Читать книгу Matura für alle - Andreas Pfister - Страница 9

Оглавление
02 DUALE BESONDERHEITEN

Der Vorschlag einer Matura für alle berücksichtigt das gewachsene Schweizer Bildungssystem und knüpft daran an. So lässt sich die bisherige Berufsmaturität im Nachhinein als – sehr erfolgreichen – Anfang mit Freiwilligen lesen, der jetzt auf alle anderen übertragen werden soll.

Die drei heute bestehenden Maturitätstypen lassen sich vom schulischen Niveau her grob auf zwei Stufen verteilen: Auf der oberen Stufe steht die gymnasiale Maturität, auf der unteren stehen die Berufs- und die Fachmaturität. Dieser Niveauunterschied soll nicht eingeebnet werden. Er bleibt auch im jeweiligen Namen ersichtlich.

Auch mit einer Matura für alle werden in der Schweiz nicht alle Jugendlichen die gleiche Schule durchlaufen. Und es werden nicht alle den gleichen Abschluss machen. Kinder und Jugendliche sind unterschiedlich, und sie werden im Laufe ihrer Schulzeit immer unterschiedlicher. Diesem Umstand soll die Bildung Rechnung tragen. Deshalb soll es nicht eine einzige Maturität für alle geben, sondern drei.

VARIANTEN UND ANSCHLÜSSE

Die Matura für alle ist ein Vorschlag, dessen konkrete Ausgestaltung verschiedene Formen annehmen kann. Die einfachste Variante ist die Erweiterung der bestehenden Maturitätsformen. Als Richtwert kann man je von einem Drittel ausgehen: ein Drittel gymnasiale Maturität, ein Drittel Berufsmaturität, ein Drittel Fachmaturität. 10 Prozent der Jugendlichen erhalten eine Sonderförderung. Innerhalb der einzelnen Maturitätstypen muss sich nicht viel ändern. Die GymnasiastInnen besuchen weiterhin vollzeitlich die Schule, ganz wie die FachmittelschülerInnen. Die BerufsmittelschülerInnen können wie bisher wählen zwischen BM1 und BM2. Noch flexiblere Modelle sind derzeit in Entstehung.1

Gegenwärtig besuchen die Lehrlinge im System BM1 während zwei Tagen die Berufsschule. Im Modell BM2 gehen sie nur einen Tag hin und hängen ein Jahr Schule an die Lehre an. Das System BM2 ist meist sinnvoller, weil dabei die Doppelbelastung von Schule und Lehre im Rahmen bleibt. Man setzt daher besser auf das System BM2 und entwickelt dieses weiter.

Als weitere Variante könnte eine BM3 eingeführt werden. Das Schuljahr, das im Modell BM2 am Ende der Lehre absolviert wird, kann, weil es künftig alle absolvieren, auch am Anfang der Lehre stehen. Einiges spricht dafür, gerade in wissensbasierten Berufen. Viele Lehrlinge benötigen zuerst eine theoretische Grundlage, um darauf aufbauend das Praktische erlernen und anwenden zu können. Mit der Variante BM3 wäre es auch denkbar, das erste Jahr gemeinsam mit anderen Maturitätstypen zu absolvieren. Der Entscheid für eine Lehre oder das Gymnasium könnte so nach hinten verschoben werden. Es kann hier eine zusätzliche Flexibilität und Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen geschaffen werden. Diese Variante hat bisher wenig Beifall gefunden.2 Trotzdem erwägt das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, einzelne Kantone in Form von Pilotversuchen damit starten zu lassen.

Die praktische Bildung könnte auch erst auf tertiärer Stufe erfolgen. Einen Vorschlag für eine Lehre auf tertiärer Ebene hat 2010 Avenir Suisse unterbreitet.3 Die Lehre erst auf tertiärer Stufe beginnen zu lassen, bietet den Vorteil, dass noch grössere Durchlässigkeit zwischen den Maturitätstypen geschaffen wird, dass der Entscheid zwischen Lehre (auf tertiärer Stufe) und akademischem Weg noch später gefällt wird. Der Nachteil liegt darin, dass praktisch begabte und interessierte Jugendliche lange warten müssen, bis sie arbeiten können.

BERUFSMATURITÄT A UND B

Für die Berufs- und Fachmaturität bietet sich eine Binnendifferenzierung an, so wie wir das heute auf der Sekundarstufe I kennen. Das heisst, man kann eine nach Niveau abgestufte Berufsmaturität A oder B erlangen. Das ergibt eine doppelte Abstufung: die erste zwischen der gymnasialen Maturität einerseits, der Berufs- und Fachmaturität andererseits. Die zweite innerhalb der Berufs- bzw. Fachmaturität.

GYMNASIALE MATURITÄT
BERUFSMATURITÄT,FACHMATURITÄT NIVEAU A
NIVEAU B

Die Matura für alle hält fest an der Leistungs- und Wettbewerbsorientierung der Bildung. Dabei sucht sie die Balance zwischen Differenzierung und Integration. Das Konzept einer Matura für alle ist nicht das einer Einheitsschule. Für die Sekundarstufe I, manchmal auch II, werden immer wieder integrierte Modelle gefordert.4 So verlangt man zum Beispiel, das Gymnasium einer Einheitsschule zu opfern. Dagegen ist einzuwenden, dass das Schweizer Bildungssystem nicht nur der Chancengerechtigkeit verpflichtet ist, sondern auch der Leistung und Exzellenz. Wir wollen beides: sowohl Leistung als auch Chancengerechtigkeit. Aktuelle Reformen auf der Sekundarstufe I arbeiten weiterhin an dieser Vereinbarkeit. Vielleicht können progressive Mischformen eine Weiterentwicklung der hier vorgeschlagenen Matura für alle darstellen. Jedenfalls soll die Tür zu integrierten Modellen offenbleiben.

Heute sieht die Gesellschaft die Maturität als eine Art Gütesiegel, um schulisch Starke auszuzeichnen. In der Primarschule ist der soziale Gedanke, Kinder nicht mit dem Stempel «Sonderschüler» auszugrenzen, weitgehend Realität geworden. Auf diesen Fortschritt sind wir stolz.

Von der Sekundarstufe II hingegen wird nicht Integration, sondern Differenzierung erwartet. Besonders auffällig ist dabei, dass dieser Wechsel als natürlich, logisch oder normal empfunden wird, gemäss der Idee: Solange sie Kinder sind, sollen sie alle zusammen zur Schule. Je älter sie werden, desto stärker unterscheiden sie sich.

Auf der Sekundarstufe II wird nicht von der Gefahr gesprochen, jemand könnte «nur» als Lehrling abgestempelt werden. Die Wertschätzung der Lehre als angebliche kulturelle Eigenart unseres Landes – was sie nicht ist – trägt dazu bei, dass man nicht befürchtet, mit «nur» einer Berufslehre diskriminiert zu werden. Solange die Berufslehre weit verbreitet ist, wird ihr Wert auch geschätzt.

LEISTUNGSUNTERSCHIEDE BEI LEHRLINGEN

BerufsmaturandInnen haben beim Abschluss bereits eine Berufsausbildung. Es ist möglich, auch ohne Studium direkt in die Arbeitswelt einzusteigen. Kein Studium aufzunehmen nach der Berufsmaturität, ist zwar nicht das Ziel, doch es muss nicht zwingend einen Verlust darstellen. Schon jetzt ist es so, dass weniger BerufsmaturandInnen ein Studium an einer Fachhochschule aufnehmen als GymnasiastInnen, die ein Studium an einer universitären Hochschule beginnen. Zwar ist dies angesichts des gegenwärtigen Mangels an Hochqualifizierten bedauerlich. Trotzdem muss eine Berufsmatura für alle nicht eine Fachhochschule für alle nach sich ziehen. Das ist keine verlorene Bildungsinvestition. Die jungen LehrabgängerInnen nehmen einen gut gefüllten Bildungsrucksack mit ins Leben, vielleicht ohne zu wissen, wann genau sie ihn brauchen werden.

Der Unterschied zwischen einem schulisch starken Berufsmaturanden und einem jungen Immigranten, der noch kaum Deutsch kann, soll nicht in Abrede gestellt werden. Niemand behauptet, das Anheben des allgemeinen Bildungsniveaus sei einfach. Das braucht eine Menge Ressourcen und zusätzliche Mittel. Die teilweise hohen Durchfallquoten in bestimmten Branchen sind ein ernst zu nehmendes Problem. Schon heute fragt es sich, wie die Lernenden auf das erforderliche Niveau gebracht werden sollen. Wenn dieses künftig weiter steigt, besteht die Gefahr, eine wachsende Gruppe von Leuten zurückzulassen. Dieses Problem lässt sich nicht einfach lösen. Doch grundsätzlich kann man dieser Gefahr nur durch einen Ausbau der schulischen Bildung begegnen.

Um mit den grösseren Niveauunterschieden in einer neuen, allgemeinen Berufsmaturität umzugehen, kann man Modelle aus der Volksschule übertragen. Eine weitere Möglichkeit neben Niveaustufen sind Leistungskurse. Die Binnendifferenzierung innerhalb einzelner Fächer ist dem Gymnasium nicht fremd. Beispielsweise in der Romandie hat eine Unterteilung des Fachs Mathematik in zwei Niveaustufen eine lange Tradition.

Es stellt sich die Frage, ob die neue Berufsmaturität B, die man auch praktische Maturität nennen kann, ebenfalls zum Studium an einer Fachhochschule berechtigen soll. Es gibt Gründe dafür und dagegen. Dagegen spricht, dass der Studienerfolg weniger sicher ist als mit einer Berufsmaturität A. Dafür spricht, dass LehrabgängerInnen mit einer Berufsmaturität B auf der tertiären Stufe eine neue Chance erhalten sollen. Auch einseitige Begabungen können besser zum Tragen kommen. Deshalb soll im Sinne von mehr Chancen auch die Berufsmaturiät B die Möglichkeit bieten, an einer Fachhochschule zu studieren.

Matura für alle

Подняться наверх