Читать книгу Equinox Paradox - Andreas Knierim - Страница 12

Оглавление

John

Chiara bekam den ersten Kopierkoller ihres Lebens. Sie konnte einfach keine Vorlagen mehr in diesen Automaten stecken und stapelweise Papierberge heraus zaubern – geheftet und sortiert. Schon längst las sie nicht mehr, was auf den Blättern stand, sie hatte das Interesse an den »schönen Dingen des Lebens« verloren. Das war also ihr Traumarbeitsplatz, den sie sich in der Schule immer wieder vorgestellt hatte. Sie wollte die Welt verändern, Botschaften für sinnvolle Produkte entwerfen, die der Menschheit dienen. Nur hatte diese Menschheit unzählige Farbkopien vor diese Traumerfüllung gehäuft. In der Zeitung hätte gestanden: »Übereinander gelegt, würden diese Papiere einmal um den Mars reichen.«

Einfach durch diese Stapel zu stampfen und ihren Weg zu gehen, konnte sie nicht mehr. Durchschwimmen war auch unmöglich, sie hatte kein Seepferdchen im Papierschwimmen. »Ich ersticke in Papier« dachte sie und hatte damit den Gedanken des Jahres im Studio-Score - ihre Bosse hatte genau dasselbe schon Millionen Mal gedacht.

Nach der Suppe am Mittag wurde es nicht besser. Sie zwang sich zum Essen, sie zwang sich zum Reden mit den Kollegen, sie zwang sich, wach zu bleiben und in das Elend der Arbeitswelt zu blicken. Dann ging sie einfach nach Hause. Um 15 Uhr! In den letzten drei Monaten hatte sie niemals um diese Zeit Feierabend gemacht. Auch jetzt war ihr zum Feiern nicht zumute.

Natürlich darf eine Drehbuchautor das Ein-Zimmer-Appartement der aufstrebenden Praktikantin ausführlich beschrieben, wohnen sollte man aber besser nicht darin. Als Chiara leider genau in diesem Appartement ankam, versank sie an ihrem Schreibtisch ins Mitleid, unterstützt durch ihr abendliches Heulritual, das sie diesmal praktischerweise auf den Nachmittag verlegte

»Nichts, nichts mehr zu machen«, dachte sie, »und nach Hause gehe ich schon mal gar nicht zurück.« Denn dort müsste sie Bericht erstatten, ihre Niederlage eingestehen und sich neue Leistungsideen für Zukunftsberufe von ihren Eltern anhören.

»No, Chiara, bleib' mit dem Kopf über dem Papier-Wasser, tritt gegen die Flut, bis aus der Suppe festes Pappmachée geworden ist und du oben auf dem Berg die Siegesfahne der befreiten Praktikantin hissen kannst.« So motivierte sie sich, es blieb ihr auch nicht anderes übrig. Zu Essen gab es bei ihr nichts, die ersehnten Liebhaber außer Reichweite und das Bett eben wie jeden Abend ein kalter Schlafplatz. Die letzten Arbeitsgesichter huschten noch in ihrem Geiste vorbei, dann reiste Chiara ins Reich der Träume.

»Eine schöne Straße ist das hier. Unser Viertel ist herrlich. Ich fühle mich hart und weich zugleich. Meine Härte als Mann, meine Weichheit in Gedanken. Wie schön: ich atme, ich bin frei. Die Autos strömen vor dem Dakota Building um mich herum, als ich aus dem Wagen aussteige. Das hier ist meine Traumstadt in meinem Traumleben. Aha, der Mann will was von mir. Ein Revolver, warum hat er einen Revolver? Ich spüre sanfte Stiche in meiner Lunge, an meinem Hals und in der Schulter. Es ist wunderbar, ich kann – wie lustig - das Revolver-Album sehen, meine Frau, mein Kind, alles vermischt sich und eine schöne Musik erklingt. I’m shot, I’m shot! Welch' Panik und welch' Wunder ist geschehen.«

Schweiß nass wachte Chiara auf ihrem Sofa auf, schaute in der festen Gewissheit auf ihren Bauch, dort ein Loch mit den bekannten CSI-Schmauchspuren besichtigen zu können. Nur: Da war nichts, obwohl sie fest daran glaubte, jetzt tot zu sein. So tot wie er vor seinem Wohnhaus in Manhattan, ermordet von Marc David Chapman, wie sich später herausstellen sollte.

Für Chiara wurde es eine aufregende Nacht.

»Was für ein schöner Tag. Was für ein schönes Auto. Jackie sieht so schön aus. Ich bin müde, ich habe ein komisches Gefühl. Nellie dreht sich zu mir um 'Mr. President, man kann nicht sagen, dass Dallas Sie nicht liebt'. Ich sage ihr 'Nein, das kann man ganz sicher nicht sagen“. Mein Kopf schmerzt auf einmal so.«

»Es ist so wunderbar, über mein gelobtes Land zu sprechen. Und von diesem Balkon auf all die Menschen zu schauen. Es ist wirklich so: Ich fürchte nichts und niemanden mehr, ich habe ein langes und erfülltes Leben. Warum brennt es so in meinem Bauch und warum kommt Jesse mit diesem furchtbaren Gesicht auf mich zugelaufen?«

»'Du dreckiges Kommunistenschwein'. Aha, der Mann scheint mich zu meinen. Und Pistolen hat er auch dabei. Und er schießt. Wann hört das eigentlich endlich mal auf? Jetzt muss ich mich ausruhen, ich muss mich hier hinlegen. Die Frau hält mich, das ist gut so. Danke, das ist gut so, das ist schön, schön.«

»Warum ist es plötzlich so kalt. Na ja, es ist Oktober, aber so kalt? Oh Gott, habe noch so viel zu schreiben. Ich muss jetzt aber wirklich schreiben. Nach Hause und schreiben. Es knallt so laut. Was ist denn das hier für ein Film? Und warum tut mir die Brust so weh? Und das ist jetzt Blut? Ne, ne, meine Aufgabe hier ist noch nicht beendet. Wirklich noch nicht.«

»Nein, nein« schrie Chiara immer wieder, wachte auf, war schweißnass in ihrem Pyjama und schlief wieder ein. Sie hatte immer wieder die schlimmsten und doch irgendwie schönen Schmerzen. Sie hörte die Schüsse noch nachklingen und konnte es kaum glauben, gerade jetzt nicht so tot zu sein wie John Lennon, JFK, Martin Luther Kind, Rudi Dutschke, Anna Politkowskaja ...

Equinox Paradox

Подняться наверх