Читать книгу YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren - Andrea Schatz - Страница 12
Im Feld
ОглавлениеIch bin erwachsen geworden. Ausgestattet mit einem professionellen histologischen Befund und einem beachtlichen Vorrat an überexpressiven HER-2-Neu-Rezeptoren, betrete ich selbstbewusst das Feld der klinischen Prominenz. An meiner Größe, Lage und Ausdehnung sowie den Östrogenrezeptoren muss ich zwar noch arbeiten, aber ich bin zuversichtlich: Der Jugend Fleiß, des Alters Ehre.
Dass meine Wirtin nicht für eine klinische Studie in Frage kommt, ist wirklich schade. Odyssea passt einfach in kein Raster – das hätte ich den Ärzten bereits vorab sagen können. Sie will sich einfach nicht kategorisieren lassen, in keinem Bereich des Lebens. Schon fühle ich wieder diese Verbundenheit mit ihr, das Eins-Sein auf eine seltsame Art.
Der neue Kulturkreis des Medizintempels, in den wir Eintritt gefunden haben, fasziniert mich, er scheint eine unerschöpfliche Spielwiese zu sein. Ich fühle mich zu Höherem berufen und bin entschlossen, weiter auf diesem Pfad zu wandeln, Studie hin oder her. Mit zahlreichen Gleichgesinnten habe ich bereits Freundschaft geschlossen; tausende Zellinformationen aus zahlreichen Wirten bieten mir die spannendste Lektüre seit Jahren. Die Luft riecht förmlich nach Abenteuer.
Währenddessen lernt Odyssea Prognosen einzuschätzen, stellt Fragen und bleibt trotz angekündigter Unannehmlichkeiten zuversichtlich. Sie erzählen ihr, dass das Raubtier noch im Käfig sei. Das stimmt, aber nur deshalb, weil ich unauffällig bleiben und in Ruhe meine Forschungen voranbringen will ... und weil mein gemütlicher Charakter immer die Oberhand gewinnt.
In diesem überwiegend für Frauen angelegten Labyrinth erscheinen täglich Hunderte Menschen mit höchst interessanten Zell- und Gewebestrukturen. Am liebsten würde ich ein ausgiebiges Patientinnen-Hopping buchen, um an alle Informationen zu kommen. Allein die kulturelle Vielfalt und vertretenen Altersklassen bieten Stoff für ein mehrteiliges Werk.
Die Menschen ähneln meinem Zusammenspiel mit Odyssea, sind genervt und gleichzeitig geduldig, kämpferisch und ergeben. Die Frauen mit den dickeren Bäuchen sind am fröhlichsten, manche von ihnen auch leidend. Einige reden wie ein Wasserfall, andere schauen resigniert vor sich hin. Besorgte männliche Begleiter wechseln sich mit denen ab, die sich offensichtlich fehl am Platz fühlen. Viele kehren nach einigen Stunden wieder in ihren Alltag zurück. Solange sie im klinischen Tempel sind, verhalten sich die meisten roboterhaft, mit Zetteln und Akten versehen, schnellen Schrittes vorübereilend. Ein Teil des Klinikpersonals trägt seltsame Uniformen; sie sind wohl als Abwehrschirme gegen Typinnen wie mich gedacht.
Es ist unmöglich, diese Beobachtungen systematisch zu gliedern. Sie wären eine komplett neue Studie wert – vielleicht liegt hier meine Zukunft.
Die einzig unangenehmen Unterbrechungen meiner Forschungstätigkeit sind die therapeutischen Schlagwörter, mit denen man Odyssea hypnotisiert. Ich reagiere von Haus aus allergisch auf den kleinsten Hinweis im Zusammenhang mit Operationen, Zytostatika, Radioaktivität und anderweitiger Medikation.