Читать книгу Matura für alle - Andreas Pfister - Страница 8

Оглавление
01 61,9 – VON DER SCHULPFLICHT ZUR MATURITÄTSPFLICHT

Dieses Buch plädiert für eine Matura für alle. Damit ist gemeint, dass alle Jugendlichen in der Schweiz einen der drei Maturitätstypen erlangen, die wir heute kennen: die gymnasiale Maturität, die Berufsmaturität oder die Fachmaturität. Gegenwärtig ist das Erlangen dieser Maturitätstypen freiwillig. Das soll sich ändern. Die Schulpflicht soll neu eine der drei Maturitäten beinhalten. Damit wird die obligatorische Schulzeit bis zum 18. Lebensjahr verlängert.

Das heisst nicht, dass alle ans Gymnasium müssen. Es heisst auch nicht, dass man bis 18 in die Schule muss. Der Schulbesuch kann weiterhin an der Berufsschule und während der Lehre stattfinden.

Der Vorschlag einer Matura für alle folgt drei Grundsätzen: Erstens soll die gymnasiale Maturaquote erhöht werden. Es sollen und können mehr Jugendliche in diesem Land eine gymnasiale Maturität erlangen – und zwar unter Beibehaltung des bisherigen Niveaus. Zweitens soll die Berufsmaturität nicht länger einem kleinen Anteil von Lehrlingen vorbehalten sein, sondern flächendeckend für alle Lehrlinge eingeführt werden. Für Lehrlinge mit besonderen Bedürfnissen braucht es wie bisher besondere Lösungen. Drittens soll daneben die jetzt noch recht schmale Fachmaturität ausgebaut werden.

Diese Grundsätze stärken beide Bildungswege, sowohl das Gymnasium als auch die Lehre.1 Die generelle Maturitätspflicht soll auch dazu beitragen, die Kluft zwischen den Bildungswegen zu verkleinern.

38.1 Prozent aller Jugendlichen in der Schweiz haben im Jahr 2016 die Maturität erlangt. 20.2 Prozent die gymnasiale Maturität, 15.1 Prozent die Berufsmaturität und 2.9 Prozent die Fachmaturität.2 Die anderen 61,9 Prozent haben keine Maturität. Dies, obwohl sie das genau gleiche Recht auf Bildung haben und obwohl die Anforderungen des Arbeitsmarkts auch für sie steigen. Mit der Maturapflicht für alle wird das Bildungsniveau in der Schweiz generell angehoben. Dabei werden die drei verschiedenen Maturitätstypen beibehalten. Die Unterschiede in der Ausrichtung und dem Niveau des jeweiligen Maturitätstyps bleiben bestehen. Für die Berufs- und Fachmaturität kann eine Binnendifferenzierung eingeführt werden, zum Beispiel in ein Niveau A und ein Niveau B, analog zur Sekundarstufe I.

Warum fordere ich eine Matura für alle? Bildung hat einen Eigenwert, Bildung im humanistischen Sinn ist für den Menschen da. Sie ist und vermittelt eine Kultur, die wir unseren Kindern weitergeben wollen. Eine neue Bildungsoffensive soll mithelfen, unsere Jugendlichen besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Die Maturapflicht ist eine Pflicht für den Staat, für die Jugendlichen aber eine Chance. Sie sollen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und ihres Elternhauses teilhaben an Bildung.

WAS TUN?

Eine verlängerte Schulpflicht schlägt man nicht leichtfertig vor. Der Ausbau des Schulobligatoriums in der heute noch nachobligatorischen Schulzeit ist ein Eingriff in die bisherige Wahlfreiheit. Wenn dieses Buch trotzdem eine Maturapflicht vorschlägt, dann im Dienste jener Wahlfreiheit, zu der erst eine ausgebaute Schulpflicht befähigt. Die Schul-bzw. Maturitätspflicht ist höher zu werten als die vermeintliche Freiheit, nach elf Jahren nur noch einen Tag pro Woche in die Schule zu müssen. Die Unfreiheit, die sich aus mangelnder Bildung ergibt, verschärft sich mit den wachsenden Anforderungen der Arbeitswelt und der schleichenden Erosion der Chancengerechtigkeit.

Immer wieder stösst man auf die alte Frage: Was kann man tun für mehr Chancengerechtigkeit? Alle, die wollen, können bei entsprechenden Leistungen an höherer Bildung teilhaben. Zwingen jedoch kann man niemanden. Das sprichwörtliche «Zwingen zum Glück» ist allen zuwider. Aber das mit dem Wollen ist so eine Sache. Das wussten die Gründer der Volksschule vor rund zweihundert Jahren nur zu gut. Aus diesem Grund gibt es heute nicht nur eine Schulchance, sondern eine Schulpflicht. Der Schritt zur Maturitätspflicht stellt darum in seiner Stossrichtung nichts Neues dar. Er steht in einer ehrenwerten Tradition: der Tradition der Schulpflicht. Neu soll diese vom 15. bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt werden. Wie die Schulpflicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist, soll dies auch die Maturitätspflicht werden. Als Fortsetzung dieser Tradition will der Vorschlag einer Matura für alle eine Erneuerung, und zwar auf dem Weg, den wir längst eingeschlagen haben.

WO LIEGT DAS PROBLEM?

Erst-August- und andere Reden betonen unverdrossen die Notwendigkeit von Bildung für den Wohlstand der Schweiz.3 Doch im Bildungswesen weht heute ein rauer Wind. Bildungsexpansionen sind einem Bildungsabbau gewichen. Bildungs- und Eliten-Bashing ist beliebt. Belächelt werden Bildungsinhalte, die angeblich nichts nützen: Literatur, Kunst und Kultur, Mathematik, die nicht direkt anwendbar ist. Dass es zum Wesen von Kultur gehört, im engeren Sinn nichts zu nützen,4 davon will man nichts hören.

Doch der angebliche Gegensatz von Schule und Wirtschaft, von humanistischer Bildung und Entfremdung in der Fabrik, ist hochgradig konstruiert. Ob zu Zeiten Humboldts, während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts – es waren nie Idealismus und Humanismus allein, welche die Bildung förderten. Immer war die Wirtschaft ganz entscheidend mitbeteiligt an den jeweiligen Bildungsexpansionen. Der Unterschied zu früher liegt darin, dass der Bildung heute die Unterstützung aus der Wirtschaft wegbricht. Es ist leichter geworden, hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. Damit wird die Dringlichkeit geschmälert, den inländischen Nachwuchs zu bilden.

Nicht selten stösst der Vorschlag einer neuerlichen Bildungsexpansion auf Verwunderung. Die Berufsbildung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Wo also liegt das Problem? Gerade in der Schweiz mit ihren durchlässigen Bildungswegen! Hat sich nicht alles längst in Minne gelöst?5 Man verweist auf all die Möglichkeiten, sich später weiter und höher zu bilden, und hält es offenbar für richtig, bei der Grundbildung beim Status quo zu bleiben. Obwohl dieser historisch gewachsen ist, sieht man sich an einer Art Endpunkt angelangt, von dem aus keine weiteren Verbesserungen möglich sind. Das Bildungspotential der Bevölkerung gilt für viele als ausgeschöpft,6 jede Erweiterung der Bildung stellt für sie eine Senkung des Niveaus und eine Inflation der Titel dar.

UMFRAGEN UND SCHLAGZEILEN

Verschiedene Umfragen versuchen, die Meinung der Bevölkerung zum Thema zu eruieren. Ob solche Umfragen sinnvoll sind in einer Bevölkerung, die mehrheitlich keine Maturität gemacht hat, ist fraglich. Trotzdem sei hier die Umfrage der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF erwähnt.7 Befragt hat man Ende 2015 6 000 Schweizerinnen und Schweizer zur gymnasialen Maturitätsquote. Auf die Frage «Was denken Sie über die Anzahl gymnasialer Maturanden?» antworten 54 Prozent: «Es sind zu viele.» 40 Prozent halten die Anzahl für gerade richtig. Nur 6 Prozent finden, es gebe zu wenige. Werden die Befragten über die tatsächliche Maturitätsquote informiert, finden sie noch 45 Prozent zu hoch. Für ebenfalls 45 Prozent ist sie dann gerade richtig und für 10 Prozent zu niedrig.

Triumphierend wird in verschiedenen Medien die Mehrheit zitiert,8 für die es zu viele Gymnasiasten gibt. Dabei wäre bemerkenswert, dass eine Mehrheit die gymnasiale Maturitätsquote als richtig oder zu niedrig einstuft, wenn man weiss, wie hoch sie ist. Auch Akademiker sind überwiegend der Meinung, es gebe zu viele Gymnasiasten. Nur 8 Prozent von ihnen wünschen sich eine höhere Akademikerquote.

Ein ähnliches Umfrageergebnis macht 2016 die Runde: Dort finden 59 Prozent der Befragten, es gebe in der Schweiz zu viele Maturanden im Verhältnis zu den Lehrlingen.9 Als Schlagzeile fungiert das Zitat eines Politikers: «Schon heute fehlen uns Elektriker oder Bäcker.» Der zitierte Nationalrat schiebt nach: «Gleichzeitig gibt es immer mehr Akademiker, die keinen Job finden.» Nicht in die Schlagzeile schafft es eine andere Politikerin: «Es gibt mit Sicherheit nicht zu viele Gymnasiasten. Sonst würde die Schweiz ja nicht gezwungen sein, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen.»

Ist der Einsatz für höhere gymnasiale Maturitäts- und Akademikerquoten ein Kampf gegen Windmühlen? Eins wird jedenfalls deutlich: Trotz der allgegenwärtigen Diskussion um den Fachkräftemangel und die Einwanderung von Hochqualifizierten bleibt man in der Schweiz dabei: Man will nicht mehr Akademiker. Man setzt hierzulande auf den dualen Weg, auf die Fachhochschulen und die höhere Berufsbildung.

Dass gymnasiale Bildung in bildungsfernen Milieus in Frage gestellt wird, kann man ein Stück weit nachvollziehen. Weshalb sollten sie einen Bildungsweg wertschätzen, wenn sie nicht daran teilhaben? Die Bereitschaft, ein Bildungssystem öffentlich zu finanzieren, funktioniert nur so lange, wie es sein Versprechen einlöst, für alle da zu sein. Aber genau das ist trotz aller Bildungsexpansionen nicht wirklich eingetreten. Noch immer studieren vor allem jene, deren Eltern ebenfalls studiert haben. Die soziale Mobilität ist zwar auf dem Papier gewährleistet, doch in der Realität funktioniert sie schlecht. Die Milieus bleiben unter sich, man geht sich mehr oder weniger höflich aus dem Weg. Wer dereinst studieren wird und wer nicht, das regeln nach wie vor überindividuelle Mechanismen, an die man in einer modernen Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht gern erinnert wird.

Matura für alle

Подняться наверх