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Tagebucheintrag:

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Lieber Chef und liebe Hühner. Schwerfallendes Be­kenntnis bei der lieben Freundin, die mich als einzige ganz genau versteht. Weitere mir wichtige Personen informiert, die es von mir direkt erfahren sollen. Familie noch offen – wie sage ich es der Mutter?

Ich versuchte es, sie ging mir zweimal durch die Lappen, und es war klar, dass ich sie gerne ent­wischen ließ. Der dritte Anlauf gelang. Ich sprach sehr behutsam, was gar nicht einfach war, weil sie schlecht hört und ich die klinischen Begriffe in möglichst einfacher Übersetzung darbieten musste. Ich hörte mich selber von Premiere und Abenteuer faseln (ich war bis dato noch nie Patientin in einem Krankenhaus gewe­sen), von guten Aussichten, von ihr als meinem großen Vorbild, von Organisatorischem, vom Genießen des tollen Frühlingswetters. Große Erleichterung, sie blieb cool. Eine Woche später würde sie mich vorsichtig fragen, ob es denn bösartig sei. Ich bejahte und dankte der Gnade des fortgeschrittenen Alters.

Nachdem der wichtigste Personenkreis Bescheid wusste (auch hier betonte ich die gute Thera­piemöglichkeit im Sinne von „Glück gehabt“ und „Alles halb so wild“), war es mir sehr wich­tig, das Steuer der Informationen in meiner Hand zu halten. Direkt und offen, wenn auch verständnisvoll, teilte ich meinem Umfeld mit, dass ich gegen betontes Mitleid oder gar Gejammer immun sei und dass die nächsten Monate zwar ein wichtiger Teil meines Lebens seien, dieses aber nicht durchgängig bestimmen würden. Ich bin ein Mensch, der viel mit sich selbst ausmacht, und das wollte ich beibehalten. Der Gedanke an den Empfang von Anstands­besuchen während der Chemotherapie oder stundenlange Telefonate über das eine große Thema war mir zuwider, einen ganz kleinen Kreis hielt ich danach immer auf dem laufenden und das war völlig ausreichend. Denn ich wollte ja auch meine anderen Pläne voranbringen bzw. umsetzen, auch falls manches nur langsam oder eingeschränkt machbar sein sollte. Das Positive an einer solchen Situation – dem Umgang mit Informationen über die Krankheit, Selbst­läufern und Gerüchten, Tratsch und Klatsch – ist, dass man die Menschen noch besser kennen­lernt. Es ergibt sich Nähe, wo man es nicht unbedingt erwartet hätte, und man lernt, sich von Personen und Situationen, die einem nicht unbedingt gut tun, zu distanzieren. Wichtig war es jedoch auch, den Menschen gegenüber nachsichtig zu sein – ich hätte nie gedacht, dass mir das gelingen würde, denn es war auch etwas anstrengend, wenn sich Blicke auf der Straße und das Ver­halten mancher Menschen änderten. Und doch schaffte ich es, die nötige emotionale Distanz zu wahren, die ich ganz unbescheiden meiner philosophischen Ader und meinem Bauchgefühl zuschreibe – plötzlich war ich die­jenige, die der Unsicherheit anderer mit Em­pathie begegnete. Die Macht der Verletzlichkeit hatte mich nicht besiegt; ich konnte meine körperliche Verletz­lichkeit als vorübergehendes Schicksal akzep­tieren, wäh­rend meine seelische Verletzlichkeit mich gar nicht erst herausfor­derte. Ich war wirklich authentisch und freute mich über dement­sprechendes bestätigendes Feedback. Oft lächelte ich in mich hinein und sagte mir „Nun bist du also berühmt geworden“, wenn auch nur in einem 600-Seelen-Dorf und einigen kleineren Kreisen außerhalb. Interessant war die unter­schiedliche Wirkung meiner Situation auf jüngere Frauen, die eher auf Körperbild und Beziehung fixiert waren, auf Gleichaltrige, die häufig pragmatisch reagierten, und auf viele ältere Frauen, die mit einer gewissen Hilflosig­keit auf meine Berichte reagierten. Das K-Wort fanden die meisten sehr abschreckend, weshalb ich es meist vermied.

YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren

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