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Tagebucheintrag: Wer zieht hier die Fäden?

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Mein Mikrokosmos ist unzweifelbar

biologisch erklärbar

histologisch überschaubar

ursächlich unklar.

Unser Makrokosmos ist anzweifelbar

philosophisch diskutierbar

wissenschaftlich nicht beweisbar

im Großen und Ganzen ungreifbar.

Im Rückblick finde ich es erstaunlich, wie ruhig ich geblieben bin. Mit 48 Jahren spürte ich zum ersten Mal etwas von der Tragweite der End­lichkeit des Daseins, doch gleichzeitig hatte ich den Eindruck, es handle sich um kurz­fristige Terminänderungen und nicht um eine potentiell lebensbedrohliche Diagnose namens Brustkrebs. Ein Riesenkompliment an meine Gynä­kologin, meinen Lebensgefährten und meinen Hausarzt, die allesamt Bodenhaftung bewahrten, nicht um den heißen Brei herumredeten und dennoch die unfrohe Botschaft mitfühlend mit mir trugen und mir Vertrauen in die bevor­stehende Thera­pie mit auf den Weg gaben.

Nach dem ausführlichen Gespräch mit meiner Ärztin war ich sofort einige Tage krank ge­schrieben, um meine Gedanken sortieren zu können. Ich schnappte mir das Fax mit dem pathologisch-anatomischen Gutachten und setzte mich ans Internet, um die mir nicht bekannten medizini­schen Begriffe zu deuten. Nur gut, dass ich beruflich bereits mit der medi­zinischen Termi­nologie in Berührung gekom­men war; doch der Bericht war gespickt mit irre­führenden Begriffen. Es war etwas gruselig, sich durch so viele Definitionen zu klicken, in denen überall Schlagwörter wie Überlebensrate, Rezi­div, töd­licher Verlauf, Sterblichkeit, Heilungs­chancen laut Statistik usw. enthalten waren. Sobald ich die wichtigsten Begriffe gefunden hatte, fuhr ich den Computer aus der aberg­läubischen Sorge, beim Weiterlesen dem siche­ren Tode geweiht zu sein, herunter. Ich hatte jetzt ein unschar­fes Bild von einem invasiv-duktalen Karzinom NST (no special type), das mäßig differenziert war (G2), dass der Tumor noch recht klein war (< 2 cm), bei Draufsicht auf 9 Uhr stand und damit gut operabel sein sollte, die Proliferations­rate mit 10 % nicht zu beängstigend war, dass der positive Hormon­rezeptorstatus für eine Therapie vorteilhaft war und dagegen der HER-2/Neu-Rezeptor (ein Protein) mit starker Aus­prägung Score 3+ weni­ger vorteilhaft war.

Das K-Wort wirkte nun weniger bedrohlich, ich konnte es aussprechen und denken, auch wenn ich es anderen gegenüber eher vermied (ersetzt durch den Begriff „Tumor“). Ein Krebs war an und für sich ja etwas Schönes, ich hatte im Urlaub schon kleine Krebse fotografiert, die sich zwischen Felsritzen versteckten und doch neu­gierig daraus hervor lugten. Außerdem war mein Lebensgefährte im Sternzeichen Krebs geboren, das konnte also nur Gutes bedeuten. Man legt sich die Dinge eben so lange zurecht, bis sie passen. Dass ich buchstäblich Glück im Unglück hatte, wurde mir erst später in der Klinik, als ich Menschen mit viel schwerwiegenderen Dia­gnosen oder weit fortgeschrittenen Krankheits­stadien traf, richtig bewusst.

Es folgten angenehme Tage. Ich erinnere mich an mildes Frühlingswetter, an die Stunden, die ich im gemütlichen Sessel unseres Wintergartens verbrachte, wo sich die vielen neuen Informa­tionen und wirren Gedanken setzen konnten: Ich war dankbar für eine recht gute Prognose (Brustkrebs ist heilbar), genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, hatte keinen Zusammenbruch meines Weltbildes erlitten, endlich Zeit zu lesen, hatte auf weitere Deutungsversuche von Histo­logie / Pathologie im Internet verzichtet (dort ist nichts so sicher wie der Tod). Ein gewisses Freiheitsgefühl ersetzte das surreale Schweben, ich bereute meinen beruflichen Schritt nicht im geringsten und verspürte eine ruhige Zuversicht, dass alles gut gehen würde, und da war auch ein ruhiges, natürliches, tiefes Grundvertrauen mir selbst gegenüber. Es war einfach da, und dafür war ich ebenso dankbar wie ich froh war, dass der Tumor durch meinen Gang zur Vorsorge überhaupt entdeckt werden konnte. Dass alles gut werden würde, wusste ich von meiner sechsundachtzigjährigen Mutter, die in ihrem Leben viele schwere Wege gehen musste und vor vielen Jahren die damals noch zu härteren Bedingungen als heute durchgeführte Therapie eines Schilddrüsenkarzinoms überstanden hatte. Warum sollte ich es nicht auch schaffen? Zu dem Zeitpunkt hoffte ich, die bereits in Aussicht gestellte Chemotherapie nach der OP nicht antreten zu müssen – was ungefähr so naiv war wie mein Versuch, meiner Ärztin bei der Vor­sorgeuntersuchung die entartete Zelle als harm­lose Zyste zu verkaufen.


Blieb der Umgang mit der Familie und der „Öffentlichkeit“. Welches war der schwierigere Part? Die Familie, würde ich sagen. Wegen der Emotionen. Und enge Freunde. Auf das Ver­halten der vielen anderen hatte ich eh keinen Einfluss. Ich ging Schritt für Schritt vor, suchte mir einen Freitagnachmittag als unspektakulären letzten Arbeitstag aus und verabschiedete mich im engeren Kollegenkreis mit kleineren Abschiedskärtchen und Gags.

YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren

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