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Marcello

Marcello Costas, der hochgewachsene Pförtner, wirkte auch in der katheralenhohen Lobby des Studios De|Sign nicht verloren. Wann immer der Orientierungssuchende durch eine der drei Drehtüren ins Innere gespült wurde, immer fand dieser Jemand die ruhigen Augen von Marcello. Sie fixierten ihn oder besser: sie zogen ihn magnetisch zum Empfangstresen. Ein großer Eingangsbereich war für ein Designstudio dasselbe wie für ein Fünfsterneplushotel. Innerhalb weniger Augenblicke sollte der Besucher erkennen, dass Luxus hier nicht gespielt sondern echt war. Das Studiohonorar musste sich bei potentiellen Kunden im Moment des Eintreffens räumlich manifestieren, in der kreativen Leistung des Studios fortsetzen und bis zur Zahlung der Rechnung keinen Widerspruch duldeten.

De|Sign war jeden Cent wert, den Kunden hier ablieferten, mehr noch: die Vorstandsvorsitzenden sollten mit Genuss ein »genehmigt« unter die Angebote setzen und sich am Rausch der einzig richtigen Entscheidung laben.

Marcello sorgte für die gänzliche Eliminierung von Dissonanzen, die einen Kunden aus seinem düsteren Unbewussten überfallen könnte. Er spürte förmlich Sekunden vorher, was der Ratsuchende wollte und wen er zu sprechen wünschte. Marcello produzierte Ratgefundene am laufenden Band, erfüllte Ratgefundene zudem mit tiefer Genugtuung. Sie stiegen in einen der sechs Fahrstühle, wurden emporgehoben in die zweiundzwanzigste Etage im Gefühl, König oder Königin für einen Tag zu sein.

An diesem Freitag jedoch erlebten seine Kollegen etwas nie Dagewesenes: Marcello verlor seine Fassung, verließ zum ersten Mal seinen Empfangsplatz, um einen Ratsuchenden, sagen wir es frei heraus, »eins in die Fresse zu hauen.«

Nichts aber auch gar nichts hatte auf diese Entgleisung hingedeutet, denn Freitage wie diese verliefen immer als Freitage wie diese, obwohl oder gerade weil es zwei Pitchs mit entsprechend hohem Publikumsverkehr am Nachmittag geben sollte.

Nur, wer Marcello länger kannte, sah den Unterschied zu einem normalen Freitag. Seine Kollegin Eva kannte den Unterschied.

»Hey Marcello, heute werden wir die neuen Anzugssommerkollektionen aus Mailand, London und New York zu Gesicht bekommen - ohne eine Schneider aufsuchen zu müssen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Die Krise verlängert die Tagesaison das habe ich schon nach dem elften September feststellen können. Lass uns wetten: Für jeden neuen Anzug bekommst du ein Extra-Teramisù in der Kantine, für jeden älteren bekomme ich einen Nachtisch.«

»Abgemacht. Nur leider werde ich gewinnen, denn gerade die Krise verlangt nach besonderen Maßnahmen und diese bestanden nun einmal darin, einen Schneider aufzusuchen.«

»Warten wir's ab.«

Marcello war sich seiner Sache todsicher, für den nächsten Monat Extra-Nachtisch zu gewinnen. Nichts hasste die Öffentlichkeit mehr als verschwenderische Manager, die sich selbst gerade in Notzeiten die Gehälter erhöhten und neue Anzüge zulegten. Diese Meute war heutzutage wesentlich cleverer und erhielt als Boni dann schon mal ein entzückendes Bungalöwchen auf den Seychellen. Marcello bereitete zumindest schon mal die Strichliste vor, um seinen Sieg zu dokumentieren.

Kunde Nummer eins war gleich ein Sieg. Outfit ganz klar von der Stange, und zwar von der Vorjahreskollektionsstange aus dem idyllischen Metzingen mit angeschlossenem Schnäppchenverkauf. Er selbst kaufte dort ein und schämte sich auch gleich dafür.

Nummer zwei zumindest von Schneider, aber auch Vorjahr. Und so ging es weiter und weiter, der Expresslift schaufelte Alt-Outfit um Alt-Outfit nach oben. Evas Laune verschlechterte sich im Sekundentakt, Marcello konnte sich an seinem Sieg aber kaum erfreuen.

Ein Traum von heute Mittag war ihm so deutlich vor Augen geblieben, dass ihn die Bilder bis hier in die Lobby verfolgten. Die Pförtner, eigentlich die Nachtpförtner, hatten ein Zimmer mit Bett, das sich auch wunderbar für ein Nickerchen am Tage eignete. Und dort hatte es Marcello überrascht.

»Ich bin ein Zwerg und kämpfe mich mit meinen kleinen Beinchen voran. Denn ich muss gehen und den Zug erreichen. Ich bin schon auf dem Bahnsteig, wohin fährt dieser Zug? Ist es mein Zug? Wie komme ich da hinein? Ah, da hinter. Ich versuche zu laufen, es geht nicht, ich rudere mit den Armen, es geht nicht schnell genug. Die Tür diese furchtbar alten Wagons knallt zu und ich bin mal gerade vier Meter vorangekommen. Er fährt ohne mich, schlimmer noch, mein Leben fährt mit diesem Zug davon!«

Bei diesen Bildern ging ein Stich durch Marcellos Herz, denn damals hatte er diesen Zug erreicht, das Fenster geöffnet und bei der Abfahrt seinen Eltern und Geschwistern auf dem Bahnsteig gewunken. Die Fahrt nach Deutschland, in das bessere Leben, hatte das Unglück seiner Familie mit großer Wucht getroffen. Seine Mutter war kurze Zeit später gestorben, zwei seiner Brüder verunglückt und sein Vater darüber verrückt geworden. Seine kleine Schwester kümmerte sich um den Vater, um das »bessere Leben« betrogen, das er, Marcello, hier in Deutschland nun seit über vierundvierzig Jahren führte.

Er war nie zurückgekehrt, hatte nur am Anfang geschrieben, niemals telefoniert und alle Briefe, die später kamen, ungeöffnet weggeworfen. In seinem Traum von heute Mittag kam das Gefühl, seine Familie verlassen zu haben, so deutlich zurück, das er nach dem Aufwachen zum ersten Mal in seinem Leben daran gedacht hatte, für seine Schandtaten zu büßen.

Jetzt stand er hier in seiner beschissenen Pförtnerloge, denn nichts anderes war das hier. Und sein Zorn richtete sich gegen die Kaste der Manager, die ihm das »bessere Leben« versprochen und dieses Versprechen nie eingelöst hatten.

Nummer 14, auf seiner Strichliste fanden sich unter »M.« bereits 11 Striche, hatte mit dieser geballten Aggression von Marcello nicht gerechnet. In der gewohnt arroganten Art hatte dieser »Top-Executive« eines Stromanbieters seine Visitenkarte hingepfeffert und seinen Ansprechpartner genannt. Ohne dabei Marcello auch nur eine Sekunde anzuschauen.

Und diese Ignoranz, die Marcello in Demutshaltung über vierzig Jahre ertragen hatte, genau dieser klitzekleine Tropfen Ignoranz ließ das Wutfass überlaufen und ergoss einen Schwall konzentrierten Hasses über Nummer 14. Der hatte den Griff an sein Jackett nicht kommen sehen und schaute nur überrascht, wie die bestickten Ösenknöpfe absprangen und über den Marmorfußboden in alle Richtungen davon rollten. Marcello hatte ihn mit einer Hand zu sich nach oben, sozusagen auf Augenhöhe, geholt, stierte ihn mit todbringenden Augen an. Nummer 14 verlor sogleich das Bewusstsein, erschlaffte ihn seinem Outfit, welches ironischerweise aus dieser Sommerkollektion stammte und Eva einen wertvollen Strich beschert hätte. Der Empfangschef ließ ihn sanft zu Boden gleiten, dreht sich um und sprach:»Es, … es tut mir leid. Kümmere dich um ihn.«

Eva traute zuerst ihren Augen und nun ihren Ohren nicht. Marcello, dieser Riese, hatte einen Kunden so knallhart angefasst, dass dieser nur durch Ohnmacht entkommen konnte. »Alles okay, Marcello, ich kümmere mich drum, klar.«

Und Marcello stürmte zur Garderobe, nahm seinen leichten Trenchcoat vom Haken und entschwand durch die mittlere Drehtür nach draußen. Aus den Augenwinkeln konnte er Geo Gadaa, den Productdesign-Director auf der anderen Seite der Tür gerade nach innen kommen sehen – wie immer zu spät. Marcellos Mitarbeiterausweis war kurz vorher noch über den Tresen seiner Kollegin Eva gesegelt, die nichts anderes tun konnte, um dieses, formal eher außergewöhnliche, Kündigungsschreiben zu akzeptieren und mit dem Eingangsstempel zu versehen.

Hätte die Levant-Corp. die Wirkung ihres Topproduktes Equinox auf dieser Art live miterleben können, sie hätten Kopf und Kragen riskiert, jedes einzelne Gramm zurückzuholen und in den tiefsten Stollen der Erde auf Nimmerwiedersehen endzulagern. Ungezügelte Aggressionen als Nebenwirkungen wären in der Zielgruppe das Todesurteil, denn nichts fürchteten Designer in der Szene mehr als die authentische Reaktion auf die eigene, hoffnungslose Lage.

Leider sollte die Levant Corp. noch mindestens achtzehn weitere Referenzwirkungen von Equinox kennen lernen und jeder einzelne auf der Führungsebene würde die Verantwortung für diese Wirkung auf Dr. h. c. Weinstein umleiten und sich »schadlos halten.«

Equinox Paradox

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