Читать книгу Einführung in die Philosophische Ethik - Andreas Vieth - Страница 18
4.2 Was ist falsch am psychologischen Egoismus?
ОглавлениеIst der psychologische Egoismus eine angemessene Position? Die Antwort in diesem Abschnitt ist agnostisch. Weder kann man den psychologischen Egoismus belegen noch kann man ihn widerlegen. Der Grund ist: [[man ist sich selbst nicht transparent]] Menschliche Personen sind sich selbst nicht vollständig klar darüber, wie sie ihre erlebten Motive angemessen artikulieren sollen: Bin ich als aufopferungsvoller Vater egoistisch? Eine abschließende Antwort auf diese Frage würde voraussetzen, dass eine Person sich in ihrem Handeln selbst vollständig durchsichtig ist. Man denke jedoch an Eifersüchtige, die sich ihrer Motive gerade nicht klar sind. Man kann immer wieder selbst erleben, dass man von anderen über seine eigenen Motive besser informiert wird, als man selbst Auskunft geben könnte.
In diesem [[Zu diesem Abschnitt]] Abschnitt sollen zwei Überlegungen verfolgt werden: Zum einen soll, ohne die Frage zu entscheiden, gezeigt werden, dass der psychologische Egoismus eine unwahrscheinliche Position ist. Zum anderen soll gezeigt werden, dass ein ethischer Egoismus nicht aus einem psychologischen Egoismus abgeleitet werden kann. Wenn der psychologische Egoismus unbeweisbar oder unwahrscheinlich ist, dann hat man damit sogar ein starkes Argument gegen den ethischen Egoismus.
[[Drei traditionelle Argumente gegen den psychologischen Egoismus]]Folgende Überlegungen machen nicht-egoistische bzw. altruistische Motive psychologisch plausibel: (1) Zunächst könnte der Egoist jedes Vorkommnis von scheinbarem Altruismus als Heuchelei abtun. Doch mit welchem Recht unterstellt der Egoist seinem sich altruistisch deutenden Mitmenschen Heuchelei? Es stellt sich sogar die Frage, ob sich geheucheltes Wohlwollen lange durchhalten ließe. Echtes Wohlwollen ist vermutlich nützlicher, weil es verlässlicher ist. Man sollte anderen nicht grundsätzlich Heuchelei unterstellen. (2) Außerdem loben wir Eigenschaften von Personen und Handlungen, von denen wir keinerlei Nutzen haben und von deren Handlungen wir niemals betroffen sind. Möglicherweise ereifern wir uns beim Lesen des Gallischen Krieges von Caesar über diesen gewissenlosen Machtstrategen, der ganze Völkerscharen auslöscht. Wie will der Egoist solche Reaktionen erklären? Cae-[< 67]sar nützt oder schadet uns in keiner Weise mehr. (3) Weiterhin lässt sich wohl bei Menschen und Tieren die Liebe der Eltern zu ihren Kindern nicht wirklich egoistisch erklären. [[nahe liegende Erklärungen sind bessere]] Schon David Hume vertrat die Ansicht, dass ein Verstehen unserer Neigungen und Antriebe bei den naheliegenden Erklärungen ansetzen sollte. Der Egoist müsste uns daher nicht nur eine egoistische Erklärung von Elternliebe anbieten, er müsste uns auch noch einen Grund nennen, warum wir diese Erklärung gegenüber der naheliegenden altruistischen bevorzugen sollten. – Diese Überlegungen widerlegen den psychologischen Egoismus nicht, sie machen ihn aber [[psychologischer Egoismus: unplausibel]] unplausibel. Es ist wenig wahrscheinlich, dass wir notorische Motivegoisten sind. Es wird auch deutlich, dass der Vertreter eines psychologischen Egoismus kaum eine Möglichkeit haben dürfte, seine These empirisch zu bestätigen. (Hume 2002, Anhang 2.) Denn eine solche Bestätigung würde voraussetzen, dass eine Person sich in ihren Einsichten und Motivationen vollständig transparent sein könnte.
Niemand wird bestreiten, dass wir manchmal egoistische Motive haben. Jeder selbst weiß, dass er bisweilen soziale Beziehungen bis hin zu Freundschaften für sich ausnutzt. Und das wird oft moralisch unschuldig, wenn nicht sogar gut sein. Aber, warum sollte aus dieser psychologischen Möglichkeit folgen, dass der Egoismus eine adäquate Ethik ist? [[ethischer Egoismus: unplausibel]] Warum sollten egoistische Motive immer richtig sein, wenn altruistische Motive zumindest möglich sind? Wenn man nicht anders als egoistisch Handeln kann, dann soll man auch so handeln. Diese ethische Forderung ist jedoch leer, da es dem psychologischen Egoismus zufolge ohnehin keine anderen Handlungsmotive gibt, sodass sich das „Sollen“ auf das einzig mögliche Handlungsprinzip beziehen muss. Aber der psychologische Egoismus ist nicht sehr wahrscheinlich, weil er ebenso unbeweisbar ist wie sein Gegenteil. Und diese Unwahrscheinlichkeit macht den ethischen Egoismus unplausibel.
Denn die Eigenschaft von Personen und Handlungen, egoistisch zu sein, stellt ein dichtes Konzept dar. (Der Egoismus ist eben doch kein dünnes oder bloß negativ-dichtes Konzept.) Einerseits haben wir eine Vorstellung davon, was egoistische Väter tun (bzw. nicht tun). Sie vernachlässigen ihre Kinder. Jeder von uns hat Vorstellungen davon, wie man Kinder vernachlässigt. Uns schweben gewisse deskriptive Verhaltensmerkmale vor Augen, wenn wir Väter und Mütter als egoistisch kennzeichnen. Dies hat „egoistisch“ mit „grausam“ oder „höflich“ gemeinsam. Während grausame Handlungen immer moralisch bedenklich sind, kann die Wertung von egoistischen Handlungen schwanken. Manchmal empfehlen wir altruistisch handelnden Personen, dass sie mehr an sich denken sollen: „Sei doch ein bisschen mehr egoistisch!“ Manchmal tadeln wir egoistische Verhaltensweisen auch. Egoistisch zu sein ist also [< 68] eine deskriptiv reichhaltige und zugleich wertende Eigenschaft, aber die Wertung ist mal positiv und mal negativ. [[Drei egoistische Szenarien]] Dies soll im Folgenden an drei Szenarien illustriert und anschließend philosophisch gedeutet werden.
Auch Mütter und Väter können die eine oder die andere Klasse egoistischer Motive als für ihr Selbstverständnis zentral erachten und sich dementsprechend im sozialen Raum der Familie verhalten. – Man stelle sich drei künstlerisch gut ausgebildete Elternpaare vor. [[Eltern A und B]]Angenommen Eltern A erachten Selbstachtung (beispielsweise als Resultat freischaffender künstlerischer Selbstverwirklichung) als sekundär und streben nach Selbstbestätigung (beispielsweise durch ihren Einsatz für ihre Kinder). Das Streben der Eltern A nach Selbstbestätigung könnte so aussehen, dass sich die (künstlerisch gut ausgebildete) Mutter erfolgreich um die kreative Erziehung der Kinder kümmert und der Mann die Familie materiell absichert (als angestellter Designer für Kochgeschirr oder als Kunstlehrer). Beide Elternteile ziehen hieraus Selbstbestätigung. Eltern A werden Eltern B als egoistisch bezeichnen, die für sich jeweils primär nach Selbstachtung streben (künstlerische Selbstverwirklichung). Selbstbestätigung durch eine optimale materielle Absicherung der Erziehung ihrer Kinder gilt ihnen als sekundär. In den Augen von Eltern A sind Eltern B egoistisch, weil das Streben nach Selbstachtung die Individuen definitionsgemäß im sozialen Raum isoliert (auch dem der Familie). Ihr eigenes A-Streben nach Selbstbestätigung durch ihre Kinder und die soziale Umwelt werden sie dagegen als nicht-egoistisch, vielleicht sogar als altruistisch erachten.
[[Eltern C]] Angenommen nun, Eltern C teilen mit den Eltern A die Ablehnung des Selbstachtungsstrebens von Eltern B, dann werden sie trotzdem unter bestimmten Umständen Eltern A (aber in anderer Hinsicht) als egoistisch kritisieren. Eltern C ziehen beide Selbstbestätigung sowohl aus der gemeinsamen Beteiligung an der Kindeserziehung als auch an der gemeinsamen ökonomischen Absicherung der Familie. Sie haben folglich das gleiche Ziel wie Eltern A (primär Selbstbestätigung), realisieren es jedoch anders. Der Begriff der Selbstbestätigung wird von Eltern A und C verschieden interpretiert. Eltern C wollen beide künstlerisch arbeiten (beispielsweise als Kinderbuchillustratoren in einem Verlag) und daher müssen die C-Kinder zeitweise in Kindergärten erzogen werden. Die C-Eltern werden Einseitigkeit der A-Mutter als egoistisch bezeichnen, weil die A-Kinder durch sie möglicherweise besser gefördert werden als die C-Kinder im öffentlichen Kindergarten. Auch die Selbstbestätigung der A-Mutter und des A-Vaters wird ihnen als übertriebener Stolz erscheinen, weil sie sich jeweils aus einer Einseitigkeit des Lebensvollzugs speist.[< 69]
[[Änderung im Leben der A-Eltern]]Angenommen nun, die Eltern A werden irgendwann für sich und andere erkennbar unglücklich mit ihrer Lebenssituation, so mögen die Eltern B ihnen den Ratschlag geben: „Seid doch egoistischer! Wenn ihr nicht so mutig seid wie wir, macht es wie Eltern-C!“. Eltern C würden dagegen aufgrund derselben Einschätzung der Situation für weniger Egoismus plädieren. Denn die asymmetrisch realisierte Selbstbestätigung der Eltern A optimiert die Kindesbetreuung und entzieht der Gesellschaft den Nutzen, den sie sich von der Ausbildung der A-Mutter versprechen dürfte. Wenn diese Ratschläge angemessen und erfolgreich sind, kehren sich für die Eltern A in dem Maße, wie sie durch neue Projekte jeweils für sich andere Formen der Selbstbestätigung oder der Selbstachtung gewinnen, die Einschätzung des Egoismus und seine Beschreibungsmerkmale um. [[egoistisch = negativ dicht]] Denn „egoistisch“ ist ein dichtes Konzept; es ist im Rahmen des Egoismus nur scheinbar dünn, weil es immer zumindest negativ-dicht ist.
[[Jonglieren mit Etiketten]] In der Ablehnung altruistischer Motive ist der Egoismus „dünn.“ Alle Motive sind etwas ganz anderes: „Verfolge Deine Interessen!“ Es bleibt unklar (= dünn), was seine Interessen sind. Aber der Egoist muss, um zu handeln, eine reichhaltige positive (= dichte) Vorstellung haben von dem, was sein Leben auszeichnet. Und diese Vorstellung schließt dann notwendig auch sein Verhältnis zu anderen ein und in dieser Hinsicht kann er schon aus egoistischen Gründen nicht egozentrisch sein. Er muss in manchen Hinsichten sein Leben auch allozentrisch betrachten. Und sein allozentrisches Verhalten ist möglicherweise wenigstens manchmal authentisch allozentrisch und nicht bloß strategisch allozentrisch. Oberflächlich vertritt der Egoist eine inhaltsleere Egoismusthese. Im Handeln wird er aber als erfolgreicher Egoist ununterscheidbar vom Altruisten (so wie letzterer natürlich auch umgekehrt). Der Grund ist, dass beide Positionen nur scheinbar gegeneinander gerichtete „dünne“ Konzepte darstellen. In Wirklichkeit umfassen die Pläne von Personen egozentrische und allozentrische Momente und stellen in dieser Hinsicht eine „dichte“ Mixtur aus egoistischen und altruistischen Motiven dar, die mal strategisch und mal authentisch sind.
Die [[drei egoistische Konstellationen ...]] drei Elternpaare (A, B, C) und die drei Familien unterscheiden sich in ihren Motivlagen. Die Beschreibung von Handlungen und Personen als egoistischen verändert sich im A-, B- und C-Raum; dieser Änderung korrespondieren divergierende moralische Bewertungen ebenso wie eine divergierende Artikulationsrhetorik.
Daraus kann man [[... und ihre komplexe Erklärung]] zwei Schlussfolgerungen ziehen: Welche unserer Motive egoistisch sind, hängt nicht von psychischen Tatsachen ab, sondern von unterschiedlichen Vorstellungen über ein gelingendes Leben in einem sozialen Raum. Wie wir egoistische Motive werten, hängt [< 70] nicht davon ab, ob wir ethische Egoisten sind, sondern ob und wo das Individuum im Gegensatz zu anderen Individuen in unserem Leben einen herausragenden (Selbstbestätigung) oder absoluten (Selbstachtung) Wert hat. (Birnbacher 2007, Kap. 7, bes. S. 322 f.)
Ob und wie man egoistisch sein soll oder nicht sein darf, hängt von pluralistischen Vorstellungen über ein gelingendes Leben ab. Denn Selbstachtung und Selbstbestätigung kennen jeweils ein anderes Mehr oder Weniger. Das Zu-Viel ist egoistisch, das Zu-Wenig altruistisch im Sinne moralischer Kritik. Irgendwo in der Mitte sind Motive entweder egoistisch oder altruistisch, aber sie sind moralisch als neutral oder sogar gut zu bewerten. Keine empirische Psychologie kann hier noch sinnvoll Auskünfte geben. Nur eine Ethik vermag die Dinge zu klären. Und in der Ethik ist es sinnvoll, egoistische Motive im Gegensatz zu altruistischen zu sehen, um der moralischen Praxis interpretativ und kritisch gerecht zu werden. Wer die Moral kritisieren will, sollte sicherlich bisweilen auch provozieren, aber er sollte sie direkt kritisieren — und nicht über äußerliche Etiketten.