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Prolog

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Ein schriller Schrei durchdrang die Stille. Gebannt sahen die Leute nach oben. Der Falke stürzte sich vom Dach, flog die Beute an, die der Junge an einem Seil über seinem Kopf schwang, um sie dann blitzschnell wegzuziehen. Der Vogel sauste an ihm vorbei, ganz nah über die Köpfe der Zuschauer hinweg, wendete, kehrte zurück und streifte den Strohhut eines alten Mannes. Die Glöckchen an seinen Füßen klingelten kurz, und schon nahm er wieder Höhe auf, landete auf einem Baum und schrie erneut sein durchdringendes »Eeek-eeeek-eeeeek«. Das Publikum applaudierte begeistert. Oben auf dem Baum hob und senkte der Falke aufgeregt den Kopf.

Wenige Meter darunter, auf der obersten Stufe der kleinen Tribüne, standen ein Mann und eine Frau und klatschten ebenfalls Beifall. Auf der Wiese dahinter war ein Festzelt aufgebaut.

»Unglaublich«, sagte der Mann, »jetzt weiß ich, warum Lennart unbedingt wollte, dass ich zur Feier komme.«

»Es ist ein besonderer Tag für ihn. Für uns alle.« Sie zeigte auf ihren Sohn, der wieder das Federspiel schwang. »Das erste und einzige Mal, dass er Cosmo vorführen will.«

Wieder sauste der Falke durch die Luft.

Plötzlich hatte die Frau ein merkwürdiges Sirren im Ohr. Sie drehte sich um, die Sonne blendete, und sie hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Da war etwas, es stand in der Luft wie eine Libelle. Es hatte glitzernde Flügel, aber es war größer und machte ein unnatürliches Geräusch. Als sie einen Schritt darauf zuging, flog es blitzschnell davon.

Der Mann stieß die Frau an, er sprühte vor Begeisterung. »Sieh doch, Johanna! Genau wie sein Vater! Weißt du noch, damals im Studium? Robert war so versessen auf Greifvögel, er hätte fast seine Botanik-Prüfung versemmelt.« Im nächsten Moment erlosch das Feuer in seinen Augen. »Wie er uns immer von seinem Traum erzählte, eine Auffangstation für verletzte Wildvögel aufzubauen«, fügte er leise hinzu.

»Und nun feiern wir schon Zehnjähriges! Wir sollten endlich den Sekt aufmachen.« Sie presste die Lippen zusammen, es war offensichtlich, dass ihr nicht nach Sekt zumute war.

»Es tut mir sehr leid für euch. Robert war mein bester Freund. Wenn ich nur etwas tun könnte.«

Sie zuckte die Schultern. »Das kann wohl nur die Zeit heilen. Aber es tut gut, dass du gekommen bist, Sam.«

Der Junge hatte Futter auf seinen Handschuh gelegt und stieß einen Pfiff aus, um den Falken anzulocken.

Johanna verfolgte weiter das Geschehen unten, während sie redete. »Dein Artikel im Wildlife-Magazin war großartig. Lennart ist so stolz, weil er dabei sein durfte.«

»Die eigentlichen Stars sind doch die Kinder und ihre Vögel«, sagte Sam bescheiden. »Es war nicht mal meine Idee. Robert wollte diesen Artikel schreiben und hat die Kinder ausfindig gemacht. Ich habe nur seine Arbeit beendet.«

»Wir hatten sogar eine Anfrage vom Fernsehen, aber ich wollte das nicht. Diese Vorführung heute ist nur für die Fans und Förderer der Station.«

Jetzt trug der Junge den Falken auf dem Handschuh umher und hielt dabei die Lederbändchen an den Füßen des Vogels fest umschlossen. Er ging auf das Publikum zu, sprach mit den Kindern und lachte. Ein kleines Mädchen durfte an den Falken herantreten und sich neben ihm fotografieren lassen.

»Es ist schön, ihn fröhlich zu sehen.« Johanna hatte einen warmen Glanz in den Augen. »Er hat es nicht leicht, Robert fehlt ihm sehr. Er musste im letzten Jahr viele Aufgaben übernehmen, bis wir einen neuen Leiter für die Station gefunden hatten.«

»Hat er noch diese Migräneattacken? Weiß man mittlerweile, wie es zu dem Unfall kam?«

Sie schüttelte den Kopf. »Im Polizeibericht stand ›Unfall aus ungeklärter Ursache‹, und Lennart kann sich immer noch nicht erinnern. Es ist alles zu viel für ihn, auch die Verantwortung für den Falken. Oft denke ich, wir haben ihm keinen Gefallen getan, als wir diese enge Verbindung zuließen.«

»Wie kannst du nur so was sagen, Johanna! Das Tier ist sein Ein und Alles, es hilft ihm über den Tod seines Vaters hinweg.«

»Du hast ja recht. Ich mach mir einfach Sorgen, er ist erst dreizehn und trägt schon so viel Verantwortung.«

Das Publikum begann erneut zu klatschen, die beiden Erwachsenen auf der Treppe auch. Der Junge mit dem Falken verbeugte sich nach allen Seiten und suchte den Blick seiner Mutter. Sie warf ihm eine Kusshand zu.

»Da gibt es noch etwas, das mich beunruhigt«, sagte Sam. »Es muss nichts zu bedeuten haben, aber es ist besser, du weißt davon.«

Der Applaus verebbte. Johanna sah ihn interessiert an.

»Vorgestern hat ein Mann eines der Mädchen angesprochen, die wir in dem Artikel vorgestellt haben. Er war als Polizist verkleidet und wollte das Mädchen und ihren Vogel mitnehmen. Sie konnte davonlaufen, aber das Tier wurde schwer verletzt. Es musste sogar eingeschläfert werden.«

»Das tut mir ehrlich leid, Sam. Aber das kann auch nur ein Zufall gewesen sein.«

»Ich mach mir Sorgen.«

»Musst du nicht«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, »wir werden das alles hier bald hinter uns lassen. Nächste Woche schon, der Umzugswagen ist bestellt.«

»Ihr geht weg von hier?« Er suchte ihren Blickkontakt.

»Ja, ich kann es selbst kaum glauben. Ich habe die Stelle in Berlin angenommen, die Taurus Nolan mir angeboten hat. Energiegewinnung aus Algen. Da kann ich viel bewegen, ich konnte nicht Nein sagen.«

»Und das erzählst du mir erst jetzt? Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut. Endlich sind wir wieder Kollegen, das wird großartig! Wie früher im Studium.«

Sie lächelte. »Ja, ich freue mich auch sehr.«

»Was wird denn aus Cosmo, wenn ihr nach Berlin geht?«

»Wir können ihn mitnehmen. Ist alles organisiert, sonst wäre Lennart niemals bereit gewesen, mitzukommen.«

»Verstehe. Er war nicht begeistert.«

»Nein. Ich hoffe trotzdem, der Umzug tut ihm gut.«

»Vielleicht kann er uns mal im Institut besuchen. Ich stecke da zurzeit in einem Projekt, das ihn bestimmt interessieren wird.«

Gerade bahnte sich der Junge einen Weg durch die Menge. Seine Augen leuchteten, er kam mühelos mit dem Tier auf der Faust die Stufen hinauf. Der Falke trug jetzt eine Haube.

»Selbst wenn ihr hier weggeht«, sagte Sam mit gesenkter Stimme, »seid vorsichtig. Es gibt möglicherweise gefährliche Leute, die sich für Lennart und Cosmo interessieren.«

Johanna schüttelte unwillig den Kopf. Sie war schon ganz bei ihrem Sohn, der nun auf sie zukam. »Du warst großartig! Ihr wart beide großartig!«, begrüßte sie ihn.

»Ja, nicht wahr?« Lennart strahlte. »Cosmo ist ein Komiker. Habt ihr gesehen, wie er sich jedes Mal verneigt hat, wenn die Leute applaudierten?«

»Du könntest mit ihm im Zirkus auftreten«, sagte Sam. »Oder ihn als Model für Filmaufnahmen vermieten.«

»Nie im Leben! Er ist doch ein Wildtier!«

Lennart bedankte sich dafür, dass Sam gekommen war, aber er hatte keine Zeit. Er wollte den Falken zurück in seine Voliere bringen. Die beiden Erwachsenen sahen ihm hinterher.

»Ich muss leider los«, sagte Sam und beugte sich herab, um Johanna einen Kuss auf die Wange zu geben. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe«, flüsterte er in ihr Ohr. »Berlin ist groß und gefährlich, passt gut auf euch auf. Und wenn etwas Merkwürdiges passiert, ruf mich an.«

Sie zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. Für einen Moment meinte sie wieder das fremde Sirren hinter sich zu hören, doch als sie sich umdrehte, war da nur eine dicke Hummel.

Falcon

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