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3.2 Die andere Funktion moralischer Äußerungen

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Für dieses Andere sind [[Drei klassische Ansätze]] drei Ansätze klassisch geworden: Der von Alfred Jules Ayer (1910-1989), Charles Leslie Stevenson (1908-1979) und Richard Mervyn Hare (1919-2002). Nach Ayer tun wir mit unseren moralischen Aussagen, Urteilen und Überlegungen nur kund, dass wir gegenüber Lügen, Abtreibung, Ehebruch ... eine ablehnende und gegenüber Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Freigebigkeit ... eine billigende Haltung haben. Ihre illokutionäre Rolle ist die der Expression. Nach Stevenson sind moralische Äußerungen komplexer. Die Beeinflussung findet nicht nur durch reines Ausdrücken einer Haltung statt, sondern durch die Erklärung einer Einstellung und die Forderung an ein Gegenüber, ebenfalls diese Einstellung einzunehmen. Moralische Äußerungen sind also deklarativ und imperativisch zugleich, wenn man ihre Illokution präzise erfasst. Nach Hare sind moralische Urteile ebenfalls Befehle, aber universale Imperative, die Ausdruck einer Entscheidung für allgemeine Regeln sind. Die Ansätze müssen ein wenig mehr expliziert werden.

Eine eingehende Analyse der Sprache der Moral und unserer ethischen Diskussionen führt [[1. Ayer: „booh! and hurrah!“]] Ayer zu der Auffassung, dass unsere ethischen Begriffe Pseudobegriffe sind. (Vgl. Wellmann 1968.) Sie fügen unseren Aussagen nichts Bedeutungsvolles hinzu. Wenn man sagt: „Du tatest Unrecht, als Du das Geld stahlst!“, dann bedeutet der Satz nichts mehr als: „Du hast Geld gestohlen“ — der Rest ist bedeutungslos. Mit ihm geben wir vielmehr nur zum Ausdruck, dass wir als Personen „igitt!“ oder „booh!“ zu einer Handlung des Stehlens „sagen,“ weil wir beim Stehlen eine Emotion des Missbilligens empfinden. Umgekehrt geben wir beim [< 48] Loben nur „hurrah!“ und eine Emotion des Billigens zum Ausdruck. Man nennt Ayers Ansatz daher auch „booh-and-hurrah“-Theorie. „Booh“ und „hurrah“ sind jedoch keine Worte mit Bedeutung (das heißt keine Worte mit Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit) und daher auch nicht im Rahmen einer Ethik analysierbar und definierbar. Die Ethik analysiert und definiert „gut“ dann zwar beispielsweise durch „gut bedeutet lustvoll,“ ob man aber Lust empfindet, ist keine ethische, sondern eine Faktenfrage beziehungsweise eine der Psychologie. Und „gut“ ist kein Wort mit Bedeutung — es verweist lediglich auf eine Emotion des Billigens. Die „Begriffe“ der Moral sind nach Ayer daher nichts anderes als primitive [[Emotikons]] Emotikons, wie wir sie in einer SMS verwenden. (Ayer 1936, S. 102 ff., Stevenson 1937, Mackie 1981, S. 13.)

Emotionen, die in moralischen Wertungen zum Ausdruck kommen, können zwar wissenschaftlich untersucht werden, aber nicht von der Ethik, sondern von der Psychologie. Möglicherweise könnte man diesen Hinweis auch noch um die Soziologie, die vergleichende Kulturwissenschaft und andere Disziplinen erweitern, wenn man akzeptiert, dass keine der Wissenschaften als normativ verstanden werden darf. Normativ sind die Moral und die Ethik – und da moralische Sätze keine Bedeutung haben, da sie nicht auf ihre Geltung hin überprüft werden können, sind sie keine Wissenschaften, schlussfolgert Ayer.

Der Ansatz Ayers ist aber noch nicht ausreichend klar skizziert, da das Moment der [[Wie beeinflussen Emotikons?]] Beeinflussung anderer durch moralische Aussagen noch nicht erfasst ist. Wir argumentieren für oder gegen das Stehlen, weil wir andere dazu bewegen wollen, zu stehlen oder es zu unterlassen. Ayer integriert diesen Punkt in seinen Ansatz, indem er anerkennt, dass „booh!“ und „hurrah!“ nicht nur ein Billigen und Missbilligen zum Ausdruck bringen, sondern auch beim Adressaten die gleichen Empfindungen erzeugen sollen. Die Sprache der Moral ist also non-kognitiv, weil sie keine wahren oder falschen Aussagen hervorbringt, sie dient [[Ayer: Emotionen erzeugen Emotionen (Infektion)]] aber dazu Emotionen zu übertragen. Ihre perlokutionäre Rolle ist die Infektion anderer mit Emotionen. So revisionär der Ansatz erscheinen mag, dieser Punkt ist gar nicht so unplausibel: Wenn jemand traurig ist, oder sich freut, dann übertragen sich die Emotionen unter geeigneten Bedingungen durchaus auch auf andere.

Und wenn man Freunde in moralischen Fragen um Rat fragt, dann gibt es ähnliche Phänomene: So kann ein junges Paar gelernt haben, dass Verhütung gegen den Willen Gottes ist und dadurch in Gewissenskonflikte kommen. Freunde mit anderen Eltern oder anderen Erfahrungen werden möglicherweise um Rat gefragt und bringen eine Billigung des Verhütens zum Ausdruck, die sie mit Argumenten untermauern, die für das Paar unverständlich sind, weil sie von ihren Eltern gelernt haben, [< 49] anders zu denken. Nun ist zum einen der Rat von guten Freunden für uns oft etwas, was uns in unserem Handeln beeinflusst, ohne dass wir genau verstehen, was sie mit ihrem Rat meinen, oder mit ihrem Beispiel, das sie uns geben, darstellen. So [[Moral als wechselseitige Ansteckung]] könnten die Freunde des Pärchens dieses mit ihren in argumentativer Form artikulierten Emotionen „anstecken“ und zur Nutzung von Verhütungsmitteln motivieren.

Eine konstruktive Deutung des Non-Kognitivismus verweist uns auf einen Mangel in fast allen modernen Ethikansätzen: Die [[Autorität]] Autorität von Personen und Freundschaft zu Personen sind neben Vernunftgründen wichtige Momente der moralischen Beeinflussung und sollten somit in der Ethik Berücksichtigung finden. Die Ethik hat diesen Aspekt der moralischen Erfahrung zu artikulieren und seine begründungstheoretische Bedeutung zu philosophisch zu deuten. Dass ein guter Freund uns etwas empfiehlt, ist ein Argument für uns. In der Antike waren die Moralpsychologie und die Rhetorik Teil der philosophischen Ethik. An dem obigen Beispiel zeigt sich, dass die Gewissensbisse des verliebten Paares möglicherweise von nichts anderem abhängen, als davon, bestimmte Eltern zu haben, oder in einer bestimmten Kultur zu leben. Betrachtet man alle Kulturen, findet man für jede Billigung und jede Missbilligung Beispiele. Gewissensbisse sollte man also besser wissenschaftlich erklären (Psychologie, Soziologie, Ethnologie ...) als mit auf Wahrheit oder Falschheit nicht überprüfbaren Pseudogründen zu rechtfertigen oder zu kritisieren.

In diesem Sinne haben [[Stevenson und Hare: Moral als Befehlen]] Stevenson und Hare Ayers Ansatz modifiziert. Stevenson ersetzt in seiner Theorie die Emotionen des Billigens und Missbilligens durch Einstellungen von Personen. Hare ersetzt Emotionen durch Entscheidungen (decision) von Personen für allgemeine Regeln (universale Normen). (Vgl. Hare 1997, Teil 1.) [[Einstellungen oder Entscheidungen]] Einstellungen und Entscheidungen haben gegenüber Emotionen durchaus Vorteile. Emotionen hat man, oder man hat sie nicht. Darüber kann man kaum intersubjektiv streiten. Einstellungen (zum Beispiel Vorurteile über Frauen, Menschen anderer Herkunft und so weiter) sind komplex und können auf ihre Bedeutung hin befragt und diskutiert werden. Entscheidungen sind zwar willkürlich (deshalb charakterisiert man Hares Ansatz als Dezisionismus), aber sie können einander beispielsweise widersprechen und ebenfalls auf empirischer und logischer Basis diskutiert werden. Hare und Stevenson können so Elemente des Streites integrieren, ohne den Boden des Non-Kognitivismus zu verlassen: Sie führen keine moralischen Bedeutung unserer Begriffe ein.

Einstellungen und Entscheidungen haben jedoch einen großen Nachteil. Es ist verständlich, dass sich Emotionen von Personen auf andere Personen übertragen können, wenn sie in der geeigneten Weise und in den geeigneten Umständen zum Ausdruck kommen. Wie aber soll das [< 50] mit Einstellungen und Entscheidungen gelingen? (Kognitivisten übertragen sie von einer Person auf eine andere durch Argumente, die für sie gemeinschaftlich als verständlich gelten dürfen.) [[Befehl]] Die beiden Philosophen vertreten daher eine komplexere Version des Non-Kognitivismus und müssen deshalb für das Moment der Beeinflussung einen Ersatz finden: den Befehl. Wir bringen in unserer moralischen Sprache e zum Ausdruck (wobei e Einstellungen oder Entscheidungen sind) und befehlen uns selbst und anderen dieselben e zu haben. Wenn jemand bestimmte Einstellungen hat, oder sich für Regeln entschieden hat, dann ist empirisch erforschbar, wie sie unsere Handlungen tatsächlich beeinflussen. Denn wie beeinflussen Befehle intersubjektiv?

Die Theorien von Stevenson und Hare sind umfangreich und komplex. Hier sollen nur zwei Dinge weiter geführt werden: Einerseits muss man sich fragen, warum Befehle sich als Übertragungsmechanismus eignen – für Emotionen erschien dies relativ plausibel. Andererseits sollte man verstehen, warum die beiden Philosophen mit Einstellungen und Entscheidungen andere psychische Vorkommnisse wählen als Emotionen.

Dass [[Wie verursachen Befehle Moral?]] Befehle das Handeln zu beeinflussen vermögen, ist an sich kein Problem. Der General befiehlt dem Offizier und dieser dem Soldaten und so marschiert die Armee ins Feld. Im Experiment von Stanley Milgram befiehlt ein Wissenschaftler im weißen Kittel einigen Personen, andere Personen zu foltern. Bei Soldaten wirken Befehle, weil sie Teile einer Hierarchie von Autoritäten sind. Der Wissenschaftler im Milgram-Experiment, aber auch unsere Ärzte treffen ohne eine solche institutionalisierte Hierarchie Anordnungen und wir folgen ihren Befehlen in der Regel relativ unreflektiert. Das ist verständlich, weil wir Wissenschaftlern aufgrund ihrer Expertise eine natürliche von legitimierenden Institutionen unabhängige Autorität zuschreiben. (Vgl. Schmidt 2011, Kap. 1.)

Aber in der Moral versucht jeder jeden mittels seiner jeweiligen Autorität zu beeinflussen. Warum sollten Befehle als Sprechakte hier performativ aufgrund ihrer perlokutionären Rolle [[Befehle wirken?]] Wirkungen haben? Es ist schon betont worden, dass viele Personen eine natürliche Autorität haben. Und man sollte auch nicht unterschätzen, dass der Akt des Befehlens selbst eine gewisse Autorität hat. Vielleicht können sogar Kunstwerke (also Situationen) uns im Sinne einer „kausalen Wirkung“ befehlen, bestimmte Dinge (Gehorche keinem!) zu denken und zu reflektieren. Non-Kognitivisten müssen eine Phänomenologie und Theorie des Befehls entwickeln.

[[Einstellungen befehlen]] Stevenson und Hare ersetzen in ihrer Theorie das Konzept der Emotion durch Einstellungen bzw. Entscheidungen, weil das moralische[< 51]Leben zu komplex ist, um auf einer Emotion zu beruhen, die nur „Daumen hoch“ und „Daumen runter“ bedeuten kann. Ayers Position des Emotivismus beruht auf einer Emotion, durch die Personen sich billigend oder missbilligend zu bestimmten Dingen verhalten. Eine Einstellung ist hingegen komplexer. Man kann zum Beispiel die Einstellung haben, dass Frauen die Kinder erziehen sollen und deshalb nicht studieren sollten. Eine solche Person wird auf Studentinnen ablehnend reagieren und ihnen durch moralische Ablehnung befehlen, ihre Einstellung zu teilen. (Die Studentin wird natürlich mit vergleichbaren, aber gegensätzlichen Befehlen reagieren.) Einstellungen von Personen zu diesen Dingen sind komplex, weil sie beispielsweise Vorstellungen über die Geschlechterdifferenz und gesellschaftliche Strukturen enthalten, über die man diskutieren und wissenschaftlich streiten kann. Man könnte so etwa die These vertreten, dass Kinder eher bei Männern gut aufgehoben sind und deshalb die Mütter studieren sollten. Über derartige Dinge kann man sinnvoll streiten, man kann sie empirisch überprüfen. Ein bloßes Billigen oder Missbilligen, wie Ayer es formuliert, entzieht sich hingegen der Diskussion.

In der Ethik spielen [[Normen befehlen]] Normen eine Rolle, für die ein gewisser Grad an Allgemeinheit charakteristisch ist. Personen entscheiden sich nach Hare für solche Regeln ihres Handelns und befehlen anderen Personen, sich für dieselben Regeln zu entscheiden. Allgemeine Regeln eröffnen dann aber subjektive Spielräume im Detail. Wenn jedoch mit einer Einstellung im Sinne Stevensons das Frauenbild einer Person gemeint ist, dann umfasst diese Einstellung sowohl allgemeine Prinzipien als auch sehr spezifische auf die Situation oder einzelne Personen bezogene Prinzipien, die handlungsrelevant sind. Und der Befehl soll die ganze Einstellung auf eine andere Person übertragen. Hierin liegt ein Rigorismus von Stevenson, den nur wenige Moralisten teilen. Wenn es, nach Hare, nur um die Übertragung von allgemeinen Prinzipien geht, dann wird die Geltungskraft der Moral dünner. Individuelle und kulturelle Spielräume werden für moralische Argumente unzugänglich. (Williams 1988.)

Stevenson will mehr Aspekte unserer Alltagsmoral in den Rahmen einer non-kognitivistischen Ethik integrieren, als Ayers Ansatz es vermag. Er verwendet komplexere [[Deutung der drei Positionen]] Emoticons: Einstellungen sind intern komplexe Vorstellungen, die man explizieren kann und über die man sinnvoll streiten kann, weil sie beispielsweise Voraussetzungen haben. Unterschiedliche Befehle und Normen können in Widerspruch zueinander stehen. Dadurch werden mehr Aspekte unseres Streitens über Moral im Rahmen des Non-Kognitivismus verständlich. Sein Ansatz hat jedoch illiberale Tendenzen, weil die Beeinflussung zu weitgehend die Einstellungen von Personen kontrolliert. Jemandem Einstellungen zu befeh-[< 52]len, transportiert möglicherweise sehr spezifische Vorstellungen in ihn. Demgegenüber greift Hare Stevensons Kritik an Ayer auf, vermeidet aber die rigoristischen Konsequenzen, weil allgemeine und universale Normen schon einen Standpunkt der Unparteilichkeit transportieren. (Nagel 1988.)

Einführung in die Philosophische Ethik

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