, als der Tsunami 2004, als Germanwings 2015, als Brüssel 2016– als ach – ich weiß nicht was sein.

Soziale Netzwerke und die mediale Berichterstattung fördern das, was ich als Betroffenheitsindustrie bezeichne. Der Spagat zwischen Information und Flutung mit Bildern und Zahlen, Daten, Fakten, dieser Spagat ist eine Herausforderung – zugegeben.

Es ist bemerkenswert, wie schnell sich viele mit Unbekannten und Unbekanntem, noch nie selbst Erfahrenem identifizieren. Es ist bemerkenswert, wie rasch Je suis … gepostet wird und mit welcher Verve kommentiert, geteilt und geliked wird.

Ich hinterfrage diese Haltung der Globalidentifizierung. Ich hinterfrage die tatsächliche Betroffenheit, das tatsächliche Mitgefühl. Ich hinterfrage das Mitlaufen und schnell auf den Knopf drücken und teilen und liken. Ich klage es nicht an, kein J’accuse. Nein – ich hinterfrage bloß das, was ich wahrnehme.

Ich wünsche mir mehr Distanz, um wahres Mitgefühl zulassen zu können. Ich wünsche mir weniger vordergründige Betroffenheit, die oft die sogenannte Katastrophe noch weiter in ihren Wirkungen stärkt. Ich wünsche mir mehr Menschen, die auch bereit sind, Hintergründe zu erfahren, einzuschätzen und zu einem wahrscheinlich völlig anderen Bild zusammenbauen als einem vorgegaukelt wird.

Einfach mal innehalten, bevor man sich über Dinge aufregt, die Teil einer veränderten Zeitqualität sind. Einfach innehalten und durchatmen, bevor man in die kollektive Betroffenheit hineinfällt, ohne zu wissen, wo man hinfällt.

Nein – dies sind keine GedankenSplitter gegen Mitgefühl. Ja – dies sind GedankenSplitter, um auf einem schwankenden Boden das innere Gleichgewicht zu halten, Herz und Verstand wahrnehmen zu können und den nächsten Schritt machen zu können. Denn – nur um diesen geht es in unseren so bewegten Zeiten. Dann wird auch eine neue Form des Mitgefühls möglich sein.

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