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Aussaat

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Der Gegenstand meiner Feldforschung heißt Odyssea. Sie ist sozusagen meine Wirtin. Nachdem ich mich lange Zeit recht gemütlich in ihrem Gewebe geräkelt habe, wurde mir langweilig. Der Alltag einer Brustzelle ist nicht gerade abwechslungsreich, zumal wenn die Wirtin keine Kinder stillt. Ich versuchte auf mich aufmerksam zu machen, doch ihr Gewebe ist einfach zu dicht für meine Kinkerlitzchen. Da beschloss ich, mir Gehör zu verschaffen. Ich hatte von einem speziellen Stapelver­fahren beim Kopieren von Zellen gehört, das ich längst einmal testen wollte. Die ersten Versuche musste ich leider als Ausschussteile anerkennen, doch etwa nach dem zehnten Versuch klappte es, mit lediglich ein paar kleineren Abweichun­gen vom Original – ich hatte mich geklont, und zwar so, dass meine Außengrenzen schwer zu bändigen waren. War das ein Spaß!

Odyssea blieb unbeeindruckt. Wahrscheinlich war sie abgelenkt. Schon seit längerem konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ihren bisherigen Lebensstil beibehalten oder einen entscheidenderen Schritt Richtung Selbst­verwirklichung tun sollte. Von Botenstoffen, die sich auf der Durchreise zur Zentrale befanden, erfuhr ich, dass ihre Entscheidung längst gefallen war, sie sich aber mit deren Umsetzung schwertat. Die Sache zog sich über viele Monate hin – kein Wunder also, dass mich Odyssea nicht bemerkte.

Während sie sich abmühte, das Richtige zu tun, malte ich mir meine Zukunft in den buntesten Farben aus. Ich liebte meine Wirtin, denn sie meinte es gut mit mir: Viel Bewegung an der frischen Luft, eiweißreiches Essen und gesunder Schlaf im Überfluss sorgten für paradiesische Zustände. Die hormonelle Unterstützung ihrer Ver­hütungsmaßnahme war dabei das Tüpfelchen auf dem i.

So fiel es mir leicht, meinen Standort beizubehalten. Vorübergehend hatte ich geplant, mich auf die Reise zu begeben und mir eine optimale Körperstelle auszuwählen, an der ich mich dauerhaft wohlfühlen würde. Doch es gab einfach nichts zu beanstanden in diesem wohlgefälligen Brustgewebe.

Ich blieb Beobachterin, doch durch meine zackigen Kopiererfolge erhöhte ich gleichzeitig meinen Einfluss auf das Gewebe, festigte damit meinen Anteil als Stake­holder und wurde so zum unerlässlichen Bestandteil im Körper meiner Wirtin. Natürlich führte diese Home-sweet-Home-Gemütlichkeit auch zu einer gewissen Träg­heit meinerseits, und da mich die aufwendige Kopisten­arbeit doch etwas angestrengt hatte, ließ ich mein Leben recht gemächlich vor sich hin trudeln. Ich bin keine Freundin kurzfristiger Erfolge. Man sieht ja an der Börse und in den Konzernen, wohin dies führt. „Mach mal langsam, Cellula“, sagte ich mir, „Geduld ist eine Tugend“.

„Geduld ist eine gute Eigenschaft; aber nicht, wenn es um die Beseitigung von Missständen geht“, zitierte Odyssea ausgerechnet Margaret Thatcher. Natürlich sah Odyssea ihr Leben nicht als Missstand an. Sie wollte nur ein paar Weichen stellen und vorübergehend etwas kürzer treten, da die Alltagsanstrengungen sie öfter lähmten und sie fühlte, dass dies durch eine motivierende neue Herausforderung zu ändern sei. Gleichzeitig sollte sie sich, egal wobei, davon auch noch ernähren können, und auf der Suche danach musste sie – nicht gerade ihre Stärke – Geduld haben.

YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren

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