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2.1 Warum moralisch Handeln?

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Eine der sonderbarsten Fragen der Ethik ist die Frage der Überschrift zu diesem Abschnitt. Warum soll ich moralisch Handeln? Im Alltag stellt sich zunächst eine andere [[die primäre Frage: Was soll ich tun?]] Frage: Was soll ich tun? Mögliche Antworten auf diese Frage sind: Man darf nicht lügen, obwohl ein Terrorist an meiner Haustür steht und eine Person bedroht, die bei mir zu Hause ist. Oder: Man darf in der Straßenbahn nicht schwarz fahren. Erst, wenn man über Antworten dieser Art verfügt, ist die [[die sekundäre Frage: Warum soll ich das tun?]] Frage dieses Abschnittes möglich. Sie ist also sekundär. Warum soll ich mich gemäß dem geltenden Lügenverbot verhalten? Warum soll ich das Schwarzfahrverbot faktisch respektieren?

Für Immanuel Kant sind sekundäre Fragen dieser Art unsinnig. Wer Einsicht in seine Pflicht hat, handelt ihr entsprechend. Er kann nur durch äußere Einflüsse daran gehindert werden. Solche äußeren Einflüsse können Hinderungsgründe in der Umgebung des Handelnden ebenso sein, wie seine eigene (der Vernunft gegenüber äußerliche) Begierde. Denn jemand kann die Fahrkarte kurz vor Fahrtantritt stehlen oder wir halten es für besser auf der Fahrt ein Eis zu genießen. Insofern kann auch unsere innere Begierde der innerlichen Einsicht gegenüber äußerlich sein. Im Bereich des moralischen Denkens gilt ihm die sekundäre Frage als sinnlos.

Das liegt daran, dass moralische Einsicht für Kant selbst ein nicht nur vernünftiges (Gründe erkennendes) Einsichtsvermögen ist, sondern auch ein motivierendes (Motivationen lieferndes). Moralisch gutes Handeln ist Handeln aus Pflicht. Und Handeln aus Pflicht ist das, was „passiert,“ wenn man in der richtigen Weise moralische Einsicht hat und keine äußeren Gründe ihr entgegenwirken. (Kant 1785, S. 396.) Mögen diese (gegenüber der Moral) äußeren Gründe selber wieder (im Bezug auf die Handelnde) äußere oder innere sein.

Kant hat eine zweigeteilte Motivationstheorie. Zum einen gibt es die genannte Vernunftmotivation (die Einsicht in die Pflicht motiviert unmittelbar), zum anderen das Begehren (die Wertungen unseres Begehrens motivieren unmittelbar). (Vgl. später Kap. 12.4.) Darin unterscheidet sich Kant von David Hume, der die Vernunft als ein nicht-motivierendes Einsichtsvermögen konzipiert. Zur Einsicht in die Pflicht müssen, nach Hume, Emotionen und Affekte als motivierende Faktoren faktisch hinzukommen. Man hat also einerseits die Einsicht und andererseits ein Gefühl; und nur letzteres macht die Einsicht motivational wirksam. In einer solchen Ethik wird die Frage danach, was man tun soll, zwar als Einsicht in die Pflicht gegeben, aber man kann sich fragen, warum man ihr gemäß [< 29]handeln soll. Denn es muss etwas Äußeres (ein inneres Außen und ein äußeres Außen) passend hinzu kommen (vgl. Kap. 14.1).

Nun kann die sekundäre Frage „Warum moralisch Handeln?“ [[Zwei Varianten der sekundären Frage]] zwei Formen annehmen. Zum einen kann man danach fragen: Warum sollte mich ein Ge- oder Verbot motivieren? Habe ich eine Einsicht, so muss es – nach David Hume – noch einen weiteren Grund geben, diese handlungseffektiv werden zu lassen. (Hume 1978, 3.1.1.) Es geht also um den Zusammenhang zwischen [[(1) Einsicht/Motivation]] Einsicht und Motivation zum Handlungsvollzug. [[(2) interne/externe Gründe]] Zum anderen kann man danach fragen: Warum sollten wir uns im Handeln an den Ge- und Verboten der Moral orientieren. In diesem Fall geht es um die Frage, warum die moralische Einsicht als Antwort auf die primäre Frage eine bessere sein könnte als etwa andere Gründe. (Baier 1978.)

Man könnte sich zusätzlich zu moralischen Gründen gegen das Lügen beispielsweise auch medizinische vorstellen: Wer lügt, hat Angst, entdeckt zu werden. Und diese Angst könnte „krank“ machen. Angenommen eine solche medizinische These wäre begründet: Dann hätte man nicht nur moralische Gründe, die Wahrheit zu sagen (Einsicht in die Pflicht), sondern auch medizinische (Sage die Wahrheit, wenn Du gesund bleiben möchtest). Die medizinischen Gründe wären allerdings nicht mehr so „durchschlagend,“ wenn es eine Tablette gäbe, die die ungesunden Auswirkungen der Lügen-Angst beseitigen würde.

Wenn sie philosophisch als sinnvoll gelten dürfen, fordern uns beide Formen der sekundären Frage auf, Gründe dafür anzugeben, warum wir uns gemäß Antworten auf die primäre Frage „Wie soll ich handeln?“ verhalten sollen. Nun haben diese Gründe etwas gemeinsam, das für das Verständnis der sekundären Frage wichtig ist. Die [[Nicht-moralische Gründe als Motivation]] Gründe, die als Antworten möglich sind, müssen selbst zumindest in dem Sinne nicht-moralische sein, dass sie nicht als Antworten auf die primäre Frage dienen können. (Hare 1992, Kap. 11.) Antworten auf die primäre Frage liefern uns moralische Gründe. Antworten auf die sekundäre Frage liefern uns nicht-moralische Gründe dafür, gemäß moralischen Gründen zu handeln. Im Kontext einer Humeschen Ethik soll die sekundäre Frage kurz erläutert werden.

Zur [[Variante 1: Einsicht und Affekt]] ersten Form der sekundären Frage: Gesetzt eine Person hat eine entsprechende vernünftige Einsicht als Antwort auf die primäre Frage, dann ist für Hume der Grund dafür, dass sie auch entsprechend handelt, nicht die Einsicht selbst, sondern es sind motivierende Affekte und Emotionen. Diese bilden Personen zum Beispiel dadurch aus, dass sie in ihre Kultur hineinwachsen. Ob jemand faktisch die Motivation hat, bestimmten Einsichten zu folgen, ist eine empirische Frage. Warum soll ich mich gemäß dem Lügenverbot verhalten? Übliche Gründe sind: [< 30] Weil ich nur eine Person sein kann, die Anerkennung in meiner Kultur erfährt (gelobt und nicht getadelt wird), wenn ich normgemäß motiviert bin. Nur, wenn ich mich moralisch (gemäß den Normen) verhalte, werde ich in meinem sozialen Leben glücklich. Und Personen wollen glücklich sein. Die Tatsache, dass es in einer Gesellschaft eine Praxis des Lobens und Tadelns gibt, ist der externe Grund dafür, dass ich der Einsicht in die Pflicht gemäß handele.

Wie jemand in einer Kultur glücklich wird, ist eine empirische Frage, da Normen kulturspezifisch variieren. Weil Kant ein solches Normverständnis ablehnte (moralische Normen sind invariante vernünftige Motivationen) und Hume nicht, macht die sekundäre Frage für Hume Sinn. Für Kant ist sie im Prinzip unsinnig – die erste Variante der sekundären Frage stellt sich für ihn nicht, weil er die Begierde als in ihrer Grundtendenz gegen die Vernunft wirkende Motivation erachtet. Zwar kann die Begierde in uns, die Vernunfteinsicht in ihrer motivationalen Kraft behindern, aber sie ist keine Quelle für Gründe, sondern eine äußere Ursache, wie eine Bordsteinkante, über die wir stolpern.

Zur [[Variante 2: Einsicht und andere Gründe]] zweiten Form der sekundären Frage: Gibt es einen rechtfertigenden Grund, der Personen zusätzlich motivational dazu bringt, sich gemäß der Moral zu verhalten? Die Frage kann man konkreter Stellen: Warum ist schwarz Fahren verboten? Ein Grund für schwarz Fahren wäre, dass das Unternehmen ineffektiv organisiert ist und man deshalb den Preis nicht einsieht oder dass man für das Geld ein Eis essen könnte. Man ist aber an die Norm gebunden, beim Besteigen der Straßenbahn ein Ticket zu lösen, weil der ÖPNV für uns gut und nützlich ist und man beim Benutzen der Bahnen und Busse einen Vertrag eingeht. Ohne ÖPNV ist unsere Gesellschaft schlechter und der Schwarzfahrer zerstört den ÖPNV und er verstößt gegen eine Vertragsverpflichtung. Beides sind natürlich empirische Thesen, die aber im Sinne der sekundären Frage als Gründe dafür angeführt werden, warum wir dem Schwarzfahrverbot gehorchen sollen. Man kann diese Argumentation erweitern: Wir sollen moralisch sein, weil die Moral (und nur die Moral) unsere Lebensform stabil und glücklich macht. Auch das ist eine empirische These.

[[Externalismus und Internalismus]] Man sieht also, dass die sekundäre Frage „Warum soll ich mich moralisch verhalten?“ eine Antwort im Sinne nicht-moralischer Gründe für moralische Gründe fordert. Gemäß der ersten Form der sekundären Frage muss man Gründe finden, die den Bruch zwischen moralischer Einsicht und moralischer Motivation überbrücken – gesetzt dem Fall, dass der moralischen Einsicht keine Handlung „folgt.“ Gemäß der zweiten Form muss man Gründe finden, die den Bruch zwischen moralischen Gründen für oder gegen Handlungen einerseits und anderen nicht-moralischen Gründen andererseits überbrücken. Externe Gründe sind [< 31] zumeist empirische Gründe und sie werden philosophisch zumeist als nicht-normativ gedeutet. Wenn solche externen Gründe in einer Ethik zu den internen Gründen für Antworten auf die erste Frage („Was soll ich tuen?“) hinzukommen müssen, dann kann man eine solche Ethik als externalistisch bezeichnen. Eine Ethik, die nur interne moralische Gründe kennt, kann demgegenüber als internalistisch gelten. Die erfolgreiche Begründung der Moral hängt somit entweder nur von ihren eigenen Begründungsressourcen ab (Internalismus) oder auch von anderen nicht-moralischen Begründungsressourcen (Externalismus). (Gauthier 1991, Gert 1998, Kap. 13.)

Als Internalist würde Kant die sekundäre Frage für die Begründung als sinnlos ansehen: Wer moralische Einsicht hat, ist immer auch moralisch motiviert und außerhalb der Moral gibt es keine für moralisch angemessenes Verhalten relevanten Gründe. Die Aussagen der Moral sind notwendig und hinreichend für moralisches Handeln. Es gibt nichts zu „überbrücken.“ In diesem Sinne vertritt er einen Internalismus. Hume teilt diese Auffassung nicht. (Bradley 1876, Kap. 2.)

Der Abschnitt hat eine Frage zur Überschrift. Aber er gibt keine Antwort. An diesem Punkt ist nur die Bedeutung der Frage präziser geklärt. Internalisten und Externalisten in der philosophischen Ethik unterscheiden sich selten in ihren Antworten auf die erste Frage: „Wie soll ich handeln?“ Moralisch teilen sie beispielsweise zumeist die These, dass Lügen schlecht ist. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Deutung der Aufgabe einer philosophischen Begründung dieser Pflicht. Eine solche [[Moral vs. Ethik]] Theorie der Begründung ist die Ethik.

Eine Antwort auf die Frage dieses Abschnittes ist hier und in diesem Buch deshalb nicht möglich, weil sie die Entscheidung für eine Ethik voraussetzt. In diesem Kapitel kann sie also nicht gegeben werden, weil es hier noch nicht um eine Theorie der ethischen Begründung der Moral geht, sondern nur um die Reichweite der Ethik. In diesem Buch kann sie aber auch nicht gegeben werden, weil sich eine Einführung in die philosophische Ethik nicht auf einen bestimmten Ansatz der philosophischen Ethik festlegen darf, sofern das überhaupt das Ziel des Studiums der Ethik ist. So ist das begrenzte Ergebnis dieses Abschnittes: Internalisten und Externalisten in der philosophischen Ethik unterscheiden sich in ihrer Haltung zur sekundären Frage und somit in ihren Antworten auf die Reichweite der Ethik, insofern sie sich fragen, ob die Ethik als Begründung von Normen (und Werten) und Moral als Merkmal unserer Lebensform eine relevante externe Dimension von Gründen haben oder nicht.[< 32]

Einführung in die Philosophische Ethik

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