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Terra, 01. Dezember 2016 nach Christus, Donnerstag

Im Gegensatz zu Kalmes fand Solaras nicht genügend Ruhe, um wegdämmern zu können. Wie spät mochte es sein? Längst war die Sonne untergegangen, und die Lichter der Strandpromenade spiegelten sich im Wasser. Von der Innenstadt schimmerte farbiges Licht durch Lücken in der Häuserzeile, das sich auf den Wellen spiegelte. Doch anstatt sich allmählich zu leeren, schien der Strand immer voller zu werden. Flanierende Paare, ausgelassene Jugendliche und Leute, die ihre Hunde ausführten, gaben sich ein Stelldichein. Wieso hielten die sich nachts nicht in der Geborgenheit ihrer Häuser auf?

Waren die etwa alle obdachlos, so wie sie?

Wenige Meter entfernt ließ sich ein Junge nieder. Er mochte etwa sechzehn bis achtzehn Jahre alt sein. In seinen Händen hielt er eine viereckige Glasflasche, die er immer wieder an die Lippen setzte. Ab und zu schielte er neugierig herüber. Nach einer Viertelstunde fasste Solaras sich ein Herz, legte behutsam Kalmes‘ schlafenden Körper im Sand ab und schlenderte zu ihm hinüber. Junge Leute wissen in allen Zeitaltern am besten Bescheid, was in einer Stadt so abläuft.

»Guten Abend. Wie geht es dir, ist alles in Ordnung?«

»Spar dir die Ansage. Kommst du von meinen Alten, oder was? Nichts ist in Ordnung! Meine Freundin hat mich wegen eines Anderen verlassen, okay?«, blaffte er unfreundlich und wendete seinen starren Blick wieder in Richtung Wasser.

»Das tut mir sehr leid für dich. Hättest du einen Moment Zeit für mich? Ich würde dir gerne einige Fragen stellen.«

Der Junge verdrehte die Augen. »Also bist du ein Bulle oder einer der Typen vom Ordnungsamt, ja? Ich weiß selber, dass Feiern am Strand verboten ist. Hatten wir alles schon. Ich will einfach nur in Ruhe hier sitzen, etwas Beruhigendes trinken und meinen düsteren Gedanken nachhängen, werde also weder ein Lagerfeuer anzünden noch den Strand zumüllen. Die Pulle nehme ich nachher wieder mit. War es das?«

Solaras dachte kurz nach. »Nein, ich bin kein … Bulle … oder was auch immer du damit meinst. Einfach nur ein verunsicherter Mann, der sich in deiner Stadt nicht auskennt. Könntest du mir also behilflich sein?«

Der Jugendliche mit der Strubbelfrisur grinste breit. »Ah, sag das doch gleich, du willst Drogen kaufen! Ich hab aber nichts dabei, also vergiss es.«

»Drogen? Was hat hier nur jeder immerzu mit Drogen? Ich sagte doch, ich brauche nur Auskünfte. Sonst nichts«, rief Solaras entrüstet. Er hätte etwas drum gegeben, hätte er einschätzen können, was mit diesen Drogen gemeint war. Ein paar Meter weiter räkelte sich Kalmes stöhnend im Sand, drehte sich um und schlief weiter. Die Glückliche.

Für ein paar Minuten herrschte Funkstille. Man hörte nur noch das Rauschen der Wellen. Aus der Ferne trug der Wind Lachen und Straßengeräusche herüber. Der Gepäckträger eines passierenden Fahrrades klapperte.

»Na gut! Also, was willst du wissen? Die angesagten Clubs habe ich alle durchprobiert«, brüstete sich der Junge.

»Nein danke, was immer so ein Club bietet! Es ist einfach so, dass ich lange Zeit außerhalb dieser Zivilisation verbracht habe. Ich kenne mich im Stadtleben nicht mehr aus. Also müsstest du mir bitte ein paar grundlegende Dinge erklären. Wie ich an eine Wohnung und an Arbeit komme, wie der normale Alltag hier abläuft, wie man sich richtig kleidet und so weiter. Meine Freundin da drüben und ich sind sonst vollkommen aufgeschmissen.«

»Die ist deine Freundin? Ich hätte sie eher für deine Mutter gehalten. Sie hat doch bestimmt zwanzig Jährchen mehr auf dem Buckel als du. Na, soll jeder halten wie er denkt. Ich bin übrigens Aaron«, grinste er.

»Freut mich. Solaras, ich stamme aus Nazareth. Und meine Begleiterin heißt Kalmes.«

»Und wo habt ihr bis jetzt gelebt, wenn ihr noch nicht einmal eine Wohnung habt? Auf dem Mond?«, scherzte Aaron.

»Fast richtig. Aber dazu möchte ich lieber keine genaueren Angaben liefern, es tut ohnehin nichts zur Sache. Also, hilfst du uns nun oder nicht?«

»Verstehe … ihr habt euch anscheinend in einer abgelegenen Gegend versteckt gehalten. Na schön, ich stelle keine neugierigen Fragen. Darüber will ich ohnehin lieber keine Details wissen. Aber wenn es so ist, bin ich der falsche Ansprechpartner. Ich habe allerdings einen Kumpel, der eine Zeit lang auf der Straße gelebt und in seinem jungen Leben auch sonst so einiges durchgemacht hat. Habt ihr überhaupt gültige Papiere?«

»Wir besitzen nur das, was wir auf den Körpern tragen.«

›Und ein paar tiberianische Gewänder sowie einen Holographen, der noch im geklauten Raumgleiter liegt‹, dachte Solaras insgeheim.

»Himmel … ja, dann braucht ihr unbedingt Levis Hilfe. Ich kann ihn bitten, morgen Abend mit hierher zu kommen, wenn ihr wollt. Ihr dürft euch nur nicht gleich erschrecken. Er sieht ein wenig … unkonventionell aus.«

»Kein Problem«, beeilte sich Solaras zu beteuern.

*

Am folgenden Nachmittag saßen Solaras und Kalmes schon gegen 15 Uhr am Strand, um Levi nur ja nicht zu verpassen. Was hätten sie auch sonst unternehmen sollen? Die Häuserschluchten erzeugten bei ihnen immer noch Furcht, das Geld war aufgebraucht und die eingekauften Lebensmittel vollständig verzehrt.

»Was machen wir, wenn dieser Levi nicht auftaucht?«, jammerte Kalmes voller Sorge. Ihrem verletzten Bein ging es mittlerweile noch schlechter. Sie rieb sich mit verzerrtem Gesicht die deutlich sichtbare Schwellung am Unterschenkel.

»Hab Vertrauen«, flüsterte Solaras zärtlich.

Sie schmiegte sich rücklings in seine Arme, lauschte den Geräuschen der quirligen Stadt und sah ein paar Kindern beim Ballspiel zu. Zäh zogen sich die Stunden hin, bis endlich die Sonne hinter den Hochhäusern versank.

Kurz darauf kamen sie. Aaron trug einen Beutel mit sich, während Levi etwas auf seinem Kopf zu balancieren schien. Erst beim Näherkommen gewahrte Solaras, dass es sich bei dem Kopfputz lediglich um eine seltsam geformte, kunterbunte Kappe und eine reichlich verfilzte Haartracht handelte. Nach einer kurzen Begrüßung mit Vorstellungsrunde sagte er mitleidig: »Du hättest dein Haar besser täglich durchkämmen und regelmäßig waschen sollen. Sieh, ich trage meines auch lang, es ist aber glatt und sieht nicht so stumpf aus.«

»Levi blickte seinen Kumpel fragend an, schüttelte den Kopf und grinste dann breit. »Jetzt behaupte bloß, du hast noch nie im Leben Rastalocken gesehen? Mann, du musst echt in einem Erdloch gehaust haben!«

»Hunger?«, fragte Aaron und langte in seine Jutetasche. »Ich habe zu Hause den Kühlschrank geplündert und ein Abendessen mitgebracht. Keine Ahnung, ob ihr Wert darauf legt, aber die Wurst ist koscher. Meine Mutter achtet beim Einkaufen peinlich genau darauf.«

Koscher oder nicht, Solaras und Kalmes stürzten sich mit Begeisterung darauf und verputzten die leckeren Sandwichs in Windeseile. Levi drehte sich derweil eine krumme Zigarette, die für die beiden Tiberianer penetrant nach einer unbekannten Kräutermischung roch. Genüsslich zog er sie unter seiner Nase durch, sah sich prüfend links und rechts über die Schulter und zückte ein Feuerzeug.

»Also, wollen mal sehen, ob ich euch weiterhelfen kann. Es wird schwierig werden. Ihr braucht eine Unterkunft, doch die kriegt ihr nicht ohne Geld. Und Geld wiederum gibt es nicht ohne Arbeit. Welche ihr auch nicht in Aussicht habt. Richtig?«

Die Außerirdischen nickten einhellig.

»So wie euch geht es in den Städten vielen Leuten. Bis vor kurzem habe auch ich auf der Straße gelebt, weil ich … sagen wir mal, einen Knick in meiner Biografie gehabt hatte. Momentan schufte ich auf dem Bau, bewohne ein kleines Zimmer zur Untermiete. Was kannst du denn, hast du einen Beruf gelernt, bevor du auf Tauchstation gegangen bist?«

»Natürlich. Ich bin Zimmermann … und Raketenwissenschaftler. Kalmes hat als Dozentin gearbeitet.«

»Zimmermann und Raketenwissenschaftler? Ha! Alter – du musst ja ein bewegtes Leben gehabt haben!«

»Wieso nennst du mich alt?«, wunderte sich Solaras.

»Ach, nur eine Redewendung. Vergiss es einfach. Hast du Papiere? Also Referenzen von früheren Arbeitgebern, Zeugnisse, Diplome oder sowas? Wir könnten zunächst auf Internetplattformen nach passenden Jobs suchen.«

»Nein. Keine Papiere.«

Levi kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Scheiße, dann wird es echt schwierig. Somit braucht ihr als erstes Ausweise. Ihr müsst eure Identität nachweisen können. Wollt ihr Freaks eigentlich hierbleiben oder in absehbarer Zeit weiterziehen?«

»Das kommt ganz darauf an. Falls man irgendwo leichter und angenehmer leben kann, sind wir offen für alles.«

»Dann solltet ihr als Flüchtlinge nach Deutschland gehen. Das liegt nordwestlich von hier, falls du das nicht weißt. Ich habe gehört, dass man dort selbst fürs Nichtstun Geld und ärztliche Versorgung bekommt, dazu einen Sprachkurs. Du musst dich nur übers Nachbarland Jordanien bis nach Syrien durchschlagen, dich dort an der türkischen Grenze registrieren lassen – und ab geht’s ins Paradies«, meinte Levi mit einer ausladenden Handbewegung. Er drückte seinen Zigarettenstummel vor sich in den Sand.

»Als Flüchtling? Aber wovor würden wir denn flüchten?«, fragte Solaras erstaunt.

Levi drehte sich zu Aaron um. »Da hast du ja einen schönen Vogel angeschleppt. Es kann auf dieser Welt doch keinen Menschen geben, der noch nichts vom IS gehört hat, verflixt noch mal!« Er wandte sich stirnrunzelnd an Aaron. »Ich sage dir, wenn der von irgendwem gesucht wird und wir werden deswegen als Unterstützer mit ihm in Verbindung gebracht …!«

»IS? Ist das ein Kürzel, und wenn ja, wofür steht es?«, unterbrach Kalmes seinen Redeschwall.

Levi seufzte. »Ihr seid sowas von ahnungslos, ihr Nasen. Das ist die Terrormiliz Islamischer Staat, die weite Teile Syriens, des Irak und der Kurdengebiete kontrolliert. Eine wüste Horde von Idioten, die den Islam als Deckmantel für ihre Machtgelüste benutzen und im Namen Allahs wahllos sogenannte Ungläubige töten. Sie leben ihre Gewaltfantasien aus und verdrehen besonders jungen Leuten die Gehirne, versteht ihr?«

Solaras und Kalmes zuckten synchron mit den Achseln, blickten entsetzt drein.

»Ihr müsst vor der türkischen Grenze eure Pässe wegwerfen

– nämlich diejenigen, welche ich euch noch besorgen muss – und behaupten, ihr wärt Syrer und wollt nach Deutschland, und zwar ausschließlich dorthin. Dann wird es klappen.«

»Und wie ist dieses Deutschland so?«, wollte Kalmes wissen.

»Och, das soll ganz nett sein. Kühler als hier, im Winter fällt Schnee und die Einheimischen lieben Sauberkeit und Ordnung über alles. Es leben viele Ausländer dort. Allerdings mögen sie Juden nicht so gerne. Ist aber nicht tragisch, denn ihr werdet ja als traumatisierte Syrer einreisen«, grinste Levi hintergründig.

»Wisst ihr was? Ich bringe morgen mal meinen Rechner mit. Dann können wir ein paar Fotos von Deutschland angucken und das Jobportal nach schlecht bezahlten Hilfsarbeiten durchforsten. Vergiss gleich den Raketenwissenschaftler, aber vielleicht kannst du dich auf dem Bau verdingen. Zimmermann … da sollte was gehen. Für deine Alte sieht es schlechter aus. Eine Lehrerin ohne Papiere stellt garantiert niemand ein.

Außerdem nehme ich mit einem Bekannten Kontakt auf, der seinerseits jemand Bestimmten kennt – wegen den Ausweisen. Was hältst du vom Familiennamen Goldberg? Eure Vornamen sollten wir übrigens auch ändern, die sind zu auffällig.«

»Dann würde ich gerne Maria heißen«, verkündete Kalmes.

»Gerafft. Und du?«

»Jes … äh … Joshua.«

»Geht klar. Aber es gibt nichts ohne Gegenleistung. Sobald du in Lohn und Arbeit stehst, will ich Kohle sehen. Der Preis richtet sich nach dem Aufwand, den ich mit euch haben werde. Ihr haut mir nicht nach Syrien ab, bis die Schulden vollständig bezahlt sind. Habe ich dein Wort?«

»Einverstanden«, nickte Solaras und drückte Levis Hand.

»Nur eine Frage hätte ich noch. Wo finde ich einen mildtätigen Heilkundigen, der ohne Bezahlung arbeitet oder mir die Kosten einer Behandlung zumindest stundet?« Er deutete vielsagend auf Kalmes‘ Bein.

»Vergiss es! Ihr habt vorläufig keine Krankenversicherung und keine Kreditkarte, da ist nichts drin mit Arzt oder Krankenhaus. Umsonst ist nur der Tod. Ich besorge eine Salbe, vielleicht hilft ihr die ein bisschen. Bis morgen dann, wir bringen wieder Essen mit. Das setze ich selbstverständlich alles auf die Rechnung. Falsche Bescheidenheit ist weniger mein Ding.«

Die Freunde rappelten sich auf, trollten sich palavernd.

In dieser Nacht schüttete es wie aus Eimern. Frierend klammerte sich Kalmes an ihren Gefährten, ihre Zähne klapperten. Sie standen unter dem zugigen Dach einer Bushaltestelle.

»Die Menschen haben kein Herz mehr. Meine Mutter hat damals wenigstens Unterschlupf in einem Stall gefunden, als ich vor zweitausend Jahren auf Terra wiedergeboren wurde. Und heute? Alles abgesperrt und verrammelt. Soweit jemand um diese Zeit auf der Straße ist, sucht er bloß nach einem flüchtigen Vergnügen und interessiert sich nicht für die Not seiner Mitmenschen«, klagte Solaras.

*

Levi hatte es tags darauf satt, mit den beiden mutmaßlichen Outlaws am regenfeuchten Strand zu hocken. Ein kühler Wind blies vom Meer her, ließ alle vier frösteln.

So schlug er vor, sich in eine nahe Imbissbude zu setzen.

»Ich habe in den letzten Tagen ein paar nicht ganz legale, aber gute Geschäfte gemacht. Eure Burger gehen ausnahmsweise auf mich«, meinte der MöchtegernRastafari augenzwinkernd.

»Burger … auf dich … was bedeutet das bitte?«, fragte Solaras verunsichert.

»Was zum Beißen, Mensch! Kostenloses Essen. Eines sag ich dir. Sobald wir bestellt haben, bist du mir ein paar Erklärungen schuldig. Wenn wir das Ding mit den Ausweisen zusammen durchziehen wollen, müssen wir uns gegenseitig vertrauen können. Ihr wisst dann einiges über mich und meine Kontaktleute, dafür sagt ihr mir klipp und klar, wer ihr seid und woher ihr kommt. Nazareth … klar, der Dialekt würde passen. Aber euer Gehabe nicht. Also, abgemacht?«

Solaras zögerte, sah zu Kalmes hinüber. Die wirkte blass, ihre Gesichtszüge verhärmt. Aus ihren Augen sprach Angst.

»Na schön«, wisperte sie. »Wir haben ja keine andere Wahl.«

Der langhaarige Tiberianer straffte seinen Rücken, atmete tief durch. »Na gut. Vertrauen gegen Vertrauen, ein fairer Handel. Hoffentlich verkraftet ihr die Wahrheit.«

»Alter … hast du eine Ahnung, wen du hier vor dir hast«, lachte Aaron und zog eine Riesentube Heparinsalbe aus seiner Jackentasche. Er reichte sie Kalmes über den Tisch. »Morgens und abends einreiben, das Bein so ruhig wie möglich halten, wenn möglich viel hochlegen. Habe ich aus der Hausapotheke meiner Mutter geklaut.«

»Du hast sie für mich gestohlen? Aber das …!«

Solaras fiel ihr ins Wort. »Sei froh, dass er dir hilft, Kalmes. Außerdem darf ich dich daran erinnern, dass auch wir im Begriff stehen, illegale Dinge zu tun – und denke an diejenigen, welche wir bereits getan haben. Den … das Gerät unter dem Sand bei Jad Mordechai eingeschlossen.«

Kalmes blieb still, nickte nur beschämt. Die bestellten Hamburger und eine Runde Cola light wurden geliefert. Herzhaft bissen die ausgehungerten Flüchtlinge in erstere hinein.

Levi spitzte die Ohren. »Oh, nun wird es interessant! Also woher kommt ihr und wer seid ihr?«

Solaras deutete mit tragikomischem Blick gen Himmel. »Wir kommen von einem fernen, bewohnten Planeten namens Tiberia, und der ist ungefähr zweitausenddreihundert Lichtjahre von hier entfernt. Unsere Leute führen gerade auf dem Mars eine Mission durch. Wir konnten uns mit einem Raumgleiter hierher absetzen. Die Flucht wurde notwendig, weil wir in unserer Heimat nicht zusammen leben durften und sich dort derzeit alles zum Schlechteren hin verändert. Vor langer Zeit haben wir beide Terra, oder die Erde, wie ihr sie nennt, schon einmal besucht. Deswegen beherrschen wir eure Sprache. Das ist die Kurzform einer langen, bewegten Geschichte«, schloss Solaras seinen kleinen Vortrag.

Aaron und Levi saßen mit offen stehenden Mündern am Tisch. Sie hatten glatt das Weiteressen versäumt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Aaron schallend loslachte und Levi stinksauer dreinblickte.

»Verarschen kann ich mich alleine! Du willst aus der Sache also ein großes Geheimnis machen, ja? Na schön, ganz wie du willst. Dann wird meine Hilfe aber teurer. Für Freunde hätte ich einen Superpreis gemacht«, stieß er mit einem harten Unterton in der Stimme hervor. Sein Blick flackerte unstet.

»Aber ich kann es dir beweisen! Unser Raumgleiter ist südlich von hier versteckt. Ich müsste vor unserer späteren Weiterreise sowieso nochmals dorthin, um einen wichtigen Gegenstand zu holen. Und ja, der stammt von meinem Heimatplaneten. Es handelt sich um ein Gerät, mit dem man holographische Bilder erzeugen kann. Wir sollten dieselbe Buslinie nach Jad Mordechai nehmen, mit der wir vor ein paar Tagen hierhergekommen sind. Im Schutze der Nacht können wir uns gemeinsam zum Raumgleiter aufmachen.«

Levi saß immer noch mit verschränkten Armen da, glaubte kein Wort. Aarons Augen jedoch weiteten sich, hingen aufmerksam an Solaras‘ Lippen.

»He, lass uns einfach mit denen hinfahren. Was haben wir schon zu verlieren? Falls der Typ die Wahrheit sagt, wäre das die Sensation. Ach komm schon …!«

Levi knabberte lustlos an seinem kalten Hamburger und grübelte. Er hatte sich darauf eingestellt gehabt, eine grausige Geschichte über Drogenschmuggel, Mord und Totschlag zu hören. Vielleicht, dass sich die seltsamen Fremden wegen einer schweren Straftat lange in den Bergen versteckt gehalten hätten. Aber so etwas Krankes, Abgedrehtes?

»In Ordnung. Gleich am kommenden Wochenende. Aber wehe dir, wenn du irgendwas Blödes im Schilde führen solltest. Ich trage immer ein Messer und nur wenig Geld bei mir, das solltest du bedenken. Die Busfahrten gehen übrigens komplett auf deine Rechnung«, knurrte er skeptisch.

An diesem Abend lotste Levi Solaras und Kalmes noch zu einem Fotoautomaten, um Passbilder anzufertigen. Dann saßen die beiden wieder frierend an ihrem Strandabschnitt, zum Schutz vor Nässe auf je einem Plastikbeutel. Zum Glück besaßen sie inzwischen wenigstens eine löchrige mausgraue Wolldecke, die Kalmes am Nachmittag aus dem Müllcontainer einer Wohnanlage gezogen hatte. Sie stank bestialisch, aber sie wärmte.

*

Der Linienbus aus Tel Aviv bog am frühen Nachmittag auf den Busparkplatz vor dem Restaurant Nefilim ein.

Es lag dem Kibbuz gegenüber, auf der anderen Seite der Straße mit der Nummer 4. Solaras und Kalmes zogen die Köpfe ein, gingen hinter den Rücklehnen der Vordersitze tief in Deckung. Sie wollten keinesfalls riskieren, von einem der Dorfbewohner erkannt zu werden. Ihre Rückkehr mit den beiden Jungs im Schlepptau hätte Fragen aufgeworfen, auf die ihnen eine plausible Antwort fehlte.

Von hier aus waren es noch rund drei Kilometer Fußmarsch in östlicher Richtung, bis man zu der Bodensenke auf der kleinen Brachfläche gelangte, in der sie den Raumgleiter vor neugierigen Blicken verborgen hatten.

»Wir müssen warten, bis es dunkel wird. Nach Jad Mordechai können wir nicht, dort kennt man uns. Wie wäre es, wenn wir hier im Restaurant warten würden?«, fragte Solaras in die Runde. Levi trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Er verspürte keine Lust, schon wieder die Zeche für alle zu bezahlen, doch wie hätten sie sonst die Zeit totschlagen sollen? Murrend willigte er ein.

Einer nach dem anderen betraten sie den Gastraum, der ein wenig düster wirkte. Das lag einerseits an der Tatsache, dass wegen der geschlossenen Bauweise nur sehr wenig Tageslicht hereinströmte, andererseits war der Raum mit dunklen, kunstlederbezogenen Stühlen und passenden Tischen ausgestattet. Die in mattem Maisgelb getünchten Wände zierte eine Unmenge an gerahmten Fotografien. Ein Fernseher, befestigt mittels Wandhalterung, plärrte die neuesten Nachrichten. Unter den dunkelbraunen Balken hing ein blutrot lackierter Luftabzug von der Decke, der das Ambiente zusätzlich verunstaltete.

Um diese Uhrzeit saßen nur wenige Gäste im Lokal. Ein verliebtes Touristenpärchen und drei Einheimische, die sich an der Bar Zeitungen vor die Gesichter hielten. Die Neuankömmlinge wählten einen schummrigen Ecktisch.

»Dein Ausweis ist in Arbeit. Du wirst ihn aber selbst abholen müssen, weil ich damit nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Ich gebe dir was Bestimmtes für den Fälscher mit, das du ihm zur Entlohnung überlässt. Den Gegenwert musst du mir, wie vereinbart, später erstatten.«

»Geht es denn hier auf Terra immer nur ums Geld?«, fragte Solaras angewidert.

Die beiden Jungs nickten bestätigend. Dann fragten sie ihm über seine angebliche Heimat auf Tiberia die sprichwörtlichen Löcher in den Bauch. Solaras beantwortete bereitwillig sämtliche Fragen, sparte jedoch vorsorglich die Information über sein früheres Wirken als Jesus von Nazareth aus. Das wäre eindeutig zu viel des Guten gewesen.

»Alter … der Stoff ergäbe ein rasantes SciFiMovie! Steven Spielberg würde sich die Finger danach lecken«, stöhnte Aaron fasziniert.

»Ein was? Und wer ist dieser Spielberg?«, hakte Solaras nach.

»Tja, entweder kommst du tatsächlich aus der Zukunft und aus dem Weltall, oder du lügst uns mit einer Wahnsinnsfantasie die Hucke voll. Bin schon echt auf nachher gespannt. Du wirst uns doch hoffentlich nicht enttäuschen?«

»Keineswegs.«

Sie aßen schweigend von einer traditionellen Spezialitätenplatte, die sie sich teilten. Anschließend erzählten Aaron und Levi ein paar Schwänke aus ihrem jungen Leben, ließen aber ebenfalls das Eine oder Andere aus der Biografie weg. Aaron zählte achtzehn, Levi fast dreiundzwanzig Jahre.

Die sinkende Sonne im Rücken, machten sie sich am späten Nachmittag bei angenehmen 18 Grad Lufttemperatur auf den Weg zum Ziel ihres Ausflugs. Mehrmals mussten Kalmes und Solaras zum Ärger ihrer Begleiter unterwegs stehen bleibenund nach einprägsamen Landmarken suchen, um den Gleiter wiederzufinden. In der Dämmerung gestaltete sich das schwierig.

»Hier, das ist die Stelle«, vermeldete Kalmes schließlich und bat die jungen Männer, nach möglichen Passanten Ausschau zu halten. Dann machten sie und Solaras sich geschäftig daran, eine Ecke des Gleiterparkplatzes von Pflanzen, Erdreich und Tarnnetz zu befreien. Schließlich öffnete sich zischend die Einstiegsluke des Fluggeräts.

»Kommt her, ihr könnt einen kurzen Blick ins Innere werfen. Hinterher schnappe ich mir den Holographen und wir müssen alles wieder sorgfältig vor neugierigen Blicken verbergen. Wer möchte zuerst?«, rief Solaras in die relative Dunkelheit. Das schwache Licht der Sterne verlieh dem unwirklich erscheinenden Szenario etwas Feierliches.

Zwei Stunden später saß die Gruppe keuchend im letzten Bus dieses Tages nach Tel Aviv, den sie gerade noch erwischt hatten. Niemand sprach, jeder hing seinen persönlichen Gedanken nach. Die beiden Jungs knabberten hart an der Tatsache, mit zwei leibhaftigen Außerirdischen in einem Omnibus zu sitzen.

Erst als Solaras und Kalmes wieder allein und vom Busbahnhof auf dem Weg zum Strand waren, schmiegte sich die Frau müde an die Schulter ihres geliebten Tiberianers.

»Hoffentlich haben wir da heute keinen riesengroßen Fehler gemacht. Ich traue den beiden nicht«, sagte sie leise.

»Uns blieb leider keine andere Möglichkeit, um in nächster Zeit überleben zu können, Kalmes. Ich bin mir nahezu sicher, dass die beiden Luftikusse wohl kaum auf Dauer den Mund halten werden. Daher müssen wir zusehen, dass wir so schnell wie möglich dieses ungastliche Land verlassen. Sobald ich Levi kein Geld mehr schulde, wird es aus und vorbei mit der Rücksicht sein. Er wird dann die Information über den Raumgleiter zu barer Münze machen wollen. So langsam erkenne ich die terrestrischen Strukturen«, antwortete er traurig.

»Warum können wir nicht einfach mit dem getarnten Raumgleiter nach Deutschland fliegen und ihn dort verstecken?«

»Weil man in dieses ferne Land nicht einfach einreisen darf. Man braucht Papiere von der Grenze, eine Registrierung, sagt Aaron. Wir müssen die Einwanderung von Beginn an auf legale Füße stellen.«

»Verstehe einer die Terraner.«

*

In der folgenden Woche übernachteten Kalmes und Solaras mehrfach auf dem Fußboden in Levis Zimmer, weil es draußen immer wieder Regenschauer gab. Auch an diesem Donnerstag im Dezember saßen sie im Schneidersitz auf dem abgetretenen Teppich. Levi machte die beiden Außerirdischen auf seinem Notebook mit der Errungenschaft namens Internet vertraut.

»Wir haben auf Tiberia ähnliche Systeme, auch wenn diese erheblich interaktiver und mit Gestensteuerung ausgestattet sind. Was ich aber hier überhaupt nicht verstehen kann: Wieso kommt bei euch jeder Benutzer wahllos an sämtliche Informationen und an ein Riesenangebot an total überflüssigen Inhalten heran?«

»Überflüssig? Was meinst du damit?«

»Na, du hast mir doch vorhin so eklige Sexseiten, Spiele und Unterhaltung gezeigt. Du weißt schon, das, wo man vor dem Bildschirm sitzt und sich stundenlang Szenen aus dem Leben fremder Leute ansieht. Das ist alles vollkommen sinnlos.«

»Du meinst Kinofilme? Das Glotzen macht einfach nur Spaß, okay? Genau wie PCGames. Mann, habt ihr auf eurem komischen Planeten denn niemals Freude, oder tut in eurer Freizeit etwas einfach zum Zeitvertreib?«

»Oh nein. Lebenszeit ist viel zu kostbar, als dass man sie auf solche Weise vergeuden würde. Wir erleben jeden Augenblick unseres Lebens intensiv. Soweit wir Computersysteme nutzen, geschieht das zum Zwecke des Informationsgewinns. Man gibt seine Kennung ein und kommt dadurch ausschließlich in Bereiche hinein, die der jeweiligen Sektion, also dem Arbeitsund Lebensbereich, und der Funktion des Benutzers innerhalb dieser Gemeinschaft gerecht werden. Niemand verbringt längere Zeit an jenen Geräten, und wozu sollte er das auch tun?«

Levi sah zu Aaron hinüber, der mit den Augen rollte.

»So. Bevor wir uns die Jobportale ansehen, bist du uns eine Vorführung deiner Technik schuldig.« Er zeigte auf den Stoffbeutel, der den Holographen beherbergte.

Solaras nickte, nestelte an der Schnur, die den Beutel verschloss. »Ist deine Zimmertür abgesperrt?«

»Ja. Nur keine Sorge, niemand bekommt dein abgefahrenes Alien-Zeugs zu sehen. Nun leg schon los!«

Der etwa vierzig Zentimeter hohe, anthrazitgraue Holograph in Form einer Schachtel mit Loch an der Oberseite stand auf einem kleinen Opiumtisch. Solaras drückte den rechten Daumen auf eine nicht näher gekennzeichnete Stelle am Gehäuse, und das Ding erwachte augenblicklich zum Leben. Ein Spinnennetz aus feinen Ritzen im Material wurde rundum sichtbar. Grünliches Licht drang aus ihnen nach draußen, wanderte flimmernd über die Wände des rechteckigen Zimmers.

»Ist das Ding kaputt?«, wollte Aaron wissen.

»Nein. Ich aktiviere jetzt die Übertragung. Ihr bekommt einen Asteroideneinschlag zu sehen. Bitte nicht erschrecken, die Bilder sind ziemlich eindrucksvoll. Macht euch zu jeder Zeit bewusst, dass dies alles bloß künstliche Trugbilder sind«, erläuterte der Tiberianer. Er vollführte ein paar elegante Gesten über dem Gerät.

Was nun folgte, ließ den beiden Terranern augenblicklich den Atem stocken. Flapsige Bemerkungen über schwule Bewegungen blieben ihnen im Halse stecken. Samtige Schwärze erfüllte den gesamten Raum, und in dieser manifestierten sich binnen Sekunden diverse Himmelskörper. Aaron wich unwillkürlich zurück, als ein faustgroßer Asteroid in Richtung seiner Magen gegend flog. Am Rande der Übertragung liefen senkrecht türkisfarbene Zahlenreihen die Wände hinunter, vermutlich Koordinaten oder sonstige Berechnungen.

Der unregelmäßig geformte Brocken aus Stein und Eis steuerte direkt auf eine wohlbekannte blaue Murmel zu, zog einen Schweif aus pulverisiertem Trockeneis hinter sich her. Gestochen scharf war jeder noch so kleine Partikel zu erkennen.

»Alter …!«, hauchte Levi.

Wenige Augenblicke später rauschte der finstere Asteroid mit furchterregenden Geräuschen in die Erdatmosphäre, erzeugte dort ein Feuerspektakel. Monströse Feuerlohen umfingen die Betrachter. Die Illusion war so perfekt, dass sie brachiale Hitze zu spüren glaubten. Aaron hyperventilierte vor Schreck.

Der kantige Asteroid schlug mit einem dumpfen Knall auf einer Landmasse ein, die von oben wie ein Waldgebiet ausgesehen hatte. Ein kapitaler Krater entstand, massenhaft Material wurde hoch geschleudert. Die umstehenden Bäume bogen sich zu Boden, verdampften einfach. Wieder glaubten Aaron und Levi, Gesteinsbrocken ausweichen zu müssen. Dann kam hörund sichtbar die Druckwelle, gefolgt von einem Furcht erregenden Feuerregen. Die Übertragung änderte die Perspektive. Nun glaubte man, auf einem öden, brennenden Planeten zu stehen, auf dem es heiße Asche regnete.

»Aufhören … bitte! Ich ertrage das nicht länger«, jammerte Aaron und hob abwechselnd seine Füße an, um dem qualmenden Erdboden zu entkommen. Ein dunkler, sich ausbreitender Fleck entstand am Hosenstall seiner Jeans. Er hatte sich vor Erregung in die Hosen gepinkelt.

Solaras bemerkte, welch fatale Wirkung seine kleine Vorführung erzeugte, vollführte wieder ein paar Gesten und schaltete damit den Holographen ab.

Die totale Stille, die jetzt im Raum entstand, war fast greifbar. Schließlich fand Levi seine Sprache wieder.

»Du hast es gerade nötig, über uns herzuziehen, weil wir Spielfilme lieben! Und was, bitteschön, war das da? Das ist die Mutter aller 3 DSimulationen. Dermaßen realistische Effekte kriegen unsere FXExperten gar nicht hin. Mensch, anstatt als Zimmermannsgehilfe zu arbeiten, solltest du nach Hollywood gehen. Die würden deine Technik mit Kusshand nehmen!«

»Nun beruhigt euch wieder. Das war übrigens nicht zur Unterhaltung gedacht, sondern vielmehr zur Warnung. Unsere Wissenschaftler wollen nämlich errechnet haben, dass sich in einigen hundert Jahren wirklich ein Asteroid der Erde alias Terra nähert. Er soll hinter der Sonne hervor kommen, wo ihn eure Teleskope nicht entdecken können – oder eben erst, wenn es für Gegenmaßnahmen längst zu spät ist.

Ich muss allerdings gestehen, dass wir beide diese Behauptungen für falsch halten. Auch auf Tiberia gibt es neuerdings eitle Machtspiele, die zu Lügen und Betrug verführen. Es würde zu weit gehen, euch die Zusammenhänge jetzt genauer zu erklären.

Wir haben diesen Holographen samt Aufzeichnung mitgebracht, weil wir hofften, die terrestrischen Machthaber damit beeindrucken zu können. Ob echte Gefahr oder nicht, wir wollten uns mit der Warnung vor einer möglichen Apokalypse Respekt und ein Bleiberecht auf Terra erkaufen. So, nun wisst ihr Bescheid«, referierte Kalmes augenzwinkernd.

Aaron glitt kommentarlos aus der Tür, um die Toilette aufzusuchen. Levi setzte sich auf die Kante seines Bettes, warf seine Rastalocken hinter die Schulter zurück.

»Klarer Fall, das Wahnsinnsmaterial muss unbedingt veröffentlicht werden«, sinnierte er laut vor sich hin. »Wir stellen es auf You Tube ein, kriegen eine Unmenge an Klicks und scheffeln Kohle bis zum Abwinken.«

»Es geht nicht darum, sich mit Brennmaterial zu bereichern, oder was immer du damit sagen willst«, tadelte Solaras und verstaute den Holographen wieder behutsam im Beutel. »Und anstatt schon wieder an Geld zu denken, sollten wir jetzt allmählich auf deinem Gerät nach Arbeitsplätzen sehen.«

Operation Terra 2.0

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