Читать книгу YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren - Andrea Schatz - Страница 13

Ernte

Оглавление

Die eingangs angeführte Lebendigkeit meines Forschungsgebietes bezieht sich längst nicht mehr nur auf das lebendige menschliche Wesen, meine Wirtin, und mich als leuchtendes Beispiel einer lebendigen Zelle. Die Lebendigkeit des Lebens selbst hat meine Wirtin und mich erobert. Wie Weizenähren kurz vor dem Abmähen knistern und fast zerspringen, begannen Odyssea und ich zeitgleich vor der Intensität der Wahrnehmungen zu erbeben.

Dabei hat Odysseas Ungeduld meine bescheidene Geduld besiegt. Sie weiß jetzt, was sie will, und sie will es schnell. Obwohl sie ihre ursprünglich geplante Herausforderung zunächst nur über Umwege verwirklichen kann, hat sie fest vor, in den nächsten Monaten Schritt für Schritt darauf hinzuarbeiten. Ich dagegen habe mich blenden lassen vom Glanz einer erträumten Karriere, wobei ich zu meiner Verteidigung klipp und klarstelle, dass es allen anderen auf dem Land aufgewachsenen und endlich einmal die Stadtluft einatmenden Zellinnen ganz genauso ergangen wäre.

Erstmals spüre ich eine leichte Unruhe beim Gedanken an meine Zukunft, ich träume von Stürzen in tiefe Schächte und von lästigen Insekten, die mich mit ihrem Pieksen regelrecht foltern. Sollte dies eine Vorahnung sein? Wovor?

Odysseas Unruhe kommt und geht in überschaubaren Wellen. Die Wartezeit ist der wahre Grund dafür. Sie will sich an die Worte des Philosophen John Dewey halten, die besagen, man solle sich den Tatsachen des Lebens direkt und mutig stellen. Solch ein Vertrauen möchte ich haben!

Ich werde misstrauisch und suche den Kontakt zu den Botenstoffen – vorübergehend nicht erreichbar … ich versuche es mit den Lymphen und Blutbahnen – keine Antwort. OK, das wundert mich nicht, ich hätte in der Vergangenheit besser netzwerken sollen. Schließlich kann ja jede mit einem lächelnden „Hallo, ich bin die Neue“ an der Haustür klingeln.

Panik steigt in mir auf. Von wegen Geduld! Ein Geistesblitz schickt mich zum Kopiergerät – wegen Wartung außer Betrieb. Auch das metabolische Dezer­nat im Ministerium für Gewebefachfragen erteilt eine Absage – derzeit werden keine Zuschüsse für Zell­wachstum vergeben.

Mir fällt momentan kein weiterer Informationskanal ein. Sollte ich in diesem spannenden Wettkampf mit meiner geliebten Wirtin den kürzeren ziehen? Wer schmiedet dieses Komplott gegen mich? Geht es mir womöglich an den Kragen? Schon sehe ich mich als Sondermüll entsorgt auf einem Gewebehaufen leidvoll vor mich hin vegetieren.

Ich fühle mich in Odyssea hinein und erkenne:

✓ anstehender Operationstermin

✓ anschließende Chemotherapie mit Antikörpertherapie

✓ anschließende Bestrahlung

✓ anschließende Antihormontherapie

etc., der ganze Plan gewürzt mit Optimismus bis zum Umfallen. Ich bekomme Angst! Adieu Milchwerke, die Kuh ist gemolken, ihr geht bankrott! Adieu Medizin­tempel, ich muss scheiden! Adieu weise Literatur, die ich nie verfassen werde.

Das ist nicht fair, Odyssea. Du hast deine Ängste auf mich übertragen. Hier geht’s um mein Überleben, doch du schaust seelenruhig zu, wie ich im Schlamassel wühle.

YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren

Подняться наверх