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4.1 Die Psychologie des Egoismus
ОглавлениеWer handelt eigentlich egoistisch? Im Folgenden sollen einige begriffliche Unterscheidungen eingeführt werden, die zeigen, wie unklar die meisten Egoismus-Thesen sind – seien sie biologistisch oder ökonomistisch motiviert. Zuvor soll der Egoismus jedoch als „dichtes Konzept“ bezeichnet werden.
In der Ethik klärt man Begriffe teilweise dadurch, dass man sie als [[dichte vs. dünne Konzepte]] „dicht“ oder als „dünn“ bezeichnet. Während „grausam“ ein dichtes Konzept ist, stellt „richtig“ ein dünnes dar. (Williams 1999, S. 197-200.) Wenn jemand sagt, dass eine Handlung grausam ist, dann weiß man schon, dass es sich um irgendeine Art von psychischer oder physischer Gewalt gegen leidensfähige Wesen handelt. Sagt man hingegen, dass eine Handlung richtig oder falsch ist, weiß man nichts Deskriptives über sie, außer, dass es eine moralisch problematische Handlung ist. Man hat also keinen Ansatzpunkt, um gezielt nach der Handlung zu fragen. Anders verhält es sich bei einer unbekannten grausamen Handlung: Hier weiß man, dass sie falsch ist, da sie jemandem oder etwas Leid zufügt. Und so wird ersichtlich, wonach man weiter fragen könnte: Ob etwa das ungerechte Leid psychischer oder körperlicher Natur ist. Man kann auch ex negativo sagen, dass viele Handlungen darüber hinaus keine möglichen Kandidaten für Grausamkeit sind.
Inwiefern ist der Egoismus nun ein dichtes ethisches Konzept? Im Alltag wirft man jemandem Egoismus oft als moralische Kritik vor. Man sagt etwa, dass ein junger Vater mehr an seine eigene Karriere denken solle, als sich nur um die Erziehung des Kindes zu kümmern. Er ist egoistisch, weil er nur an sein Kind und die Familie denkt. Denn er hat für seine Ausbildung in der Schule und der Universität lange Jahre gesellschaftliche Ressourcen in Anspruch genommen. Und jetzt lässt er sich schon wieder auf Kosten der Gesellschaft Erziehungszeiten „vergüten.“ Dieser Vorwurf hängt von einem [[Egoismus = dichtes Konzept]] Netz von Vorstellungen über Menschen und Gesellschaft zusammen und ist insofern dicht. Denn andere werden ihn als altruistisch loben.
Der [[ethischer Egoismus = dünnes Konzept?]] ethische Egoismus (im Gegensatz zum Alltagsverständnis des Egoismus) dünnt das Konzept des Egoismus aus, indem er „gut“ und „richtig“ als „egoistisch“ deutet und dies durch eine psychologische These untermauert. Normalerweise hat man ein vielfältiges Bild vor Augen, wenn man an Egoismus denkt. (Baier 1991.) Dieses Bild fehlt [< 63] dem ethischen Egoismus scheinbar (und insofern wird egoistisch zu einem dünnen Konzept). Wenn sowieso jedes Motiv egoistisch ist, dann verliert der Vorwurf des Egoismus seine moralische Stoßkraft, er wird zu einer Tatsache und zugleich inhaltlich vage. Doch ethische Egoisten wollen uns provozieren. Sie richten sich mit dem Konzept des Egoismus gegen den uns vertrauten dichten Egoismusbegriff. Sie fordern uns auf, uns frei zu machen von vertrauten Egoismusvorurteilen. Insofern ist auch das scheinbar dünne Egoismuskonzept dicht. Man kann es daher entweder als „dünn“ oder als [[dünn bzw. negativ-dicht]] „negativ-dicht“ charakterisieren, je nach Bedarf. Dünn ist es, insofern die Ratschläge vage werden; negativ-dicht ist es, weil die Vagheit der Ratschläge uns frei vom Netz der überkommenen Moral machen soll.
[[Struktur des Kapitels]] Was sind nun egoistische Motive? Die Frage ist nicht: „Wer ist egoistisch?“, sondern: „Was heißt es, losgelöst vom Netz eines Menschen- und Gesellschaftsbildes Motive als egoistisch zu kennzeichnen?“. Es soll zunächst also darum gehen, den psychologischen Egoismus zu skizzieren. Wir bezeichnen viele Verhaltensweisen und somit die ihnen zuzuordnenden Motive als egoistisch. Ihr Gegensatz sind altruistische Motive. Wer ohne an seine eigenen Interessen zu denken handelt, verhält sich altruistisch. Der psychologische Egoist vertritt nun die These, dass es keine Möglichkeit altruistischer Motive gibt. Wer sich für Pestkranke aufopfern möchte, indem er sie pflegt und tröstet, und dabei mit Sicherheit selber sterben wird, handelt nur scheinbar altruistisch. Es handelt sich also um eine revisionistische Theorie.
[[Arten egoistischer Motive ...]] Nun gibt es viele unterschiedliche Interessen und viele Arten unseres Interesses an uns selbst. (Batson/Shawn 1991, Montgomery 1892.) Unser Interesse an uns könnte sich zum Beispiel auf die Selbsterhaltung beziehen. Man will am Leben bleiben und tut viel dafür. Man kann auch nach Selbstachtung streben (Selbstsicherheit, Stolz auf uns selbst), oder nach Anerkennung durch andere (Selbstbestätigung durch Erfolg, Ruhm, Lob). Lust und materielle Sicherheit sind nur zwei unter all den verschiedenen als erstrebenswert erachteten Zielen. Auch Eltern, die sich aufopferungsvoll für ihre Kinder einsetzen (und sich nichts gönnen), verfolgen der Theorie zufolge ihre eigenen Interessen, indem sie diese gut erziehen und die hohen (zeitlichen und materiellen) Investitionen zu Reichtum, Glück und Ansehen der Kinder führen, was schließlich zum ersehnten Lob und der materiellen Absicherung durch die sie liebenden Kinder führt (vgl. die „Mütterrente“).
Man erkennt sofort, dass die genannten egoistischen Motive in [[... widersprüchliche Motive]] Widerspruch zueinander treten können und von einander unabhängige Kategorien darstellen. Denn Schwerstkranke hängen oft (egoistisch) an ihrem Leben, ohne dass dieses Leben (egoistisch) attraktiv wäre, weil [< 64] es ein Leben in Schmerzen ist. Auch das Streben nach Reichtum kann zu einem lustlosen oder gar lustfeindlichen Leben werden. Es gibt also eine Pluralität von Arten egoistischer Motive, die sich wechselseitig ausschließen können. Erfolgreicher Egoismus in der einen Hinsicht (Reichtum) ist möglicherweise erfolgloser Egoismus in der anderen (Lust). Hier verschwimmen schlicht die Grenzen bei der subjektiven Einschätzung. Der (psychologische, ethische) Egoismus verhüllt diese Schwierigkeit, indem er seine These philosophisch „dünn“ artikuliert.
Während man [[Selbstachtung vs. Selbstbestätigung]] Selbstachtung und Selbstsicherheit noch autark erreichen kann, hängt man für soziale Anerkennung und Selbstbestätigung davon ab, dass man andere motivieren kann, einen anzuerkennen. Die egoistische Selbstachtung eines Künstlers, der seinen Stil gefunden hat, steht möglicherweise in Widerspruch zur Anerkennung durch die Kunstszene, die ihm egoistische Selbstbestätigung vermitteln könnte. Soziale Anerkennung kann zu einem egoistischen Gefühl der Selbstbestätigung führen, aber manche erstreben eher Selbstachtung im Sinne eines egoistischen, von sozialen Bezügen losgelösten Strebens. Wenn der Künstler sich mit sich und seiner Kunst auseinandersetzt, strebt er möglicherweise nur nach Selbstachtung. Wenn er aber Anerkennung in der Kunstszene erstrebt, gewinnt er aus ihr nicht Selbstachtung, sondern Selbstbestätigung. Selbstachtung und Selbstbestätigung sind also Klassen von egoistischen Motiven, die voneinander unabhängig sind und sich eventuell widersprechen können. (Im Folgenden wird diese terminologische Klarstellung zur Konstruktion alternativer Szenarien benutzt.)
Zwei Dinge werden an einer solchen Liste von Motiven, Klassen von Motiven und ihren Gegensätzen deutlich: Zum einen gibt der Egoismus die These auf, dass wir die Interessen anderer wohlwollend schätzen. Denn, wenn der Egoist zu dem Ergebnis kommt, dass er bei seinem Handeln die Interessen anderer im Auge haben muss, so tut er das ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens: Der Künstler, der nach Selbstbestätigung strebt, wird für die Öffentlichkeit malen, komponieren, schauspielern etc. Er muss sich an ihren Erwartungen und Reaktionen orientieren, um ein erfolgreicher Egoist zu sein. Insofern ist der Egoismus sehr oft [[allozentrischer Egoismus]] allozentrisch (von griechisch allos = ein anderer) und nicht egozentrisch (vgl. das „soziale Ich“ des Egoisten, Scheler 1973, 155).
Wenn der Egoist aber anfängt, aus seiner bislang deskriptiven Psychologie moralische Schlussfolgerungen zu ziehen und zu fordern, dass man egoistisch sein solle, dann bleibt immer noch ziemlich unklar, wozu er eigentlich auffordert. Was ist seine konkrete Antwort auf die Fragen der praktischen Orientierung? Denn die vielen Arten von egoisti-[< 65]schen Motiven können gegeneinander abgewogen werden. Das Resultat solcher Überlegungen führt dann zu unterschiedlichen Arten von Egoisten. Der psychologische Egoist fordert also, wenn er in seiner Ethik einen Egoismus propagiert, lediglich dazu auf, zu überlegen, welche Art von Selbst man als Egoist eigentlich sein will. Lässt man das Wort „Egoist“ oder „Egoismus“ weg, dann ist dies aber eine Frage, welche alle Ethiken stellen: Welche Art von Mensch wollen wir sein?
Der [[Bin ich Egoist?]] Egoist muss sich darüber klar werden, wer er ist, um als konsistenter Egoist zu handeln. Seine egoistischen Motive können nur zu einem kleinen Teil als ausschließlich um sich selbst kreisend konzipiert werden, wie Motive der Selbsterhaltung, Selbstachtung und Selbstsicherheit. Andere egoistische Motive kreisen allozentrisch um andere Personen und deren Interessen. Angenommen der Egoist wäre allein in der Welt, dann könnte er immer noch nach Selbsterhaltung und Selbstachtung streben. Aber das Streben nach Eigentum und Reichtum wäre sinnlos, wenn er allein wäre. Denn das egoistische Streben nach ihnen kann man nur in einem sozialen Raum verstehen, in dem die Interessen gegeneinander stehen.
[[von allozentrischen zu altruistischen Motiven]] Möglicherweise umfasst diese Einbeziehung anderer sogar aufrichtige und wohlwollende Gefühle für andere. Damit der egoistische Vater sein Kind im Vergleich zu anderen Kindern angemessen behandelt (so, dass es ihm nützt!), wird sein Selbstbild vielleicht so aussehen, dass er sich aufopferungsvoll für seine Familie engagiert. Möglicherweise leidet er als Vater zu Gunsten seines Kindes Hunger und verliert seine Selbstachtung, indem er als Person wie Echo zu einem bloßen „Nachhall“ der Bedürfnisse seines Kindes wird. Diese Aufgabe von Selbstachtung gibt ihm aber im Gegenzug Selbstbestätigung durch die Anerkennung anderer. Dabei wird er sich bei der Untersuchung seiner Motive als Egoist gar nicht egoistisch, sondern vielmehr altruistisch erleben. Er opfert vielleicht seinen Beruf für die sportliche Karriere seines Kindes. Aber auch dieser (radikal egoistische) „Altruismus“ kann zu einem anderen Egoismusvorwurf führen: Denn der Vater hat vielleicht eine kostenlose öffentliche Ausbildung genossen, die der Gesellschaft letztlich keinen Nutzen bringt, wenn er nicht arbeitet, weil er sich um sein Kind kümmert.
Derartige auf sich selbst bezogene [[egoistische Reflexionen]] Abwägungsprozesse des Egoisten zwischen seinen vielen unterschiedlichen Motiven ähneln aber durchaus den Überlegungen des common sense. (Birnbacher 2002, S. 97 f.) Der common sense meint jedoch, dass menschliches Handeln nicht ausschließlich egoistisch zu deuten ist. Im Gegensatz zum psychologischen oder ethischen Egoisten, dominiert hier die Vorstellung, dass Eigeninteressen gegen aufrichtiges Wohlwollen für das Interesse anderer abgewogen werden (können). Der wissenschaftliche Egoist (als Psy-[< 66]chologe und Ethiker) wiederum überlegt lediglich, ob er sich (egoistisch) bei der Verfolgung seiner Interessen eher an sich selbst oder an anderen orientieren soll. Die These des Egoismus selbst löst jedoch kaum Antworten auf die Frage: Wie soll ich handeln? Was ist richtig? Was gut? Der Egoist und der Altruist müssen sich als Vertreter ihrer Positionen dieselben Fragen stellen. Und material werden sie oft zu denselben Antworten gelangen. Sie unterscheiden sich lediglich in der Weise, wie sie ihr Leben konzeptionell thematisieren und artikulieren.