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NICHT WOLLEN KÖNNEN

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Derzeit versuchen Bildungspolitik und Wirtschaftsverbände, die Berufsmaturitätsquote zu erhöhen – auch, indem man die gymnasiale Matura plafoniert. Man lanciert Kampagnen wie «berufsbildungplus.ch»6. Die Absicht ist deklariert:7 Man will die Anzahl der Berufsmaturitätsabschlüsse steigern – ohne Qualitätseinbussen.

Wir haben ein System, das mehr Leute fördern möchte, trotzdem nutzen es nicht alle. Wir haben Aufnahmeprüfungen, die nicht auf die soziale Herkunft, sondern auf die Leistung abstellen, trotzdem schaffen es die Bildungsfernen nicht. Das System ist gerecht – und trotzdem produziert es Ungerechtigkeit.

Diesen Befund kann man unterschiedlich böse interpretieren. Man kann die Chancengerechtigkeit rundweg zur Illusion erklären. Man kann sogar einen Schritt weiter gehen und dem Bürgertum eine perfide Strategie unterstellen: Es legitimiere seine Bildungsprivilegien, indem es nicht auf Geburt, sondern auf Leistung abstellt. Und zwar im Wissen darum, dass ihm die sozial tieferen Klassen die Studienplätze nicht streitig machen. Warum nicht? Weil Menschen nicht so funktionieren. Kinder sagen nicht mit elf Jahren: «Ich möchte ans Gymnasium gehen, um später nicht wie meine Eltern als Chauffeur und Putzfrau arbeiten zu müssen.» Kinder sagen, wenn schon: «Was hast du gegen Chauffeure? Mein Vater ist der beste Chauffeur von allen, und ich will einmal genau so werden wie er.»

Chancengerechtigkeit ist eine sehr theoretische Angelegenheit. Man präsentiert Bildungsfernen eine Chance, die diese gar nicht wahrnehmen können. Es ist unmöglich, obwohl es möglich wäre. Dann stellt man sich im Bürgertum verwundert die Frage, warum Bildungsferne nicht ans Gymnasium kommen. Man hält das System für gerecht genug und nimmt sich nicht die Zeit, eine Schicht tiefer zu graben. Denn dort würde man den Grund entdecken: Bildungsferne können gar nicht wollen.

Unbekümmert argumentiert man mit dem angeblich freien Willen. Die wollen gar nicht ans Gymi, die wollen in eine Lehre, heisst es. Damit scheint das Problem vordergründig gelöst. Alle sind glücklich. Diejenigen, die ans Gymi wollen, dürfen hingehen. Und die anderen, die nicht wollen, müssen nicht. Was kann man sich mehr wünschen?

In Wirklichkeit ist das Wollen immer auch ein Produkt von externen Faktoren: Elternhaus, Peergroup, soziale Schicht. Ein Bildungssystem, das von diesen Faktoren abstrahiert und allen Jugendlichen die gleiche Chance bietet, mag auf den ersten Blick gerecht erscheinen. Auf den zweiten Blick wird ersichtlich, dass man dieses System wunderbar missbrauchen kann, wenn man weiss, wie es funktioniert.

Das kann Akademikereltern in eine ungemütliche Situation bringen. Ihre Situation erinnert ans Gefangenendilemma: Wer aussteigt, hat verloren. Zwar ist allen klar, dass der gegenwärtige Run aufs Gymnasium Blödsinn ist – pädagogisch, moralisch, sozial. Aber was will man tun? Nicht mitmachen – auf Kosten der eigenen Kinder? Was sich ändern muss, sind nicht die Eltern. Ändern muss sich das System.

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