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1.2 Epistemische Probleme

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Auf die Frage nach dem Glück gibt es eine bestechende – ebenso einfache wie problematische – Antwort: den Hedonismus (von griechisch hedone = Lust). (Gosling 1969, Kap. 1.) Diese philosophische Antwort bezieht ihre Berechtigung aus der Tatsache, dass wir manchmal „glücklich“ sind und manchmal „unglücklich.“ Jedem leuchtet unmittelbar ein, warum er das eine in seinem Handeln meidet und das andere erstrebt. Es bedarf anscheinend keiner besonderen Erläuterung. Diese Antwort ist im epistemischen Sinne [[Hedonismus epistemisch und subjektiv]] subjektiv. Sie ist epistemisch, weil sie voraussetzt, dass man Wissen (von griechisch episteme) über das Glück aufgrund eines psychischen Erlebnisses gewinnt: Lust. Lusterlebnisse sind aber insofern subjektiv, als der wertende Charakter, aus dem das Erstreben des Glücklichseins plausibel wird, nur dem Lust erlebenden Subjekt direkt zugänglich ist: Lustempfindungen sind angenehm und daher erstrebenswert. (Gosling 1969, Kap. 3, 10.) Der Hedonismus entwickelt daraus eine Theorie: Wertvoll wird etwas nur als Lust. Niemand kann die Lust eines anderen empfinden und es ist plausibel, dass man durch Lustempfindungen eine Vorstellung vom Glück gewinnt. Der Hedonismus monopolisiert die Lust als Prinzip der Ethik im Sinne des glücksverwirklichenden Lebensziels, das wir in jeder unserer Handlungen erstreben: Lust ist, wenn es um Glück geht, ein moralisch dominantes Erkenntnisvermögen; Vernunft ist dann nachgeordnet.

An welches [[Das Lusterlebnis]] Lusterlebnis auch immer man denkt, Lust ist ein Erlebnis, das (1) in sich geschlossen ist, (2) einen bestimmten Inhalt hat und (3) sich positiv anfühlt. (Unlustgefühle unterscheiden sich hiervon nur in 3: sie fühlen sich negativ an.) Einzelne Lusterlebnisse beginnen mit der Empfindung von Lust und gehen mit ihr zugrunde. Lüste fühlen sich jeweils irgendwie anders an. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie positiv wertende Gefühle darstellen. Psychische Erlebnisse sind aber nur von kurzer Dauer. Das Leben als Ganzes ist so gesehen ebenso wenig ein einziges (Lust-)Erlebnis (vgl. 1) wie es der Gegenstand eines einzigen (Lust-)Erlebnisses (vgl. 2) sein könnte.[< 12]

Handlungstheoretisch sieht der Hedonist das [[Lust als Ziel des Handelns]] Ziel unserer Handlungen in der Lust, nicht wie Aristoteles im Glück. (Aristoteles 2011, 7.11-14, 10.1-5.) Hierdurch werden die Absichten, die man verfolgt (z. B. satt werden, irgendwo hingehen, etwas herstellen) zu Mitteln zur Verwirklichung von Lusterlebnissen. Einerseits zerfällt das Glück des Lebens für den Hedonisten in viele einzelne Lusterlebnisse, während es für Aristoteles eine umfassende Einheit darstellt. Andererseits glaubt der Hedonist, nur dann glücklich sein zu können, wenn die Mittel, mit denen er nach Lusterlebnissen strebt, für die Lustvermehrung angemessen sind; für Aristoteles scheint das Glück dagegen eine moralische Dimension zu haben. Der Hedonismus sieht die Moral in der Anhäufung von in sich positiven Erlebnisqualitäten. – Allerdings ist er quantitativ und qualitativ inkonsistent. (Gosling 1969, Kap. 2.)

Wenn man sich das Leben menschlicher Personen als eine Aufeinanderfolge von einzelnen Lust- und Unlustgefühlen denkt, bietet sich eine umfassende „Lebensglückskalkulation“ an. (Bentham 2013, bes. Kap. 3-5, Bradley 1876, Kap. 3.) Man könnte die Lust [[Quantitative Inkonsistenz]] aggregieren , indem man die einzelnen Lusterlebnisse zählt und eine Summe bildet, von der man dann die Summe der Unlusterlebnisse abzieht. (Von lateinisch aggregare = „anhäufen,“ beigesellen, etwas in eine Herde einreihen.) Man kann auch einen entsprechenden Lust/Unlust-Quotienten bilden. In der Bilanz ergibt sich dann eine mehr oder weniger positive Bewertung des Lebens. Eine solche Betrachtung zieht eine Reihe von Schwierigkeiten nach sich — die wichtigste ist:

Das Lebensglück eines Lebens wäre als wertvoller zu bewerten, wenn seine Lustbilanz besser ist. Doch die Bilanzsumme, in der die einzelnen Erlebnisse zusammen gefasst werden, ist selber kein Lusterlebnis in dem oben definierten Sinne. In der Summe verschmelzen die einzelnen Lusterlebnisse nicht zu einem umfassenden (auf das ganze Leben bezogenen) Lusterlebnis, das dann selbst als Lebenserlebnis Grundlage einer Bewertung („besser“) des Lebens sein könnte. Der Grund ist, dass unser Leben kein möglicher Gegenstand einer in sich geschlossenen evaluativen Erfahrung sein kann.

Nach welchem Kriterium können wir aber die Lustbilanz als Summe der Erlebnisse bewerten? Welches Kriterium auch immer in Frage kommt, es muss aus hedonistischer Sicht [[Abstrakte Bewertungskriterien]] abstrakt sein (von lateinisch abstrahere = wegziehen, loslösen): Es muss losgelöst und somit unabhängig von einzelnen Lusterlebnissen sein. Epistemisch benötigen wir also eine „abstrakte“ Quelle für die Bewertung eines Lebens, wenn wir wissen wollen, ob es glücksverwirklichend ist. Damit ist nicht gesagt, dass es keine gültigen Bilanzsummen geben könne. Vielmehr ist nur die These begründet, dass es keine auf das Leben als Ganzes (und einzelner [< 13] relativ ausgedehnter Phasen) bezogene hedonistische Bewertung gibt. Wenn man sein Leben „Revue passieren lässt,“ betrachtet man diese Revue möglicherweise lust- oder unlustvoll. Sie ist ein anderer Gegenstand als das Leben, das man als mehr oder weniger glücklich bewerten möchte. Bei einer Revue sind wir weniger infallibel, weniger eindeutig wertend und weniger alternativlos, weil uns die unmittelbare Autorität eines Lusterlebnisses fehlt.

Das Kalkül, in die Bewertung des Lebensglücks einer Fülle von einzelnen Lust- und Unlusterlebnissen einzubeziehen, ist auch insofern schwierig, als die [[Individuierung von Lusterlebnissen]] Individuierung von Lusterlebnissen problematisch ist: Bei einem in jeder Hinsicht gelungenen Rendevous hat man möglicherweise viele einzelne lustvolle Erlebnisse (das Erdbeereis auf der Zunge, einen ersehnten Blick, eine witzige Bemerkung, einen Kuss). Sind das wirklich Einzelerlebnisse oder ist das Rendevous ein komplexes umfassendes Erlebnis? Zudem muss jede Serie von Lusterlebnissen notwendig [[Unvollständigkeit der Menge aller Lusterlebnisse]] unvollständig sein: Sie hat im Leben einer Person vielleicht einen Anfang, aber sie ist zu jedem Zeitpunkt eines Lebens unvollständig. Erst mit dem Tod findet die Serie ihr Ende, gewinnt aber dadurch für die betreffende Person keine abschließende Vollständigkeit, denn mit dem Tod gehen sowohl die Bilanzbasis (Serie von Erlebnissen) als auch der Bilanzgegenstand (das Leben) zugrunde. Die Bilanz konkreter Lusterlebnisse liefert uns also keine Rechtfertigung allgemeiner Regeln unseres Lebens. Die Rede von der Lustbilanz ist also (1) unklar und (2) sinnlos.

Wir bewerten natürlich nicht jede Lust gleich. Man könnte körperlichen Lüsten gegenüber geistigen einen geringeren Wert zuerkennen. (Platon 1970, 580d-583a, Mill 1997, Kap. 3 f.) Das [[Qualitative Inkonsistenz]] eigentliche Glück eines gelingenden Lebens besteht dann in der geistigen Lust (z. B. bei wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistungen). Ein solcher Ansatz entspricht eher unseren kulturellen Auffassungen als ein egalitaristischer [[psychologischer Egalitarismus]] Hedonismus. Der bisher diskutierte Hedonismus ist egalitaristisch, weil sein Wertmaßstab aus dem Moment der Bewertung im Lusterlebnis selbst stammt, und dieser ist in jedem Lusterlebnis eine kriterienlose Tatsache: Wir erleben Lust unmittelbar positiv, und zwar jede gleichermaßen (von französisch égalité = Gleichheit). Der Versuch einer Unterscheidung von höheren und niederen Lüsten muss deshalb einen unabhängigen Bewertungsmaßstab ins Spiel bringen. Aus der Sicht des Hedonismus ist ein solcher Bewertungsmaßstab abstrakt: Unser Wissen von ihm resultiert aus etwas anderem als aus Lusterlebnissen.

Diese Inkonsistenzen führen zur Überwindung des Hedonismus in seiner egalitaristischen Konzeption: Wenn die Frage nach dem Glück im Leben also durch den Verweis auf „Lust“ beantwortet werden soll, dann geht das nicht im Rahmen eines hedonistischen Lustkonzeptes, sondern [< 14] man muss aus epistemischer Sicht über einen anderen – abstrakten – „Lustbegriff“ verfügen können. Benutzt man hier das Wort [[Epistemisch und objektiv: Freude]] „Freude,“ so ist ein Leben dann glücklich, wenn es ein freudiges bzw. erfreuliches ist. (Später wird dieser Lustbegriff als „heteropsychologisch“ bezeichnet. Vgl. bis dahin zunächst die Erläuterung im Glossar.) Diese Position vertritt zwei Thesen:

 Motivationsthese: Personen streben in allen ihren Handlungen nach Freude.

 Begründungsthese: Personen haben in der Freude gute Gründe für Handlungen.

Damit ist nicht viel gesagt: Was ist Freude als psychisches Erlebnis, wenn es nicht (oder nicht notwendig) Lust ist? Um hierauf eine Antwort zu geben, bedarf es einer umfassenden Konzeption der Werterfahrung. Aber Freude erfordert zumindest manchmal eine Überwindung der Lust, beispielsweise, weil die Vernunft es gebietet. Nach dem Schlagwort des Sokrates muss man „stärker sein als man selbst.“ Freude ist dann Glück. (Gosling 1969, Kap. 9.)

In der Philosophie ist eine Position nur selten ‚erledigt,‘ wenn man gute Argumente gegen sie ins Feld geführt hat. Theorien sind nicht in einem einfachen und trivialen Sinne falsch und erscheinen dann zur Gänze obsolet. Der [[Teil-Rehabilitation des Hedonismus 1]] Hedonismus in seiner ersten Variante bleibt zumindest insofern erwägenswert, als eine Moral kritikwürdig erscheint, deren Gebote zur Selbstüberwindung im Übermaß als unlustvoll erlebt werden. Denn es zählt zur Bedeutung des Begriffes Glück, dass er aus hedonistischer Perspektive nicht allzu abstrakt werden darf.

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