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ОглавлениеMaria und Frida sassen nebeneinander auf Marias Bett. Sie waren ein sehr ungleiches Paar. Die noch immer kräftige Frida mit den kurzen Haaren und daneben die kleine zierliche Maria. Zusammen blätterten sie in einem alten Fotoalbum, das auf Marias Knien lag. Die Fotos waren schon leicht vergilbt, wurden aber einst liebevoll eingeklebt. Maria fuhr mit ihrem leicht zitternden Zeigfinger über eines der Bilder, auf dem eine Frau Mitte fünfzig zu sehen war, die ein Baby auf dem Arm trug.
»Das war Steffis erster Geburtstag«, sagte Maria und wischte sich mit einem Papiertaschentuch, das sie aus dem Ärmel ihrer Strickjacke gezogen hatte, eine Träne aus dem Gesicht.
Frida schaute sich das Foto genauer an.
»Und die Frau …?«
»Ja, das bin ich«, nickte Maria.
Frida nahm Marias Hand in ihre und drückte sie leicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie klein und zerbrechlich Marias Hände waren. Die Adern schimmerten bläulich durch die dünne Haut, die von Altersflecken übersät war. Dagegen wirkten Fridas Arbeiterhände wie Pranken.
Vorsichtig blätterte Maria eine weitere Seite des Albums um und strich die Falten aus dem dünnen transparenten Mittelblatt, das die Fotos schützte.
»Da ist Steffi wohl schon etwas älter«, sagte Frida, und Maria nickte.
Das Foto zeigte ein kleines Mädchen, das in tiefem Schnee kniete und dabei war, einen Schneemann zu bauen. Neben ihm lagen eine Möhre und zwei Baumnüsse bereit, um dem weissen Mann später ein Gesicht zu geben. Unter dem Foto klebte ein weiteres, das schon fast verblichen und etwas dicker war als die anderen. Aufgenommen mit einer der ersten Polaroid-Sofortbildkameras – damals die absolute Sensation.
Maria erinnerte sich, wie Steffi die Fotos, sobald sie vorne an der Kamera aus dem Schlitz geschoben wurden, freudig packte und wie empfohlen damit in der Luft umherwedelte. Staunend sah sie zu, wie aus den als Erstes erkennbaren Umrissen wie von Geisterhand ein Bild entstand, das immer schärfer und konkreter wurde, bis es perfekt entwickelt war. Auch Maria empfand diesen Vorgang als absolutes Wunderwerk der Technik. Kein wochenlanges Warten mehr, bis man das Resultat sehen konnte, nachdem man die Filmrolle in einem Fotogeschäft in eine Papiertasche geschoben und zum Entwickeln in Auftrag gegeben hatte. Steffi liebte die Kamera, und obwohl die dafür nötigen Spezialfilme sehr teuer waren, knipste sie alles, was sie festhalten wollte. Auf dem Polaroid-Foto im Album war Steffi schön angezogen; die blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, stand sie neben einem Christbaum, an dem die Kerzen brannten, und spielte auf der Blockflöte, wohl ein Weihnachtslied.
»Ich kann nicht glauben, dass das schon fast dreissig Jahre her ist. Dreissig Jahre, mein Gott«, sagte Maria. »Warte, das muss Weihnachten … ich glaube, einundneunzig gewesen sein«, ergänzte sie.
»Wo wart ihr da?«, wollte Frida wissen.
»Im Wallis, in Verbier, mein Mann kam von dort, und immer an Weihnachten konnten wir ein kleines Haus von seinem Bruder mieten.«
Maria blätterte erneut um. Auf der nächsten Seite war kein Foto, sondern eine Kinderzeichnung eingeklebt. In die Mitte war ein grosses rotes Herz gemalt, und darüber stand in wackliger Kinderschrift, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe: »Für Omi – von Steffi«. Maria strich über die Zeichnung, als wollte sie Steffi streicheln, die sie jetzt so gern bei sich gehabt hätte.
»Wo sie jetzt wohl sein mag?«, dachte Maria, und wieder kamen ihr die Tränen. Sie schaute vom Album hoch und aus dem kleinen Fenster ihres Zimmers. Es war dunkel, und es hatte wieder zu regnen begonnen. In ihren Gedanken war sie dreissig Jahre zurück, in einer Zeit, in der noch alles in Ordnung war.
»Ja, da waren wir immer am glücklichsten … an Weihnachten, in den Bergen. Mit viel Schnee und Schweinebraten mit Kruste … ja, das wäre jetzt schön«, sagte sie geistesabwesend, während ihr die Tränen über die gefurchten Wangen rannen.