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4 Egoismus
ОглавлениеAbbildung 4: Michelangelo Amerighi da Caravaggio (genannt Caravaggio), Narcissus (ca. 1597-99)[< 59]
Narkissos ist ein schöner junger Mann, den Düsternis umgibt. Er ist ganz gefangen von Selbstreflexion. Seine Aufmerksamkeit gilt nur sich selbst. Nichts vermag mehr in seinen Kreis einzudringen, am aller wenigsten der Liebreiz der schmachtenden Schönheit Echo. Sie werden kein Paar. Schlimmer noch: Echo verzehrt sich vor Liebe selbst. Die Götter hatten der Nymphe schon die Sprache genommen, sie ließen sie nur noch letzte Worte wiederholen. Die Arme! Doch nun versagt ihr Narkissos die Erwiderung ihrer Liebe. Der Grausame! Er verschmäht sie. Sie schämt sich, zieht sich in eine Grotte zurück, wo ihr Schmerz ihre Liebe noch stetig vergrößert. Die Arme! Von ihr bleibt nur noch das Echo übrig. Sie wünscht ihm, dass er sich so verliebe wie sie: Nie das Geliebte besitzend! Das Ergebnis sieht man. Reglos muss Narkissos sich selbst anschauen. Recht so! Wenn er sich küsst, verliert er sich. Sterbend ruft er endlich dem Geliebten entgegen: „Leb’ wohl!“, kraftlos scheint er zu antworten. Man hört ihn kaum. — Auch Echo seufzt: „Leb’ wohl!“ Endlich sind die drei als Liebende in der wiederholenden Erwiderung vereint.
Was geht eigentlich in Narkissos vor? Oder umhüllt ihn nur Dunkel? Was heißt es, „selbstverliebt“ zu sein? Ist Narkissos als (sich selbst) Liebender egoistisch? Sein Gefühl jedenfalls benebelt sein Erkennen: Der Geliebte scheint ihm völlig fremd zu sein. Narkissos Motive lähmen ihn, zerstören ihn. Er scheint wirklich verliebt! Rational ist das ziemlich unverständlich. Und was bildet sich diese Echo eigentlich ein? Ist etwa die Unwilligkeit ihre Liebe zu erwidern der Egoismus des Narkissos? Er liebt einen anderen. Ja, meint sie etwa ein Recht zu haben, für ihre Liebe Erwiderung zu finden? Wie egoistisch! Oder ist sie als ihn Liebende bloß selbstverliebt? Je mehr man darüber nachdenkt ... Alles Liebe, nichts Walzer.
|4.1 Die Psychologie des Egoismus
|4.2 Was ist falsch am psychologischen Egoismus?
|4.3 Warum eigentlich nicht egoistisch sein? [< 60]
In der neuzeitlichen Ethik ist eine normative Anthropologie in Misskredit geraten: „Frauen gehören ins Private!“, „Homosexuelle leben wider die Natur!“. Kontingente Menschenbilder, die den Anspruch erheben aus Weltanschauungen Normen abzuleiten, werden heutzutage eher als Privatsache angesehen. Der Ethik fällt dementsprechend nicht die Aufgabe zu, derartige Idiosynkrasien zu rechtfertigen. (Thies 2004, Tugendhat 2007.) Unterschwellig erhalten sich aber Menschenbilder auch in der heutigen Ethik. Der ethische Egoismus ist ein solches Beispiel. Der Philosoph John Stuart Mill hat mit dem Begriff [[Menschenbild und Ökonomie ...]] homo oeconomicus für die Nationalökonomie ein Konzept aufgegriffen, das auf den Italiener Vilfredo Pareto zurückgeht: Das Handeln jedes Menschen lässt sich vollständig verstehen (und somit erklären) als ein Streben nach dem eigenen Nutzen. Vernunft wird identifiziert mit ökonomischer Rationalität und moralische Gründe werden so auch über das Marktgeschehen hinaus rationalisiert, ganz im Sinne eines rein strategischen Denkens. (Tietzel 1981.)
Auch in der modernen [[... und Biologie]] Biologie findet eine solche These des egoistischen Verhaltens durch das Konzept des survival of the fittest Eingang. Gemäß der Evolutionstheorie überleben nur diejenigen Arten, deren Individuen am besten an die jeweilige Umwelt angepasst sind. Der Evolutionstheoretiker Richard Dawkins hat die These dann sogar radikalisiert: Nicht Individuen sind Egoisten, sondern jedes einzelne Gen. Gene benutzen den Organismus als Überlebensmaschine für ihre eigene Vermehrung. Diese Idee wird dann verallgemeinert, insofern auch die Entwicklung von Kultur- und Geistesphänomenen auf diese Weise erklärt wird: Erfolgreiche Ideen, Gedanken, Melodien, Moden usw. setzen sich als „Meme“ in einer Kultur durch. Beim Übergang von der Stein- zur Bronzezeit etwa setzten sich mit neuen Ideen andere Technologien und Vorstellungen sozialer Strukturen durch. Eine neue Kultur setzte sich in den Köpfen und in der Welt fest. Der reale „Mem-Pool“ einer Kultur ist ein ideeller „Gen-Pool.“ Die Diskussion in diesem Kapitel stützt sich allerdings auf folgende [[Drei Prämissen]] Prämissen:
1. Ist ein Gen egoistisch? (Dawkins 1976.) Unabhängig davon, was man von den Thesen Richard Dawkins im Rahmen der Biologie hält, soll der Begriff „Egoismus“ hier nicht-metaphorisch benutzt werden. Egoistisch sind nur handelnde Personen. Und was auch immer Gene sind, es handelt sich bei ihnen nicht um Personen bzw. Subjekte.
2. Ist der Egoismus als Begründung in der Ethik subjektivistisch? Vorerst soll unter Egoismus die Durchsetzung der eigenen Interessen verstanden werden (gegen die Interessen anderer). Welches [< 61] unsere eigenen Interessen sind, mag manchmal subjektiv sein. An unserer Gesundheit sind wir subjektiv interessiert, es gibt aber objektive Kriterien für Gesundheit. Medizinische Expertise klärt uns über unsere subjektiven (unsere Gesundheit) und objektiven (medizinische Empfehlungen) Interessen auf. Der Egoismus kann also auch objektiv sein.
3. Ist der Egoismus als psychologische These ein Hedonismus? Es ist aus hedonistischer Perspektive unplausibel, dass Lust egoistisch ist, weil die Lust des einen nicht gegen die anderer steht. (Lusterlebnisse sind in sich ruhende und nur auf sich selbst verweisende evaluative Erlebnisse.) Wenn man dagegen unter dem egoistischen Interesse „Freude“ im Sinne eines „abstrakten Lustbegriffes“ versteht, kann man Freude auch als Interesse bezeichnen. Ein solches Interesse kann man abstrakt hedonistisch deuten. Man freut sich, wenn die eigenen Interessen realisiert werden. Der Egoismus ist aber höchstens eine enge Variante des abstrakten Hedonismus. Denn die Freude des einen muss, wie seine Lust, nicht notwendig oder auch nur primär gegen Lust und Freude anderer stehen. Die Egoismusthese ist also komplex: Meine Interessen sind meine individuellen (Individualismus) und sie stehen gegen die Interessen anderer Individuen (Konkurrenz). Aber der Egoismus ist nicht notwendig ein Hedonismus.
Das atomistische Interesse eines Selbst am eigenen Nutzen in Konkurrenz zu dem anderer wird oft als egoistisch bezeichnet. Das Menschenbild des Thomas Hobbes postulierte Interessen dieser Art als einzige Motivationsquelle. (Gert 1996.) Hier hat das Menschenbild des Handelnden in marktwirtschaftlichen Beziehungen seinen philosophischen Ursprung. Dass Menschen ausschließlich ökonomisch denkende Wesen sind, ist falsch, wenn man unter ökonomischer Rationalität die Exklusivität des eigenen Nutzens als Geltungsprinzip versteht. Im Jahre 2002 erhielten ein Psychologe (Daniel Kahnemann) und ein Wirtschaftswissenschaftler (Vernon Lomax Smith) den Wirtschaftsnobelpreis dafür, dass sie die Fiktion und das Ideal des homo oeconomicus erschüttert haben. Dennoch stellt der Egoismus eine wichtige Theorie in der neuzeitlichen Moral und Ethik dar.
Die [[psychologischer vs. ethischer Egoismus]] These des homo oeconomicus ist zunächst eine psychologische (es gibt nur egoistische Motive), aber viele Philosophen leiten aus dieser deskriptiven These die normative Aufforderung ab, dass man egoistisch handeln solle. Dies ist ein ethischer Egoismus, weil man die Aufgabe ethischer Begründung als Auffinden egoistischer Motive deutet. Im folgenden Abschnitt soll die psychologische, im darauf folgenden die [< 62] ethische Seite des Egoismus untersucht werden. Zum Abschluss sollen aus den vorangegangenen Überlegungen systematische Schlussfolgerungen für die philosophische Ethik gewonnen werden.