Читать книгу YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren - Andrea Schatz - Страница 5
Als alles begann (02-03/2015)
ОглавлениеNach reiflicher Überlegung hatte ich mich dazu entschlossen, meinen Job aufzugeben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, doch mein alter Vorsatz, mich zu verändern, wenn ich „einmal auf die 50 zugehe“, koinzidierte mit einem bereits einige Zeit andauernden Zustand der Überarbeitung. Gespräche waren geführt, Möglichkeiten ausgelotet, im Privatleben diskutiert worden. Ich würde mir eine Teilzeitbeschäftigung suchen und mich parallel über die Möglichkeiten zur Finanzierung eines alten Traums informieren, der Aufnahme eines Romanistikstudiums an der Universität. Dazu hatte ich ein halbes Jahr Zeit, so lange lief mein Arbeitsvertrag. Ich würde meine Aufgaben ordentlich übergeben, wollte einen „guten Abgang machen“ und vereinbarte parallel dazu, wie in jedem Frühjahr, Termine für einige Vorsorgeuntersuchungen. Vorsorge beim Zahnarzt – ok. Vorsorge bei der Frauenärztin – ok. Check-up beim Hausarzt – ok. Danach Zeit für die beiden gebuchten Kurse bei der Volkshochschule, Antike Kulturen und Grundlagen der Philosophie von Descartes. So dachte ich mir das.
Von der gynäkologischen Praxis wurde ich zwecks Abklärung einer Auffälligkeit in der rechten Brust zur Mammographie geschickt. Meiner Ansicht nach handelte es sich wie bereits öfter um eine harmlose Zyste, die mit Flüssigkeit gefüllt war und erfahrungsgemäß mit der Zeit wieder verschwinden würde. Die Mammographie ergab einen „unauffälligen mammographischen Befund bei dichtem Drüsengewebe“ mit der Bezeichnung BI-RADS 0. Das heißt Breast Imaging Reporting and Data System mit einer Codierung von 1 bis 5, wobei 1 unauffällig und 2 gutartig war. 0 war also gar nichts. Um auf Nummer sicher zu gehen, bekam ich einen Termin zur Stanzbiopsie, um das Gewebe untersuchen zu lassen. Mir sollte es recht sein, ich nahm meine Vorsorgetermine schließlich ernst. Über die entnommenen „Würmchen“, bezeichnet als sechs grau-gelbe Stanzzylinder, musste ich schmunzeln.
Zwei Wochen nach meiner Kündigung erhielt ich einen Anruf aus der Frauenarztpraxis. Die entnommene Gewebeprobe war bösartig. Ich stand mit dem Mobiltelefon am Ohr regungslos im Besprechungszimmer und spürte förmlich, wie das unheimliche Wort in mich einsickerte wie schwere Tinte in Löschpapier. Die Nachricht war weder schlimm noch schockierend, sie war surreal, betraf nicht mich, sondern die neben mir, mein anderes Ich. Ich hatte die Gewebeprobe nicht ernst genommen – die ganze Zeit war ich mir sicher gewesen, dass die bei der Vorsorge nicht als flüssigkeitsgefüllte Zyste, sondern als zackiges Etwas definierte Stelle sich als harmlos erweisen würde. Mit keinem Gedanken hatte ich die Möglichkeit einer schlechten Nachricht in Erwägung gezogen, die mich von meinen Zukunftsplänen abhalten könnte.
Während sich eine meiner jungen Kolleginnen einen Spaß erlaubte und mich mit einem „Ätsch, beim privaten Handygebrauch ertappt!“ foppte, versuchte ich tapfer zu lächeln, mich zu beherrschen und gleichzeitig mein Bedauern darüber, die Volkshochschulkurse sicherlich wieder stornieren zu müssen, zu überspielen. Mechanisch machte ich mich auf den Weg ins Büro, um erst einmal weiterzuarbeiten, um später zu überlegen, machte aber nach drei Schritten kehrt, ging zurück ins Besprechungszimmer, schloss die Tür und versuchte meinen Lebensgefährten anzurufen. Der war leider nicht erreichbar, ich schrieb eine kurze SMS, klopfte bei meinem Chef und faselte etwas von früher gehen und Arzttermin, er nickte und schon klingelte mein Mobiltelefon, keine fünf Minuten später stand das Auto meines Lebensgefährten vor dem Eingang und wir fuhren – nicht nach Hause, aber an den Fluss, der viele Geheimnisse kennt: an die Balinger Eyach.