Читать книгу Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - Страница 14
ОглавлениеTerra, 14. Oktober 2016 nach Christus, Freitag
Solaras sah nervös durchs Fenster nach draußen. Überall Lichtpunkte … wo waren nur die vielen freien Flächen abgeblieben, die es vor über 2.000 Jahren hier gegeben hatte? Er versuchte sich grob zu orientieren, doch das war ohne passende Software für das Navigationssystem nahezu unmöglich. Sicher, die Landmasse, auf die sie aus luftiger Höhe zusteuerten, hatte er identifizieren können. Die Form der SinaiHalbinsel war schließlich unverkennbar. Sie befanden sich jetzt nördlich davon, irgendwo in der Nähe der Mittelmeerküste.
Aber nun, da sie sich dem Erdboden näherten, war ihm der genaue Landungsort unbekannt.
»Wo sind wir? Könnten wir nicht in der Nähe von Nazareth oder Jerusalem aufsetzen?«, fragte Kalmes, die sich offenbar der Problematik nicht bewusst zu sein schien.
»Dort unten sind mittlerweile jede Menge große Städte. Woher soll ich denn wissen, welche davon Jerusalem sein könnte? Nein … wir brauchen ohnehin ein dünner besiedeltes Gebiet abseits stark befahrener Pisten.«
»Hast du denn für den Holographen kein terrestrisches Kartenmaterial von Tiberia mitgenommen?«
»Leider nicht, und wie hätte ich das auch fertigbringen sollen? Es war schon schwierig genug, trotz Ardens Starrsinn an das Gerät zu kommen«, erwiderte Solaras kurz angebunden. Er wollte nur noch drei Dinge – endlich landen, den Gleiter tarnen und sich ausruhen. Um Kalmes zu schonen, war er die meiste Zeit über am Steuer gesessen. Das rächte sich nun. Er wähnte sich am Ende seiner Kräfte.
Das kleine, linsenförmige Raumfahrzeug näherte sich mit aktivierten Tarnschilden dem Boden. Solaras steuerte eine freie Fläche an, die neben einer Siedlung lag. Die Gegend war relativ flach, doch dann entdeckte er eine Bodenmulde, die von den landestypischen Steppenpflanzen bewachsen war.
»Das ist ideal! Wenn wir das Tarnnetz überziehen, die Ränder mit ein bisschen Erdreich ausgleichen und ein paar Pflanzen oben drauf setzen, sollte unser Vehikel vor neugierigen Blicken verborgen sein. Es sieht nicht aus, als ob dieser Bereich des Landstrichs landwirtschaftlich genutzt wird. Ich hoffe nur, dass wir auf der richtigen Seite des riesigen Grenzzauns aufsetzen. Da sieh mal – keine Ahnung, wer oder was dort eingesperrt ist!«
»Ein Grenzzaun? Hier scheint sich aber einiges verändert zu haben. Nun gut, wir waren zuletzt vor zweitausend Jahren hier. Ich habe ein wenig Angst, Solaras. Freilich, wir haben von Tiberia aus die Entwicklungen auf Terra zumindest im Groben mitbekommen, aber leider nicht, wie sich die Gesellschaft an sich verändert hat.
Ich bin nicht einmal sicher, in welchem Jahr wir gelandet sind. Befinden wir uns im zweiundzwanzigsten Jahrhundert oder schreibt man hier doch noch das einundzwanzigste wie auf dem Mars? Keine Ahnung, welche Auswirkungen der Zeittunnel auf diese Ecke des Sonnensystems zeitigt.
Wie auch immer, das heutige Terra wird uns fremd sein. Hat sich die Sprache gewandelt, wie sind die Sitten und Gebräuche und so weiter … wir können uns da kaum Fehler erlauben, müssen uns von Anfang an integrieren. Sonst fallen wir als Fremdkörper auf«, sinnierte Kalmes bedrückt.
Der Gleiter setzte sanft auf. »Ein Schritt nach dem anderen. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die Tarnung, dann ruhen wir uns aus. Im Morgengrauen kleiden wir uns in die gute alte terrestrische Tracht und wandern zu der Siedlung hinüber, die wir von oben gesehen haben. Dann entscheiden wir das Weitere«, gähnte Solaras.
Gegen 1.30 Uhr morgens fielen die beiden Tiberianer nach getaner Arbeit in einen tiefen Schlaf, zum letzten Mal in den engen Kojen des Raumgleiters. Eine Riesenportion Glück hatte sie davon abgehalten, weiter südlich zu landen.
*
m Morgengrauen machten sich Kalmes und Solaras auf den staubigen, steinigen Weg zu der Ansammlung von kleinen Häusern, die sie am Vorabend aus der Luft entdeckt hatten.
»Schau mal, die toll gepflegten Plantagen. Und außerhalb des eigentlichen Dorfes befindet sich eine Art Lager, wo sich jede Menge Leute tummeln. Ob das fliegende Händler sind?«, dachte Kalmes laut nach.
»Wir fragen einfach. Geld besitzen wir sowieso noch keines, einen implantierten Chip ebenfalls nicht, wie sie hier im zweiundzwanzigsten Jahrhundert jeder Einwohner besitzt – oder besitzen wird. Wir werden unsere Dienste anbieten müssen, um einen Schlafplatz zu erhalten. Hoffentlich funktioniert das noch auf dieselbe Weise wie früher. Ich denke, wir sollten für ein paar Tage hier bleiben, um uns grob zu orientieren. Danach können wir in nördlicher Richtung weiterziehen.«
Zehn Minuten später erreichten sie das mutmaßliche Lager. Einige Erwachsene kamen auf das altersmäßig ungleiche Paar zu gelaufen. Einer schälte sich aus der Gruppe.
»Schalom, ihr Wanderer. David ist mein Name. Ich nehme an, ihr sucht eine Auszeit aus dem Alltag im Büro, so wie die meisten anderen hier? Super, ihr habt euch ja bereits in einfache Gewänder gehüllt. Ein bisschen Verkleidung gehört eben auch zum totalen Aussteigen, nicht wahr?«
Der schwarzhaarige Hüne mit der tiefen Stimme grinste, klopfte Solaras auf eine Schulter. Dann führte er ihn und seine ältere Begleiterin ins Dorf. Er hielt die beiden für Arbeitskollegen. Es kam häufiger vor, dass ganze Gruppen hier auftauchten, die die Nase voll von miefigen Stadtbüros hatten und vorübergehend am Puls von Mutter Natur leben wollten.
»Wir müssen euch zuerst registrieren, damit ihr hinterher auch euer Taschengeld bekommt. Es ist nicht viel, aber darum geht es bei uns schließlich keinem. Wir leben, essen und arbeiten hier in Jad Mordechai zusammen. Apropos – habt ihr euch denn gar kein Zelt mitgebracht? Die Wohnhäuser dort drüben sind nämlich nur für die fest ansässigen Familien gedacht.«
Solaras war etwas verunsichert, verneinte. Immerhin, der Fremde hatte von Geld gesprochen, und das konnten sie wahrlich gut gebrauchen. Und es legte den Schluss nahe, dass man hier auf Terra doch das einundzwanzigste Jahrhundert schrieb. Diese Erkenntnis würde einiges vereinfachen. Keine Identifikationsund Bezahlchips unter der Haut, noch keine Totalüberwachung der Bevölkerung … das ließ hoffen.
»Wenn ihr wollt, könnten wir euch ein einfaches Zweimannzelt ausleihen. Unsere erwachsene Tochter hat es mittlerweile vorgezogen, mit ihrem neuen Freund in dessen Behausung zu nächtigen. Wie lange wollt ihr bleiben?«
»Ein paar Tage, mehr nicht«, antwortete Kalmes. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie das Treiben im Dorf. Jeder Einwohner schien irgendeiner Arbeit nachzugehen, man scherzte und half sich gegenseitig. Manche winkten den seltsam gekleideten Neuankömmlingen freundlich zu.
»Der Kibbuz hier wird gemeinsam bewirtschaftet. Er trägt sich ausschließlich aus seinen landwirtschaftlichen Gewinnen. Wir bauen vor allem Orangen, Avocados und Grapefruits an, betreiben außerdem Austausch mit einer weiteren landwirtschaftlichen Genossenschaft, die andere Früchte kultiviert. Die Erwachsenen der festen Einwohner leben in kleinen Häusern wie diesem da.« Er deutete auf ein winziges, einfach gehaltenes Gebäude.
»Und die Kinder?«
»Die sind Tag und Nacht im separaten Kinderhaus untergebracht. Sie leben dort und werden unterrichtet. Sofern sie nicht bei der Ernte helfen oder zum Spielen draußen sind, heißt das. Ihre Eltern sehen sie nur stundenweise, oder zumindest beim Essen im Speisesaal.«
»Eine sinnvolle Einteilung«, lobte Kalmes und warf Solaras vielsagende Blicke zu. Sie hatte längst erkannt, dass hier gewisse Parallelen zum tiberianischen System erkennbar waren, insbesondere zur Sektion Landwirtschaft und Versorgung. Vielleicht war Terras Bevölkerung ja mittlerweile doch zur Vernunft gekommen. Sie fragte sich allerdings, wozu in diesem Fall das sogenannte Taschengeld dienen sollte.
»Habt ihr Pässe dabei?«, fragte der hünenhafte Bär, als sie die Registrierstelle erreicht hatten.
Kalmes erschrak. »Äh … nein, leider … die müssen wir vergessen haben.«
David schien für einen Augenblick zu stutzen. Dann hellte sich seine Miene wieder auf, und er lachte: »Ah, ihr nehmt es mit dem Aussteigen aber ziemlich ernst, hä? Nun gut … dann muss es eben ausnahmsweise ohne Papiere gehen.«
Eine junge Frau fragte sie nach ihren Namen und wunderte sich, dass die Neuen offenbar nur die Vornamen nennen wollten. Und die waren reichlich merkwürdig, auch wenn die Tiberianer vorsichtshalber die Ortsund Zeitkennung ihrer Geburt wegließen. Es verbot sich natürlich, die alte terrestrische Identität zu verwenden. Beide ahnten, dass es eine Reihe von Fragen aufwerfen würde, falls man sich als Jesus von Nazareth und Maria Magdalena ausgäbe.
»Ihr seht mir nicht aus, als wärt ihr zu Verbrechen fähig«, sagte die junge Dorfbewohnerin abschließend. »Ich respektiere, dass ihr inkognito hier leben wollt. Aber seid gewiss – sollte sich doch herausstellen, dass ihr vor irgendwem auf der Flucht seid, müsst ihr sofort gehen. Wir würden euch auch den Behörden ausliefern, damit in unserer Gemeinschaft der Frieden und die Sicherheit gewahrt bleiben.«
»Nein, wir haben hier auf Terra … äh, der Erde … keinerlei Feinde oder Behörden, die uns verfolgen würden«, bemerkte Solaras diplomatisch. Er hasste Lügen, aber in dieser Version entsprach der Satz der reinen Wahrheit.
Das Mädchen namens Esther nickte, scheinbar gab sie sich mit dieser Auskunft zufrieden.
»Jetzt zeige ich euch noch die Ställe und das Museum. Ihr nehmt das Mittagessen mit uns ein – und dann frisch ab an die Arbeit«, lachte David und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer, kerngesunder Zähne. Kalmes registrierte es mit Erstaunen, denn vor zweitausend Jahren hatte nahezu niemand in diesem Alter ein vollständiges Gebiss besessen. Natürlich, auf Tiberia mit seiner vorbildlichen Gesundheitsversorgung, da war das normal …
»Dieser Kibbuz wurde 1943 gegründet und nach dem Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto benannt. Der hieß Mordechai Anielewiecz. Mit diesem Museum hier bleibt die Erinnerung an die grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus im Gedächtnis unseres Volkes erhalten, ebenso der außerordentliche Mut von Mordechai«, erklärte David. Er deutete auf ein hässliches graues Gebäude, das von einer blühenden Parkanlage umgeben war.
Solaras verkniff sich die Frage, was bitteschön ein Museum sei. Er fragte sich, wieso ausgerechnet dieses Gebäude so groß war und dermaßen scheußlich aussah. Kalmes wiederum bemerkte desinteressiert: »Da möchte ich lieber nicht hineingehen. Es wirkt abweisend und düster.«
»Das möchte ich meinen«, grinste David. »Und das mit voller Absicht. Was damals geschah, dürfen wir niemals vergessen. Es ist nicht zu fassen, dass es immer noch Menschen gibt, die den Holocaust an den Juden leugnen.«
Als ihr Begleiter einen kurzen Plausch mit einem vorüber kommenden Dorfbewohner hielt, raunte Kalmes Solaras zu:
»Da hast du es wieder! Wegen unserem fatalen Fehler mit diesem Adolf Hitler baut man noch Jahrzehnte danach finstere Häuser, in die man ebenso finstere Erinnerungen sperrt. Das Eingreifen unseres Volkes in die Geschichte Terras hat nachhaltige Spuren hinterlassen, nicht nur in Bezug auf Religion.«
Er nickte nur achselzuckend.
*
Nach ein paar Tagen wagte es Solaras, David nach der Sperranlage zu fragen, die sich ganz in der Nähe befand.
»Der Grenzzaun? Das fragst du doch nicht im Ernst, oder? Woher kommst du nur, dass du nicht einmal vom Gazastreifen wissen willst?«, wunderte sich der Einheimische.
»Ich komme aus der Gegend um Nazareth. Und natürlich weiß ich vom Gazastreifen. Mir war nur nicht bewusst, dass die Grenze hier so nah ist«, seufzte Solaras schwitzend. »Etwas theoretisch zu wissen ist das Eine – aber etwas ganz anderes, wenn man dann persönlich davorsteht und die Grenze mit eigenen Augen sieht.«
»Ah, na dann«, lachte David. »Manch einer von uns würde gerne verdrängen, dass es seit vielen Jahrzehnten diesen bewaffneten Konflikt um Siedlungsgebiete und ein eigenständiges Palästina gibt. Und doch ist es Fakt, mein Lieber. Jenseits des Zauns leben immerhin fast zwei Millionen Menschen. Wir blenden die unangenehme Tatsache weitgehend aus, dass dort eine islamistische Terrororganisation an der Macht ist. Sieh doch, was für ein schönes, friedliches Fleckchen Erde wir hier bewirtschaften!«
»Das stimmt. Du, sag mal … Kalmes und ich kommen uns in dieser Kleidung nun doch etwas merkwürdig vor. Das ist mehr so die Art von Mode, die Jesus einst getragen hat – nehme ich jedenfalls an. Wir haben leider nichts anderes mitgenommen. Könntest du uns mit alten, getragenen Sachen aushelfen?«
»Aber klar, ich treibe schon etwas Passendes in eurer Größe auf! Die Klamotten gibst du mir einfach zurück, wenn ihr geht. Bis dahin könnt ihr euch eigene Kleidung für die Heimreise leisten, sofern ihr euer Taschengeld aufspart.«
Auf dem Rückweg von der Orangenplantage trafen sie auf Kalmes, die am Busparkplatz vor dem MordechaiMuseum vor einer Landkarte stand. David verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er noch die Ziegen füttern müsse.
»Hast du die kunterbunten Fahrzeuge gesehen? Ich glaube, die fertigen sie aus Metall. Sie stinken, hinten kommt Rauch aus einem Rohr. Ich hätte bislang geglaubt, dass die Terraner die Magnettechnik bereits beherrschen. Wie es aussieht, habe ich mich wohl geirrt. Und schau mal hier … auf dieser Tafel kann man sehen, wo man sich befindet. Also … wir stehen da, und dort vorne läuft eine große Straße vorbei. Die führt zu zwei größeren Ortschaften, die direkt am Meer liegen. Sie heißen Aschkelon und Aschdod. Dorthin könnten wir weiterziehen, sobald wir hier genügend Kenntnisse über das heutige Terra erworben haben.«
»Aber die Fahrzeuge sind alle versperrt, man kann nicht einfach einsteigen und losfahren. Ich habe es gestern ausprobiert. Scheinbar besitzt hier jeder Mensch sein eigenes, und sie stehen der Allgemeinheit nicht zur Verfügung«, gab Solaras zu bedenken.
»Ich weiß. Doch ab und zu kommt ein größeres Fahrzeug hierher, eines mit vielen Sitzplätzen. Jeden Tag mehrmals, immer zu denselben Zeiten. Vielleicht könnten wir dort mitfahren. Wir sollten David danach fragen«, schlug Kalmes vor.
*
Ende November 2016 wussten Solaras und Kalmes über so manches Detail Bescheid. Sie hatten beschlossen, sich in einen sogenannten Omnibus zu setzen und sich von diesem über die Küstenstraße Nummer 4 über Aschkelon bis zur Großstadt Tel Aviv chauffieren zu lassen. Davids Schilderungen hatten sie entnommen, dass das bäuerliche Leben im Kibbuz Jad Mordechai nicht wirklich der eigentlichen Lebensweise des einundzwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Wer sich jedoch nahtlos in die Bevölkerung Terras integrieren wollte, der musste überall zurechtkommen.
Gerädert und voller Staunen stiegen die beiden Außerirdischen an der Zentralen Busstation LevinskyStraße aus. Kalmes war vom Anfahren und Bremsen in der total überfüllten Stadt leicht übel geworden.
»Schau dir das an! Wieso tummeln sich hier so viele Leute auf engstem Raum? Und all diese … wie heißen die Dinger noch? Autos? Es kommt ja keiner mehr vorwärts, alle Straßen sind verstopft. Sieh dir nur den Fußboden an. Fast nichts Grünes zu sehen, alles ist mit diesem hässlichen dunkelgrauen Belag zugekleistert. Überall nur Zäune, Kabel und riesige Häuser … so kann doch niemand freiwillig leben wollen! Was ist nur aus dem Jordanland von damals geworden?«
»Das frage ich mich auch! Ich ersticke hier, lass uns von diesem hässlichen Ort fortgehen. Es stinkt penetrant nach Abgasen. Wir suchen uns irgendwo eine Verkaufsstelle für Essen und gehen gen Westen, denn dort ist das Meer. Ich möchte frei durchatmen können«, entgegnete Solaras.
Sie steuerten den kleinen LevinskyPark an, durchquerten ihn und wanderten an der Derech Jaffa entlang Richtung Mittelmeer. An der EilatStraße fanden sie einen kleinen Supermarkt, in dem sie sich Brot und Wasser kauften.
»Das bisschen Geld wird nicht mehr lange reichen, höchstens noch für morgen«, sagte Kalmes betrübt. »Ich frage mich auch, wo wir wohnen sollen. Es gibt keine Hütten und keine Zelte hier. Wie es aussieht, stapeln sich die Menschen in diesen hohen Gebäuden übereinander. Aber woher sollen wir wissen, wo wir für die Nacht bleiben können?«
»Wir fragen einfach jemanden. Aber jetzt gehen wir erst einmal zum Wasser und essen etwas, danach wird dieses Terra sicher wieder in einem freundlicheren Licht erscheinen. Wir müssen da lang, dort vorne hört die Bebauung auf.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Kalmes, als sie auf der Strandpromenade angelangt waren. »Nur noch ein ganz schmaler Streifen Sand – und den Rest haben sie auch schon zugebaut. Wieso liegen hier nahezu nackte Menschen im Sand? Sind die vielleicht krank?«
Solaras seufzte. »Ich weiß es doch auch nicht. Das werden wir bald alles herausfinden. Komm, wir setzen uns hier auf diese Vorrichtung. Nach der Vesper überlegen wir in Ruhe, wie es weitergehen soll. Hätte ich geahnt, was uns hier erwartet, hätte ich mich viel ausführlicher mit David unterhalten.«
Kalmes setzte sich auf die Bank, rieb sich eine Stelle unterhalb des linken Knies. »Seit ich auf Tiberia kurz vor unserer Flucht hingefallen bin, ist hier etwas nicht in Ordnung«, stöhnte sie.
»Die Wunde hat sich zwar längst geschlossen, aber wenn ich eine Weile stehe oder laufe, schwillt der Unterschenkel an. Ich werde mir doch nichts gebrochen haben?«
»Wir müssen sehen, dass wir einen Heilkundigen finden. Das erledigen wir gleich morgen«, versprach Solaras mitleidig und zog seine Gefährtin auf die Füße. Seine hellen Augen suchten die Gegend nach nett dreinblickenden Leuten ab, die man nach einer Bleibe für die Nacht fragen konnte. Doch jeder, der an ihnen vorbei kam, schien es furchtbar eilig zu haben.
Sie folgten der Strandlinie lustlos in Richtung Süden, bis sie eine kleine Hafenanlage erreichten. Keiner von beiden verspürte das Bedürfnis, sich in die engen Häuserschluchten der Innenstadt zu begeben.
»Schau mal, da vorne ist ein Gebetshaus oder eine Synagoge! Dort müssten eigentlich Menschen anzutreffen sein, die meiner Lehre von damals folgen, also hilfsbereite Individuen. Komm, lass uns dort hineingehen!« Mit Kalmes an der Hand strebte Solaras der mit roten Backsteinen verzierten Kirche zu, deren schlanker Glockenturm weithin sichtbar war.
Sie betraten erwartungsvoll die Klosterkirche des Erzengels Michael im Stadtteil AltJaffa. Nur vereinzelt saßen im Gebet versunkene Gläubige mit gesenkten Köpfen in den Holzbänken. Die Tiberianer taten es ihnen gleich, genossen die angenehme Kühle des mit beigem und zartrosa Marmor ausgestalteten Innenraums des Kirchenschiffs. Die gewölbte Decke war mit hellblauen, gelben und rosa Pastellfarben bemalt. Darunter schwebte ein indirekt von hinten beleuchtetes, riesiges Sonnensymbol, das wohl den Heiligen Geist darstellen sollte.
Kalmes bestaunte angetan zwei mannshohe Engelfiguren, die links und rechts des mit weißen Spitzendecken belegten Altars thronten. In der Mitte stand ein verhältnismäßig kleines Holzkruzifix mit goldfarbener Jesusfigur.
»Immerhin, dein Andenken wird noch in Ehren gehalten«, flüsterte Kalmes hinter vorgehaltener Hand. »Ich verstehe nur nicht, wieso sie sich ausgerechnet den negativsten Teil deines damaligen Lebens als Symbol auserkoren haben.«
»Ich ebenso wenig. Aber, so nebenbei bemerkt: Ich habe das Versprechen gehalten, das ich einst meinen Jüngern gegeben hatte. Ich bin tatsächlich nach Terra zurückgekehrt, wie ich es prophezeite. Nur hatte ich damals selbst nicht damit gerechnet. Die Ankündigung sollte lediglich dazu dienen, die Jungs bei der Stange zu halten, damit sie meine Lehre verbreiten«, erläuterte er flüsternd.
Als sich eine ältere Dame zur Linken ächzend zum Gehen erhob, sprach Solaras sie kurz entschlossen an.
»Verzeihung, meine Dame, könnten Sie mir sagen, wo man hier in der Stadt als Fremder eine Herberge für die Übernachtung findet?«
Die grauhaarige, etwas korpulente Frau sah ihn aus wässrigen Augen an. Ihr Blick fand den seinen, doch gleich anschließend schlug sie die Augen nieder. Solaras kannte dieses Phänomen – die wenigsten Menschen waren fähig, seinem intensiven Blick standzuhalten.
»Es gibt doch genügend Hotels in dieser Stadt«, wunderte sie sich. »Sehen Sie einfach im Internet nach.«
Solaras fühlte sich überfordert. Das Wort Internet sagte ihm
überhaupt nichts. »Hotels … kosten die Zimmer dort Geld?«
»Aber selbstverständlich, und nicht zu knapp«, lachte die Frau. »Ach so, Sie meinten wohl eher eine Unterkunft für Obdachlose!« Sie taxierte das Paar von oben bis unten. Tatsächlich, es war ärmlich gekleidet. Verschlissene Jeans, ausgewaschene TShirts, schmutziges Schuhwerk …
»Normalerweise lagern sie bei der ArlozorovStation. Dort bauen sich einige der länger Verweilenden kleine Hütten oder Zelte, was von der Stadtverwaltung langmütig geduldet wird. Aber ich muss Ihnen dringend abraten, sich dorthin zu begeben. Viele Drogensüchtige hängen da herum, und diese Typen schrecken vor gar nichts zurück. Andere schlafen in Parks oder am Strand. Ich wüsste nicht, dass die Stadt eigens Unterkünfte für Obdachlose anbietet. Eine Schande ist das!«
»Und was ist mit diesen Wohntürmen? Wie kommt man da hinein?«, wollte Kalmes wissen.
»Sie meinen, in Mietwohnungen?«, fragte die Dame skeptisch. Wie konnte es sein, dass jemand angeblich keine Ahnung davon hatte, wie man eine Wohnung mietete … nein, mit den beiden hier konnte etwas nicht stimmen. Vielleicht wollten sie nur beliebige Opfer in ein Gespräch verwickeln, um sie danach auszurauben oder ähnliches.
»Tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr, muss gehen«, stieß sie hervor und entschwand eiligen Schrittes.
Völlig entgeistert blieben der Religionsstifter und seine Begleiterin in der Kirche zurück. »Habe ich etwas Falsches gefragt?«, murmelte Kalmes kopfschüttelnd.
»Wenn ich das nur wüsste! Und was machen wir nun? Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wo man diese ArlozorovStation findet, klang die Beschreibung nicht gerade vertrauenerweckend. Ich schlage also vor, dass wir heute am Strand nächtigen. Wir müssen unbedingt noch eine Reihe von Erkundigungen einholen, wie es aussieht. Aber die Sonne steht schon tief über dem Horizont, für heute scheint es bereits zu spät zu sein.«
Entmutigt trotteten die frischgebackenen Penner, vorbei an bröckelndem Beton, weißen Segelbooten, einzelnen getrimmten Palmen, grünen Leihfahrrädern und dicken Kabelsträngen, die an Hausfassaden entlang liefen, wieder in Richtung Kaimauer. Immerhin, die Strandpromenade konnte sich einigermaßen sehen lassen. Sie wählten ein windgeschütztes Plätzchen vor einer vier Meter hohen BruchsteinStützmauer, wo Kalmes erschöpft ihren Kopf in Solaras‘ Schoß legte. Tief hängende, grauweiße Wolken dräuten über dem Wasser. Wie sollten sie in dieser wahnsinnig gewordenen Welt überleben?