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3.3 Indirekte Begründungen

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Es gibt also ein Argument für den Non-Kognitivismus (Dissens), zwei ihn unterstützende und klärende Hintergrundtheorien (Hume, Sprachphilosophie) und eine wichtige Einsicht in non-kognitivistische Aspekte ethischer Begründung des moralischen Lebens (moralische Infektion durch Autorität).

Man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass wir vom moralischen Diskurs zwei Dinge nur mit Einschränkungen erwarten dürfen: [[Dissens erwarten!]] Konsens und Überzeugung durch Argumente. Dissens scheint irreduzibel zu sein. Die politische Idee der Gleichheit schafft einen sozialen Raum, der letztlich in seinem Kernbereich hedonistisch verstanden werden muss. Deutet man Pluralität normativ als Pluralismus, das heißt die gleichberechtigte Geltung verschiedener Normen, darf man auch in moralischen Fragen voneinander keinen Konsens erwarten. Leider leiten Non-Kognitivisten diese Schlussfolgerung nur für die philosophische Ethik selbst her und delegieren ihre Leistungen an die Naturwissenschaften. Unter Naturwissenschaften verstehen sie verkürzend die Suche nach universalen (mathematisch beschreibbaren) Gesetzen für eine wert- und normfreie empirische Wirklichkeit. Wissenschaft in diesem Sinne kennt keinen Streit, sondern allenfalls offene Fragen (Projekte). Insofern bleiben die Non-Kognitivisten deskriptiv dem monistischen Konsensziel der rationalistischen Ethiken verhaftet (Deontologie, Utilitarismus). Als Ethik des metaethischen Schlichtens gedeutet hat der Non-Kognitivismus zwar eine liberalisierende Tendenz, er bleibt aber einem anti-pluralistischen Geltungskonzept verhaftet. (Wellmann 1968.)

Doch man sollte beachten, dass der moralische Dissens zugleich auch ein Argument gegen den Non-Kognitivismus liefert. Man sollte zwar, wenn rationales [[Streit: das Faktum, sein Charakter]] Streiten der Normalzustand in sozialen Kontext ist, innehalten und nach Indizien dafür suchen, ob es uns eigentlich um etwas ganz anderes geht als um gute aber divergierende Gründe für unsere Auffassungen. Insofern stellt das Faktum des Dissenses ein Argument für den Non-Kognitivismus dar. Dennoch scheint der Charakter des Dissenses ebenso ausschließlich rational zu sein: Wer eine wohlbegründete Moral nicht als bloßes Machtinstrument gegen Abweichler missbraucht, sondern am Gegenüber interessiert ist, wird über die[< 53]Dinge reden. Man wird trotzdem Argumente austauschen. Dies läuft auf die These hinaus: Moralischer Dissens bedarf keiner metaethischen Schlichtung, sondern einer pluralistischen und [[Schlichtung vs. Lösung]] kreativen Lösung.

Und selbst Emotivisten müssen anerkennen, dass wir zumindest manchmal unsere Emotionen unmittelbar verändern, indem wir sie rational zu verstehen suchen, sie deuten und klären. Ein Beispiel macht das deutlich. Die erste Frage von Eltern bei schmerzverzerrt weinenden Kindern ist: Wo tut es weh? Wie tut es weh? Warum tut es weh? Die [[Die Artikulation von Emotionen „wirkt“]] Artikulation dient (auch, aber) nicht nur der Ablenkung: Sie verändert Emotionen unmittelbar. Sie lindert den Schmerz, sie beruhigt den Dissens. Wenn jemand die Gründe artikuliert für eine Position, die man selbst missbilligt, kann das Verstehen zu einer gewissen Achtung führen. Es ist eine unmittelbare Reaktion (Reflex) in der ästhetischen Erfahrung im Sinne eines konkreten Erlebnisses, dieses zu artikulieren. Man wird daher, wenn moralische Emotionen gegeneinander stehen, Gründe explizieren, Thesen abwägen, Konzepte definieren und nach Vernunft suchen. Das Faktum des irreduziblen Streites spricht also für den Non-Kognitivismus, sein Charakter aber ebenso irreduzibel gegen ihn. Non-Kognitivisten haben eine naturalistische Psychologie vor Augen (Behaviorismus), deren theoretischer Rahmen gegenüber der antiken Rhetorik und der Bandbreite der modernen Psychologie verarmt ist.

[[direkt begründen]] Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass man den Emotivismus auch konstruktiv als Begründungstheorie lesen kann. Denn zu sagen, dass man moralische Urteile nicht rational artikulieren und verstehen kann, heißt nicht, dass sie nicht moralisch begründbar sind. Rationalistische Begründungskonzepte reduzieren Begründung in der Ethik auf direkte Begründung: So führt man Gründe an, warum ein Urteil über moralische Dinge zutreffend ist. Und diese Gründe sind dann für jedes vernünftige Wesen beachtenswerte und vielleicht auch ausschlaggebende Gründe, sich in seinem Denken und Handeln gemäß diesem Urteil zu verhalten. Das Handeln wird direkt durch die rationalen Gründe beeinflusst, allein deswegen weil sie Gründe sind, die rationale Wesen verstehen können.

[[indirekt begründen]] Hume und die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts wenden sich gegen eine solche Reduktion des Begründungsbegriffes. Wenn wir uns als Moralisten verstehen, wollen wir andere Personen beeinflussen. Wir wollen, dass sie „vernünftiger“ werden. Damit meinen wir aber nicht notwendig (und nach Meinung der Non-Kognitivisten niemals), dass sie unsere Gründe akzeptieren sollen. Vielmehr meinen wir, dass sie von uns auch durch etwas anderes als Gründe zur Handlungsänderung bewegt werden sollen. Solche „Nicht-Gründe“ (beispielsweise Ursachen) sind psychologischer, soziologischer, historischer ... auf jeden Fall aber[< 54] empirischer und kontingenter Natur. [[normative „Kausalität:“ Historische Erfahrung]] Manche dieser kausalen Nicht-Gründe haben normative Kräfte. Denn sie sind Ausdruck der positiven oder negativen Tendenzen historischer Erfahrungsprozesse.

Ein Beispiel für solche Nicht-Gründe ist die Rechtswidrigkeit der Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung seit 1949 in Deutschland. (Vgl. Hare 1992, S. 209.) Bis 2009 war homosexuellen Paaren jedoch noch zumindest teilweise die Ehe versagt (verstanden als rechtliche Solidargemeinschaft wechselseitiger materieller Absicherung). Dass die Richter ihre ständige Rechtsprechung änderten, bedeutet, dass vorher und nachher andere Argumente als die für ihre Entscheidung ausschlaggebenden zu gelten haben. Die normativen Grundlagen für die Begründung von Urteilen haben sich aber nicht geändert. Das Grundgesetz war diesbezüglich eindeutig und blieb unverändert. Diskriminierung ist verboten, heißt es im Grundgesetz. Und die Ehe genießt einen besonderen Schutz. (Im Grundgesetz steht aber nichts davon, dass in der Ehe zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts untrennbar verbunden sein sollen.)

Vor einem Zeitpunkt ist also der Ausschluss von homosexuellen Paaren von der Ehe keine Diskriminierung, nachher darf niemand mehr durch die Verweigerung wechselseitiger materieller Absicherung diskriminiert werden (beispielsweise als Erbe eines Lebenspartners). Wodurch kommt die Änderung zustande? Nicht die Argumente selbst oder ihre Geltungskraft, sondern die Richter als Personen und die Gesellschaft können sich entweder mit der homosexuellen Ehe [[sich anfreunden können mit etwas]] anfreunden oder nicht. Vielleicht ist dies keine naturwissenschaftliche Tatsache im Sinne der Non-Kognitivisten, aber für die Begründung der gesellschaftlichen Prozesse sind dies geltungstheoretisch relevante Tatsachen. Sie sind in dem Sinne natürlich, dass sie unumgehbar sind und sich Respekt erzwingen lässt. [[kontingent konstitutive Realität der Moral]] Die Moral hat eine kontingent konstitutive Realität, die auf uns „bildend“ wirkt: Sie infiziert uns mit Emotionen, Einstellungen und Entscheidungen selbst dann, wenn — glücklicherweise — immer einige wenige immun sind gegen den Moralvirus.

Man kann allerdings die Vernunft in der Ethik nicht einfach [[Revision = wegphilosophieren?]] wegphilosopieren. Dass der Non-Kognitivismus einigen Philosophen als Option erscheint, liegt auch an zwei Hintergrundtheorien, die keine Argumente für ihn liefern, aber seinen Erfolg unterstützt haben. Die eine ist der Humeanismus in der Erkenntnistheorie: Er legt eine Unterscheidung von vernünftiger Erkenntnis und motivationalen Veränderungen nahe. Da es in der Ethik um Beeinflussung von Handelnden geht, spielt die Vernunft für Humeaner keine zentrale Rolle bei Begründungsfragen. Denn Vernunftgründe vermögen nach Hume nicht (das unterscheidet seine Position von Kant) zu motivieren. Die andere Stütze ist das Paradigma der modernen, wertfreien Naturwissenschaften. Sie setzten an die Stel[< 55]le von Gründen für das Richtige, Gute und Angemessene im Handeln Erklärungen. Die Begründungsfrage wird zur Erklärungsfrage: Wertfragen kann man nicht klären (bei ihnen ist der Streit das Normale), Sachfragen hingegen schon (hier gibt es allenfalls unabgeschlossene Projekte). Moralische Sachfragen kann man nämlich dadurch klären, dass die Psychologie, die Soziologie und andere empirisch-deskriptiv zu verstehende Wissenschaften erklären, wie Emotionen entstehen und sich verändern.

Non-Kognitivisten verabschieden die philosophische Ethik, weil mit ihr methodisch kein Konsens möglich sei, halten aber mit dem Ideal der Sachfragen abschließend klärenden Naturwissenschaft an einem Konsensmodell fest, das für unsere Lebenswelt unplausibel ist. Universale Naturgesetze sind in ihrer vielschichtigen nicht-kontingenten Geltungskraft [[Totalitarismus]] totalitär, wenn man sie metaphorisch auf die vielfältige und kreative Welt der Moral überträgt.

Eine wichtige Einsicht des Non-Kognitivismus [[Was bleibt?]] bleibt allerdings: Eine an Gründen orientierte Vernunft oder Rationalität – also: der Kognitivismus, gleich nach welchem Modell – greifen zu kurz. In der Ethik sind indirekte Begründungen, also Gründe, die unsere Vernunft und die Rationalität umgehen, wichtig — sogar meist ausschlaggebend. Wenn die Moral unser Handeln beeinflussen soll, kann sie es nicht nur durch das Verstehen von objektiven Gründen tun, sondern auch auf anderem Wege. Emotionen und Befehle im Kontext non-kognitivistischer Meta-Ethiken deuten solche indirekten Begründungen an, die Wege unmittelbarer (= vorreflexiver) Beeinflussung von Handelnden sind. Sie erklären das Gute, Richtige und Angemessene im Handeln nicht nur (naturwissenschaftlich), sie rechtfertigen es auch: Dass ich dies oder das, hier und jetzt in diesem Sinne oder jenem Sinne billige oder nicht, ist auch ein respektabler Grund (insofern bleibt der Hedonismus die default position moderner Ethik).

Fragen und Anregungen

 Informieren Sie sich über Streitschlichtung und ihre Prinzipien. Unterscheiden Sie kognitive von nicht-kognitiven Aspekten der Streitschlichtung.

 Warum ist Dissens in der Moral ein Problem? (Arbeiten Sie die problematischen Aspekte heraus und relativieren Sie sie anschließend.)

 Skizzieren Sie mit wenigen Sätzen den Non-Kognitivismus.

 Wenn wir über moralische Urteile streiten, sind diese Urteile nicht begründbar. Bedeutet das auch, dass sie nicht kritisierbar sind? [< 56] Überlegen Sie sich, wie man am Non-Kognitivismus festhalten kann und dennoch moralische Urteile kritisieren kann.

 Arbeiten Sie heraus, inwiefern der Non-Kognitivismus revisionär ist. Was ist an einem solchen Revisionismus positiv? Was erscheint Ihnen problematisch?

Lektüreempfehlungen

 Ayer, Alfred Jules: Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970. Stevenson, Charles Leslie: Ethics and Language, New Haven 1944. Hare, Richard Mervyn: Die Sprache der Moral, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1997. Diese drei Autoren sind aus systematischer Perspektive die kanonische Vertreter des Non-Kognitivismus.

 Stevenson, Charles Leslie: Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke, in: Seminar, Sprache und Ethik, hrsg. v. Günther Grewendorf, Frankfurt am Main 1974, 100-115. Dieser Text führt das Konzept der „emotiven Bedeutung“ ein, der eine wichtig Grundlage einer non-kognitivistischen Begründungstheorie ist.

 Wellman, Carl: Emotivism and Ethical Objectivity, in: American Philosophical Quarterly 5, 2, 1968, 90-99. Eine Zusammenfassung begründungstheoretischer Thesen des Emotivismus findet man hier.

 Werte in den Wissenschaften, hrsg. v. Gerhard Zecha, Tübingen 2006. In dem Band werden die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Non-Kognitivismus diskutiert, kritisiert und in ihrer Wirkung in den Anwendungswissenschaften (Soziologie, Psychologie, Pädagogik) verfolgt.

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Einführung in die Philosophische Ethik

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