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Hans schloss die Zimmertür hinter sich und hängte den nassen Wintermantel zum Trocknen über den Heizkörper. Die Schuhe, in die er altes Zeitungspapier gestopft hatte, stellte er darunter und prüfte mit der Hand, ob die Heizung auch wirklich warm genug eingestellt war. Sein Zimmer war akribisch aufgeräumt. Alles hatte genau seinen Platz. Auffallend war ein grosses Bücherregal, in dem Hunderte Bücher perfekt einsortiert waren. Ja, es musste alles seine Ordnung haben in Hans’ Leben. Er wusste, dass er mit seinem Ordnungssinn fast alle beinahe in den Wahnsinn trieb. Die Einzige, die immer gemocht hatte, dass sie nie hinter ihm herräumen musste, war seine Frau. Auch wusste er, dass er damals von seinen Sekundarschülern den Spitznamen »Meister Proper« bekommen hatte, aber das kümmerte ihn nicht. Die klare Ordnung und die Tatsache, dass er immer und für alles einen Plan brauchte, gaben ihm Sicherheit.

Auf einem kleinen Tisch stand seine alte mechanische Schreibmaschine, eine Hermes Baby, die er vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt in Zürich für ein paar Franken erstanden und natürlich vor dem ersten Gebrauch bis in die letzte Ritze perfekt gereinigt hatte. Daneben, ebenfalls fein säuberlich geordnet, eine ganze Sammlung verschiedener Medikamente. Hans massierte seine schmerzende Hüfte. Er wollte eine längst fällige Hüftgelenkoperation hinausschieben, solange es ging. Idealerweise bis zum Frühling. Krücken im Winter waren in seinem Alter keine gute Idee. Zudem hasste er Krankenhäuser und war überzeugt, dass die Menschen meist kränker entlassen wurden, als sie eingetreten waren – wenn sie überhaupt zurückkehrten.

Hans nahm aus drei Medikamentenschachteln je zwei Tabletten und schluckte sie trocken hinunter. Langsam und unter grossen Schmerzen setzte er sich an die Schreibmaschine, zog sein kleines, schwarzes Notizbüchlein aus der Hosentasche und schlug es bei der Seite auf, wo ein Buchzeichen drinsteckte. Fein säuberlich – wie konnte es anders sein – hatte er sich mit lehrertypisch gleichmässiger Handschrift Notizen gemacht. Nicht irgendwelche Notizen, sondern neue Ideen für seinen dritten Roman – seine beiden ersten Manuskripte lagen akkurat gebunden und unveröffentlicht in seinem Bücherregal. Hans öffnete die Tischschublade und zog ein weisses Papier heraus, steckte es hinter die Walze der Schreibmaschine und drehte das Walzenrad. Mit klickendem Geräusch wurde der jungfräuliche Papierbogen um die Walze gezogen und erschien auf der anderen Seite wieder. Dann bediente Hans ein paarmal den Zeilenschalthebel, beförderte das Blatt so an die genau richtige Position und begann zu tippen.

Lesen und Schreiben waren schon immer seine grossen Leidenschaften. Ein bekannter Schriftsteller zu sein – das wäre sein Wunsch gewesen. Natürlich verehrte er die grossen Schweizer Schriftsteller, hatte alles von Dürrenmatt und Frisch mehrmals gelesen und piesackte als Lehrer auch seine Schüler immer wieder mit den kleinen gelben Reclam-Büchlein. Aber am liebsten mochte er doch die alten Krimis von Agatha Christie. Genau solche Romane wollte er schreiben. Einen eigenen Hercule Poirot erschaffen, das war sein Traum.

Jetzt aber wurde sein konzentriertes Tippen schon nach wenigen Zeilen jäh von lauter Musik aus dem Nachbarzimmer unterbrochen. Wütend schob er die Lesebrille auf den schon fast kahlen Kopf.

»Nicht schon wieder dieser Julio Iglesias, den halte ich nicht aus!«, rief er und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Frida! Mach leiser!«

Doch Julio trällerte unverändert laut seine spanische Schnulze. Irgendetwas über »amor, amor, amor«. Grauenhaft. Hans stand langsam auf und ging zum Zimmer seiner Nachbarin Frida Pizetta. Energisch klopfte er an die alte Holztür. Nichts. Er klopfte nochmals, lauter, und schlug dazu den goldenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte, gegen die Tür. Der Ring mit eingraviertem Familienwappen der Bolligers war ein Erbstück seines Vaters. Jetzt war ein fürchterlicher Hustenanfall aus dem Zimmer zu hören, gefolgt vom Geräusch schlurfender Schritte. Endlich öffnete Frida.

»Was?!«, wollte sie wissen und fuhr sich mit der Hand durch das struppige graue Haar. Sie sah aus, als komme sie eben aus dem Bett, was durchaus zutreffen konnte. Neben ihr stand auf einem kleinen Wagen eine Sauerstoffflasche, von der ein durchsichtiger Schlauch zu ihrer Nase führte. Das gab ihr zwar einen gewissen Anschein von Gebrechlichkeit, doch im Gegensatz zu Hans’ drahtiger Figur wirkte Frida geradezu burschikos. Man sah ihr an, dass sie ihr ganzes Leben lang körperlich gearbeitet hatte. Auch im Winter trug sie meistens kurzärmlige Pullover, weil ihr immer zu warm war.

»Musst nicht so nervös klopfen, bin kein Rennpferd«, schnaubte Frida nun.

Hans zeigte mit dem Kopf in die Richtung, aus der die schreckliche Musik kam.

»Die Musik, ich bin am Schreiben.«

»Ja und? Dein Zeugs liest ja eh kein Schwein.«

»Kann der Gigolo nicht auch ein bisschen leiser singen?«, fragte Hans, ohne auf die Anspielung auf seine ziemlich erfolglose zweite Karriere als Schriftsteller einzugehen.

Frida drehte sich wortlos um und stellte die Musik ein ganz kleines bisschen leiser.

»Eifersüchtig?«, fragte sie zurück.

Hans brauchte einen Moment, bis er die Frage richtig begriffen hatte.

»Du meinst auf Julio Iglesias?«

Frida nickte, und ihr Blick wanderte über Hans’ Schulter irgendwohin in die unendliche Ferne.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Frida wirklich attraktiv war. Das war, bevor sie über fünfzig Jahre lang als Putzfrau den Dreck anderer Leute wegmachen musste. Sich ihre Lunge mit ätzenden Säuredämpfen ruinierte und die Bandscheiben kaputt schuftete. Eine Zeit, in der sie glaubte, mit ihrem Reinigungsinstitut so viel Geld zu verdienen, dass sie im Alter auf Capri auf der Veranda ihres kleinen Häuschens würde sitzen können und der Sonne zuschauen, wie sie langsam im Meer versank.

Doch das Einzige, was unterging, war ihre Firma. Natürlich war sie weder einer Pensionskasse angeschlossen noch hatte sie sonstige Ersparnisse. Sie musste ihr ganzes Leben weiterschuften und immer für das Nötigste kämpfen – da blieb keine Zeit für Männer oder »amor«. Nur das Träumen hatte Frida nie verlernt. Warum es unbedingt Capri sein musste, wo sie ihr Alter verbringen wollte, wusste sie nicht – oder nicht mehr. Sie war nie dort gewesen, eigentlich noch überhaupt nirgendwo. Wusste nicht einmal mehr, wann sie das letzte Mal richtig Ferien gemacht hatte. Als junges Mädchen hatte sie eine Zeit lang im Welschland gelebt, später war sie ein paarmal in Italien, wo die Familie ihres Vaters herkam.

»Iglesias wäre der einzige Mann gewesen, den ich geheiratet hätte«, sagte sie endlich und seufzte laut. »Gegen den sind doch alle anderen nur Schlappschwänze.«

Sie klopfte Hans auf die Schulter, um sicherzugehen, dass er begriff, dass auch er zu dieser Kategorie Männer gehörte.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Hans leicht gereizt. »Kümmere du dich doch lieber um deine Freundin, der Arzt war gerade bei ihr.«

Frida wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt und schloss keuchend und kommentarlos ihre Zimmertür.

Mission: Weisse Weihnachten

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