Читать книгу Matura für alle - Andreas Pfister - Страница 10

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03 MEGATRENDS DER GEGENWART

Die Notwendigkeit einer neuen Bildungsoffensive ergibt sich massgeblich aus den steigenden Ansprüchen der Arbeitswelt. Diese betreffen nicht nur die Hochqualifizierten, sondern auch die Berufslehre: die Automatikerin, den Laboranten, die Bauökologin. Die Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft verlangt auf allen Ebenen nach mehr schulischer Bildung. Zum einen braucht es mehr Akademiker, zum anderen braucht es mehr Schule innerhalb der Lehre. Die Vertreter der Berufslehre nennen als Megatrends der Gegenwart unter anderem Globalisierung, Digitalisierung, Dienstleistungsgesellschaft, Upskilling, demografischer Wandel und Migration sowie Ressourcenknappheit beim Staat.1 Gefragt sind Fähigkeiten wie komplexe Probleme lösen, kritisches Denken, Kreativität, eigene Ideen generieren.2 Das heisst nun weder, dass alle studieren müssen, noch, dass die Lehre ausstirbt. Es heisst im Gegenteil, dass man unser Bildungssystem jenseits von ideologischen Grabenkämpfen weiterentwickeln kann – genau so, wie wir das immer schon getan haben.

HOHER INTERNATIONALISIERUNGSGRAD

Die Schweiz ist ein hochentwickeltes Land und weist einen hohen Internationalisierungsgrad auf. Nicht nur, was den Handel,3 sondern auch, was das Personal angeht. Die Wirtschaft rekrutiert ihre Fachkräfte zunehmend weltweit.4

Auch in der Bildung ist es nicht mehr möglich, mit der bisherigen Selbstverständlichkeit einen schweizerischen Sonderweg zu gehen. Es gibt in der Schweiz zunehmend internationale Firmen, die mit den Besonderheiten des hiesigen Bildungssystems nicht vertraut sind. Zum Problem kann das unter anderem dann werden, wenn ausländische Personalchefs Schweizer Abschlüsse aus der Berufslehre nicht kennen oder für minderwertig halten und lieber ausländisches Personal mit akademischen Abschlüssen einstellen. Umgekehrt besteht das Problem, dass Abschlüsse der Schweizer Berufsbildung im Ausland teilweise weder bekannt noch anerkannt sind. Seitens der Berufslehre will man diesem Problem insbesondere mit Informationskampagnen begegnen, zum Teil auch mit Umbenennungen der Schweizer Abschlüsse.

Ein Vorstoss, die höhere Berufsbildung mit neuen, dem Bologna-System entlehnten Titeln wie «Professional Bachelor» und «Professional Master»5 aufzuwerten, wurde vom Nationalrat angenommen, vom Ständerat aber abgelehnt. Eine Mehrheit will in der Berufsbildung keine akademisch klingenden Titel. Die Titelfrage entzweit die höhere Berufsbildung und die Fachhochschulen, und sie wird auch die Politik weiterhin beschäftigen.

Die Hoffnung, Informationskampagnen würden ausreichen, muss als reichlich optimistisch angesehen werden. Die Entscheidungsträger sind in diesem Fall zunehmend internationale Personalchefs. Das schönste Berufsbildungssystem bringt wenig, wenn es den Weg in internationale Top-Positionen erschwert. Angesichts der Kräfteverhältnisse ist ein gesunder Realismus gefragt bzw. eine pragmatische Bescheidenheit, die zu unserem Kleinstaat passt. Nicht zu unterschätzen ist die kulturelle Verankerung von Bildungswegen und -abschlüssen. Natürlich können ausländische Personalchefs informiert werden über unsere Schweizer Abschlüsse. Doch von der Information bis zur eigentlichen Verinnerlichung, Vertrautheit und Wertschätzung ist es ein weiter Weg. Im Zweifelsfalle ist davon auszugehen, dass ein HR-Manager nach seinem Bauchgefühl und seinen Emotionen urteilt. Und diese dürften eher dazu führen, dass er Leute mit vertrauten Ausbildungen und Titeln einstellt.

DIGITALISIERUNG, STRUKTURWANDEL, UPSKILLING

Ein weiterer Megatrend ist die allgegenwärtige Digitalisierung.6 Sie wird besonders in schlecht bezahlten Jobs als Bedrohung wahrgenommen.7 Im Alltag zeigt sich das zum Beispiel im langsamen Verschwinden der Verkäuferinnen und Verkäufer in den Supermärkten. Die Digitalisierung verändert die Produktionsweisen, Abläufe, Tätigkeiten und Anforderungen an die ArbeiterInnen.

Der Strukturwandel kommt als weiterer Megatrend hinzu. Der Dienstleistungssektor wächst. Auch das betrifft die Bildung, zumal die Berufslehre. Sie ist nicht nur, aber vor allem im Gewerbe und in der Industrie stark.8 Durch den technologischen Fortschritt nehmen hochbezahlte Berufe zu, niedrig entlohnte nehmen ab. In der neuen gesellschaftlichen Mittelklasse wuchs bis 2016 der Anteil Manager, Techniker und Experten an den Erwerbstätigen auf 48 Prozent. Gleichzeitig fiel jener der Industriearbeiter und Handwerker auf 16 Prozent, jener von Bürohilfskräften auf 8 Prozent.9 Die Dynamik, mit der sich die Arbeitswelt verändert, führt zu Ängsten um den Job.

Die Veränderungen haben eine gemeinsame Stossrichtung: Es sind Fortschrittsbewegungen, welche die Arbeit komplexer, dynamischer und anspruchsvoller machen. Das hat Auswirkungen auf die Bildung: Die Bildung muss auf ein höheres Niveau gehoben werden. Beliebte Beispiele, die das illustrieren, sind etwa der Wandel vom Automechaniker zum Automechatroniker, der über Informatikkenntnisse verfügen muss. Oder der Heizungstechniker, der nicht mehr bloss Rohre zusammenschraubt, sondern komplexe Systeme für Gebäude programmiert.10

Unternehmen verlangen zunehmend nach hochqualifizierten Fachkräften. Seitens der Berufsbildung setzt man deshalb auf Fachhochschulen, die höhere Berufsbildung und die Durchlässigkeit hin zum akademischen Weg. Die Kampagne berufsbildungplus.ch ist ein Beispiel dafür. «Lerne Kauffrau, werde Marketingleiterin», heisst es, oder «Lerne Coiffeur, werde Biologe». Allerdings ist diese Message zwiespältig:11 Welche Funktion hat die Lehre noch, wenn sie nur noch «Steigbügelhalter» ist und das Ziel eben nicht Coiffeur ist, sondern Biologe?

Höhere Qualifikation führt zu mehr Abstraktionsvermögen und Flexibilität. Ziel ist die Fähigkeit, spezifisches Wissen und Können innerhalb eines einzelnen Berufs auch auf andere Felder transferieren zu können. Die mit höherer Bildung zunehmende Fähigkeit zur Reflexion und Übertragung erlaubt und vereinfacht es, von einer spezifischen Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln und Modernisierungsschritte mitmachen zu können. Als besonders schwierig erweist sich das einmal mehr bei den Tiefqualifizierten.12 Um sie nicht abzuhängen, braucht es höhere Bildung.

Die allgegenwärtige Rede von steigenden Anforderungen, Beschleunigung und Technisierung weckt Ängste, besonders bei wenig Qualifizierten und älteren Arbeitnehmern. Wie sollen ungelernte Fabrikarbeiter plötzlich zu Computerspezialisten werden? Das Mantra von den unendlichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten erweist sich mitunter als naiv. Nicht jedes Problem älterer Arbeitnehmer lässt sich mit spätem Drücken der Schulbank lösen. Insbesondere dann nicht, wenn die notwendige Grundbildung fehlt. Deshalb ist es fahrlässig, wenn man heute den Jugendlichen vorgaukelt, es sei nie zu spät.13 Weiterbildung kann die Grundbildung nicht ersetzen. Deshalb ist es auch unsinnig, lebenslanges Lernen gegen eine Erhöhung der Maturitätsquote auszuspielen.

Es braucht beides: Sowohl ein solides Fundament in der Jugend als auch später einen kontinuierlichen Aus- und Weiterbau. Nach der Grundbildung sind im Leben eines jungen Erwachsenen ganz andere Themen am Start: Mitte zwanzig geht’s irgendwann los mit Karriere, Familiengründung, Vermögensaufbau. Wer da noch mit dem verspäteten Nachtragen seiner Grundbildung beschäftigt ist, gerät ins Hintertreffen gegenüber seinen gleichaltrigen Kollegen mit ihrem Startvorsprung durch Gymnasium und Universität.

ZU DUMM FÜR DIE ZUKUNFT? DAS REAL-MADRID-SYNDROM

Was braucht es, um auch künftig in einem hochentwickelten Land nicht nur mithalten, sondern auch mitgestalten zu können? Können wir das überhaupt? Oder müssen wir davon ausgehen, dass eine so anspruchsvolle Wirtschaftswelt den Grossteil der Bevölkerung überfordert? Fehlt uns das nötige Hinterland, um die Nachfrage nach Hochqualifizierten zu decken? Oder um es kurz zu machen: Sind wir zu dumm für die Zukunft?

Man hat in diesem Zusammenhang auch vom «Real-Madrid-Syndrom»14 gesprochen. So warfen zum Beispiel Basler Uni-Assistenten der Schweizer Bildungspolitik vor, sie ziehe es vor, wie Real Madrid Stars aus aller Welt einzukaufen, anstatt den eigenen Nachwuchs besser zu fördern. Die OECD ihrerseits fordert von der Schweiz eine weitere Öffnung der Grenzen für Hochqualifizierte.15 Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, müsse die Einwanderung Hochqualifizierter aus Nicht-EU-Staaten erleichtert werden. Zudem empfiehlt die OECD, das Potential der Frauen vermehrt auszuschöpfen durch Steuerreformen und eine bessere Finanzierung der familienergänzenden Betreuung.16 Es ist nicht ohne Ironie, wie derzeit die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, eine alte Forderung der Linken, Schützenhilfe erhält aus der Wirtschaft.17

Können wir als SchweizerInnen mithalten mit der internationalen Spitze? Oder sollen wir uns auf den Standpunkt stellen, spätestens an der ETH spiele das Passbüchlein keine Rolle mehr?18 Dass die ETH international attraktiv und erfolgreich agiert, dass sie viele ForscherInnen und StudentInnen anzieht, ist grandios. Trotzdem ist die Frage nach der Herkunft nicht einfach egal. Eine Art Heimatschutz wäre auf diesem Niveau nicht das Richtige. Wir müssen unsere Studierenden nicht protegieren, sondern fördern. Also mit gezielten Massnahmen dazu befähigen, auf dem internationalen Niveau mithalten zu können. Wir wollen mit unseren Hochschulen an die internationale Spitze. Wir wollen aber auch Nachwuchsförderung. Die Universitäten haben einen doppelten Auftrag: die schon im Namen enthaltene Universalität, daneben die lokale Verpflichtung der einheimischen Bevölkerung gegenüber.

Die Frage nach dem Ausländeranteil an den Universitäten ist alt und hoch emotional.19 Auf keinen Fall soll bei der Forderung nach einer Matura für alle in die Kerbe jener gehauen werden, die mit dumpfem Bashing etwa gegen deutsche ProfessorInnen an Schweizer Unis zu Felde ziehen. Das Ziel heisst nicht Protektionismus, sondern Wettbewerbsfähigkeit. Wir möchten weiterhin mitspielen auf diesem Feld – nicht nur zuschauen. Die ETH darf die Anzahl ausländischer Studierender beschränken. Sie darf auch höhere Studiengebühren von ihnen verlangen. Bisher hat die ETH von beiden Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht. Das ist eine mutige Zurückhaltung, denn wir wollen uns nicht abschotten. Im Gegenteil, wir haben die besten Voraussetzungen, um uns der internationalen Konkurrenz zu stellen.

HERAUSFORDERUNGEN DER ZUKUNFT

Die Ansprüche einer Hochleistungsgesellschaft sind für unser Land eine Chance. Wenn wir uns mit Bildung die nötigen Voraussetzungen geben, sind wir vorbereitet. Angst und Wut lösen die Anforderungen nur aus, wenn uns die nötige Bildung fehlt. Darum: Nein, wir sind nicht zu dumm für die Zukunft. Aber wir brauchen mehr Bildung. Mehr Zeit, eine längere Ausbildungsdauer, ein höheres Niveau. Dass man künftig für einen Job eine akademische Bildung braucht, wird nicht die Ausnahme bleiben, sondern zur Regel werden. Dank der Matura für alle werden mehr Leute ein höheres Niveau erreichen. Dank Bildung gestalten wir die künftige Welt mit, auf höchstem Niveau. Das war schon immer und ist weiterhin Schweizer Qualität.

Die Arbeitswelt stellt uns laufend vor neue Fakten. Sie fragt nicht danach, welche Maturitätsquote wir für angemessen halten. Sie konfrontiert uns schlicht mit einer neuen Welt, in der neue Regeln gelten. Gegenwärtig hinkt die Bildung den Anforderungen der Wirtschaft hinterher und bessert mehr oder weniger improvisiert immer dort nach, wo es gerade am dringendsten ist. Das ist ein Gebastel und einer Bildungsnation wie der unseren unwürdig. Die Bildungspolitik muss eine eigenständige Bildungsstrategie entwickeln und verfolgen. Die Maturität für alle wäre ein wesentlicher und sinnvoller Bestandteil dieser Strategie.

Matura für alle

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