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Lennart sitzt im Bus, aber wenn er ehrlich ist, hat er mal wieder keine Ahnung, ob es der richtige ist. Berlin ist einfach nur riesig. Die Menschen strömen so selbstverständlich durch die U-Bahn-Stationen, als würden sie von einer unsichtbaren Macht gelenkt. Er ist anscheinend der Einzige, der gar keine Orientierung hat. Dabei war er früher bei den Pfadfindern derjenige, der sich am besten im Wald zurechtfand. Anfangs hat seine Mutter ihn noch zu den Hallen gefahren, doch seit sie ihre neue Arbeit angefangen hat, versucht Lennart allein seinen Weg durch die Stadt zu finden. Manchmal braucht er nur eine halbe Stunde, an anderen Tagen kommt er erst am Mittag bei Cosmo an. Immerhin sieht er auf diese Weise eine Menge von Berlin. Es ist erstaunlich, wie viele Anzeichen für Wildtiere es in der Stadt gibt. Kein Wunder, Berlin ist die Stadt mit der höchsten Greifvogeldichte Deutschlands. Vielleicht findet Cosmo hier sogar eine Partnerin.

»Scheint ja lustig zu sein, was du da in den Wolken beobachtest.«

Eine kleine Asiatin in Latzhose und weißem T-Shirt sieht ihn herausfordernd an. Sie sitzt auf der anderen Seite des Ganges, neben ihr auf dem Platz steht ein Karton. Ihre schwarzen Haare hat sie zu einem wilden Knoten hochgebunden, die Hose ist voller Farbflecken, und die Schnürsenkel der Turnschuhe hängen lose heraus.

Lennart sieht sich um, der Bus ist fast leer. »Du meinst mich?«

Sie nickt und trommelt auf ihren Karton. »Und wo steigst du aus?«

Wenn er das wüsste. Dieser Bus fährt mindestens vier Stationen an, die irgendwo in der Nähe der Halle liegen.

»Du bist ganz schön neugierig.«

Sie zuckt die Schultern und sagt nichts mehr.

An der nächsten Haltestelle steigt vorn ein Jugendlicher ein, er hält eine Bierflasche in der Hand und schaut sich mit einem aggressiven Blick um. Morgens um halb zehn. In Wahrheit ist Lennart extra in den Bus eingestiegen, weil er genau solchen Typen in der U-Bahn aus dem Weg gehen wollte.

Der Typ kommt schwankend durch den Gang auf sie zu, dabei blickt er mit jedem seiner Schritte links und rechts zwischen die Sitze. Noch etwa fünf Sitzreihen, alle sind leer. Lennart fühlt nach dem Supertool in seiner Hosentasche, aber was nützt ihm in dieser Situation ein Taschenmesser? Er schaut auf die Anzeigetafel, während er im Sitz nach unten rutscht. Wie war die Durchsage? Noch drei Stationen? Soll er vorher aussteigen?

Auf einmal sitzt die kleine Asiatin neben ihm.

»Du bist kein Opfer«, sagt sie leise. »Setz dich gerade hin und rede mit mir.« Plötzlich lacht sie so laut auf, als habe er den besten Witz der Welt erzählt. »Und dann haben diese Verrückten auch noch einen Preis dafür bekommen, stell dir das mal vor!«

Lennart hat überhaupt keine Ahnung, wovon sie redet, aber die kurzen, leisen Befehle rütteln ihn auf. Er streckt den Rücken durch und sieht angestrengt aus dem Fenster, denn jetzt zeigt sie hinaus, als hätte sie dort etwas entdeckt.

»Hast du das gesehen? Da steht einer mit einem Eselskarren am Taxistand. Och, war der süß, der Esel. Mit Puschelohren.« Sie hält ihre Hände an die eigenen Ohren, wackelt mit ihnen und kichert albern.

Natürlich war da nirgendwo ein Esel zu sehen. Selten hat Lennart einen solchen Quatsch gehört, trotzdem bemüht er sich mitzulachen. Der Typ mit der Bierflasche torkelt vorbei, den Blick nach vorn gerichtet.

»Der ist auf der Suche nach einem Opfer«, sagt das Mädchen wieder mit leiser, klarer Stimme. »Niemals auf den Boden schauen, das macht dich nur klein. Am besten tust du so, als hättest du ihn nicht gesehen und wärst grad total beschäftigt. Wer Opfersucher freundlich ignoriert, wird nicht zum Opfer.« Sie sieht ihm in die Augen. »Alles klar?«

Als er nickt, holt sie ihren Karton rüber und setzt sich wieder neben ihn. »Ich könnte Hilfe beim Tragen brauchen.«

»Hm.« Irgendwo hier muss er raus. Die nächste oder übernächste Haltestelle.

Sie sieht ihm forschend ins Gesicht. »Kein Plan? Ich dachte mir, dass du dich nicht auskennst. Du hast schon unsicher gewirkt, bevor der Typ aufgetaucht ist.«

»Ich will zu einer Lagerraumhalle.«

Sie grinst. »My Guard Storage

»Du kennst die?«

Sie grinst nur noch mehr. »Das Schicksal meint es gut mit mir. Du trägst meinen Karton, und ich zeige dir den Weg. Abgemacht?« Sie hebt die Hand zum Abklatschen, aber Lennart schlägt nicht ein. Er fühlt sich überrumpelt.

Sofort zieht sie die Stirn in Falten. »Hast du ein Problem mit mir?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Na, dann. Komm!«

Sie steigen an der richtigen Haltestelle aus, jetzt erkennt er die Umgebung auch.

»Ich heiße übrigens Mia«, erklärt sie, während sie zielstrebig losstürmt. Der Karton ist verdammt schwer, kein Wunder, dass sie einen Träger gesucht hat. Auch wenn sie toll reagiert hat, als der Betrunkene aufgetaucht ist, ein bisschen aufdringlich ist sie schon. Andererseits kennt er niemanden hier, und sie ist vermutlich in seinem Alter. Auch wenn man das schwer schätzen kann, so klein und dünn, wie sie ist.

»Soll ick mir ’n Namen für dich ausdenken?« Sie hat unverkennbar einen Berliner Akzent.

Wieder fühlt er sich überrumpelt, aber er nennt ihr seinen Namen. Bestimmt werden sie sich nie im Leben wiedersehen, was soll er groß erzählen. Sie sagt auch nichts mehr, und Minuten später kommen sie am My Guard Storage an. Mia macht keine Anstalten, ihm den Karton aus den Händen zu nehmen.

»Ich muss zu Halle drei«, sagt sie. »Und du?«

Hätte er sich denken können.

Neben der Eingangstür sitzt ein Obdachloser. Er stickt mit Goldfäden auf einem großen, schweren Stoffstück und muss vermutlich aufpassen, dass er nicht aus Versehen die verfilzten Zotteln seines Bartes festnäht. »Ich sage euch, die dunkle Zeit ist angebrochen«, verkündet er mit lauter Stimme. »Hütet euch vor den Augen, die überall lauern. Findet die Brücke in euer tiefstes Inneres, und macht euch auf die Suche nach der Freiheit. Nur dann könnt ihr den Schlüssel nutzen, den ihr bekommen habt.«

Mia rollt die Augen, gibt den Code ein und hält Lennart die Tür auf. »Den nennen alle nur Sticker«, erklärt sie drinnen. »Der redet immer so ein geschwollenes Zeug.«

Sie kennt sich also aus. Jetzt ist Lennart doch neugierig. »Was war noch mal in dem Karton, und was genau machst du hier?«

»Mein neuer Computer«, sagt sie lässig, »vielmehr ein paar Einzelteile dazu.«

Während sie durch die Hallen gehen, erzählt sie davon, welche Komponenten sie noch einbauen muss und was für ein Glück es ist, hier superschnelles Internet zu haben. Sie ist dreizehn, genau wie er, und scheint eine Menge Ahnung von Technik zu haben.

»Und du so? Was machst du hier?«

»Ich hab einen Vogel, um den ich mich kümmern muss.«

Sie sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, fragt aber nicht weiter. Als sie an ihrer Garage ankommen, stellt er den Karton ab, während sie das Garagentor öffnet. Drinnen herrscht ein wildes Durcheinander. Auf dem kleinen Schild unter dem Codeschloss steht »Chung Linh – Kiosk, Spätkauf, Import, Export«.

»Danke fürs Tragen.« Sie kann also doch freundlich sein und sogar ein bisschen lächeln.

»Gern geschehen. Man sieht sich.«

Er will weitergehen, doch sie hält ihn am Ärmel fest. »Zeigst du mir deinen Vogel?« Sie wartet seine Antwort nicht erst ab, sondern schiebt schnell den Karton in die Garage und lässt das Tor runterfahren.

Auch wenn Lennart sie wieder ein bisschen aufdringlich findet, freut er sich über ihr Interesse. Er ist sogar gespannt, was sie sagt, wenn sie Cosmo das erste Mal sieht.

Als sie auf die Außenfläche gehen, rennt Mia sofort auf die Volieren zu. »Boah, ich dachte erst, du hast einen Papagei oder so. Und dann fiel mir ein, dass der alte Smolek eine Schnee-Eule hat.« Mit aufgerissenen Augen steht sie vor der Voliere und zeigt auf Cosmo. »Das ist er? Das ist dein Vogel?« Sie ist total aufgedreht und neugierig. »Krass, ein echter Raubvogel! Was ist das für einer? Was frisst der so? Wo hast du ihn her? Darf er hier auch fliegen? Wie heißt er?« Sie legt ihre Hände an das Drahtgitter, steckt ihre Nase hindurch und kann sich gar nicht sattsehen.

Lennart gefällt ihre Begeisterung, er macht sie mit Cosmo bekannt. »Wanderfalken sind mit mehr als dreihundert Stundenkilometern die schnellsten Tiere der Welt«, erklärt er ihr. »Sie fangen ihre Beutevögel im Flug. Seit Cosmo hier auf die Jagd geht, sind die Tauben schon viel vorsichtiger geworden. Er muss jedes Mal größere Kreise ziehen, um Beute zu finden.« Er zeigt auf die Hochhäuser rundherum. »Dabei kann Cosmo die Gefahren noch nicht abschätzen, die in einer solchen Stadt lauern. Vielleicht gibt es hier verrückte Greifvogelhasser, die sich mit Armbrust oder Luftgewehr auf die Lauer legen.«

Mia sieht ihn mit großen Augen an.

»Zu Hause auf dem Land haben wir oft erlebt, dass Tiere in der Auffangstation abgegeben wurden, die absichtlich verletzt oder getötet wurden. Und das hier ist eine Millionenstadt!«

»Das ist wirklich krass.«

»Ich habe jedes Mal Angst, wenn ich ihn fliegen lasse.« Lennart wundert sich, wie offen er mit ihr darüber reden kann. »Aber es wäre auch schrecklich, wenn Cosmo immer nur eingesperrt leben müsste.«

Mia nickt verständnisvoll. »Der verrückte Sticker würde jetzt wieder einen Vortrag über Freiheit halten«, sagt sie nachdenklich. »Es muss sich unglaublich anfühlen, wenn man einfach so in den Himmel aufsteigen kann.« Mit einer schwungvollen Geste hebt sie einen Arm in die Luft und schaut hinterher, als ob sie wirklich etwas hochgeworfen hätte. Auf einmal wirkt sie ganz träumerisch. »Stell dir vor, du könntest da oben deine Runden über Berlin ziehen und die Welt von oben sehen. Ganz frei und unbeschwert. Niemand überwacht dich, niemand hat Macht über dich.«

Was sie wohl damit meint? Wird Mia überwacht? Hat jemand Macht über sie? Bisher hat Lennart einen ganz anderen Eindruck von ihr. Sie kommt ihm vor wie eine Person, die immer ihren Willen durchsetzt.

Jetzt sieht Mia ihm direkt in die Augen. »Und wenn man wollte, könnte man einfach so davonfliegen. Im Grunde können wir alle jederzeit verloren gehen. Es gibt keine Sicherheit, hier in Berlin verschwinden jeden Tag Kinder.«

Lennart denkt an seine Versuche, sich in Berlin zurechtzufinden. »Eben im Bus war ich ziemlich planlos.« Er lacht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich in den letzten Tagen fast verloren gegangen wäre.«

»Aber nur fast«, gibt sie lächelnd zurück, »und jetzt weißt du ja, wen du nach dem Weg fragen kannst. Ick bin Berlinerin.«


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